# taz.de -- Plädoyer für Sexneutralität: Das coole Girl hat Sex | |
> Zwischen Slutshaming und Prüderie: Wann ist der Sex wirklich frei? Könnte | |
> so etwas wie Sexneutralität die Lösung sein? | |
Bild: Für sexuelle Selbstbestimmung: Foto vom Slut Walk, Berlin 2011 | |
Es gibt fast nichts, was mir nicht schon von Männern an den Kopf geworfen | |
wurde, weil ich sie abgewiesen habe. „Schlampe“, „Hure“, „fette Lesbe… | |
nichts davon verletzte mich. | |
Aber eine Aussage ist mir im Gedächtnis geblieben. Nach einem Date bin ich | |
mit zu Malte (Name geändert) nach Hause gegangen. Es war spät, die letzte | |
Bahn war weg, also war ich gestrandet. Irgendwann legten wir uns ins Bett | |
und ich wollte schlafen. Stattdessen begann ein Spiel, das ich leider zu | |
gut kannte. Immer wieder kuschelte er sich von hinten an mich ran, | |
streichelte mich, berührte meine Brüste. Immer wieder rückte ich von ihm | |
weg, legte seine Hände von mir und stellte mich schlafend. Dann wurde es | |
mir zu doll und ich sagte deutlich, dass er es lassen sollte. Malte war | |
verdutzt und sagte: „Ich wusste gar nicht, dass du so prüde bist“, und | |
dieser Satz traf. So sehr, dass ich heute, etwa zehn Jahre später, immer | |
noch darüber nachdenke. | |
Wenn ich von dieser Geschichte erzähle, fühle ich mich nämlich immer, als | |
müsste ich mich rechtfertigen. Nicht so sehr, dass ich Nein gesagt habe. | |
Ich habe das Gefühl, erst einmal betonen zu müssen, dass ich wirklich gar | |
nicht prüde bin. Als wäre das das Schlimmste, was ich als linke Feministin | |
sein könnte. | |
## Erst unsexy, dann sexy | |
Als ich in den nuller Jahren in der westdeutschen Provinz aufwuchs, hatte | |
ich durchaus feministische Ansichten, doch ich wollte mich auf keinen Fall | |
als Feministin bezeichnen. Das war ein negativ besetztes Wort, es war | |
gleichbedeutend mit „unrasierter und ungebumster Männerhasserin“. Während | |
ich aber in meiner Kleinstadt vor mich hin pubertierte, machten sowohl ich | |
also auch der Feminismus im Mainstream einen Imagewandel durch. Er wurde | |
sexy. | |
Was ich dann aus Frauenzeitschriften und Diskursen mitbekam, war: Es ist | |
zwar okay, Sex zu haben, aber als sexuelle Frau wahrgenommen zu werden, ist | |
rebellisch. Ich erinnere mich, wie ich Reruns von „Sex and the City“ | |
schaute und mitbekam, wie das, was dort gezeigt wurde, als bahnbrechend | |
gefeiert wurde. Ich erinnere mich an eine Sendung auf ProSieben mit Lady | |
Bitch Ray, in der sie im Korsett durch eine Mall läuft, und ein Kamerateam | |
migrantische Jugendliche einfängt und fragt, was sie davon halten. Spoiler | |
Alert: Nichts. Ich erinnerte mich an mein Umfeld, wo es die berühmten | |
„Dorfmatratzen“ und die ersten Revenge Pornos gab. Wo „Schlampe“ eine | |
heftige Beleidigung war, die die Reputation zerstören konnte. | |
Als ich mit 19 mein heimatliches Nest verließ, wurden mir zwei Sachen klar: | |
Ich war Feministin. Und Sex zu haben, mich auszuleben und mich wie eine | |
„Schlampe“ zu benehmen, ist feministisch. Ich befand mich also auf den | |
Pfaden des Sexpositivismus und fühlte mich zunächst ziemlich erwachsen und | |
cool dabei. Ich ging mit einer betont abgeklärten Attitüde an die Sache | |
heran. Been there, done that. Die Grenzen meiner Freundinnen belächelte ich | |
eher. In meiner Vorstellung entwickelte ich mich zu einer Mischung von | |
Samantha Jones von „Sex and the City“ und Simone de Beauvoir. Doch es | |
fühlte sich oftmals nicht richtig an. Meine angeblich lässige Haltung | |
gegenüber Sex war eigentlich extrem gestresst. Es war nicht befriedigend, | |
sondern eine Performance. Der Titel: „Guck mal, wie die migrantische | |
Feministin krassen Sex hat. Ist sie nicht rebellisch?“ Ich hatte das | |
Gefühl, ich musste mich beweisen. | |
## Positivitätskultur | |
Im Buch „Süß“ von [1][Ann-Kristin Tlusty] wird dieses Phänomen beschrieb… | |
Im Kapitel über die „süße Frau“ steht: „Doch Positivitätskultur ersch… | |
Druck: Genau wie kommerzialisierte Bodypositivität Frauen abverlangt, ihren | |
Körper nun gefälligst lieben zu sollen, fordert Sexpositivität sie geradezu | |
kategorisch dazu auf, sich in sexuelle Abenteuer zu stürzen.“ Und an | |
anderer Stelle: „Von einer Möglichkeit ist Sexpositivität bei Frauen nahezu | |
zu einer Pflicht geworden.“ | |
Erschwerend kam bei mir hinzu, dass ich unbedingt ein „Cool Girl“ sein | |
wollte. Im Roman „Gone Girl“ gibt es hierzu [2][die beste Beschreibung]: | |
„Wenn ich die Coole bin, dann bin ich eine begehrenswerte, geistreiche, | |
witzige Frau, die Videospiele spielt, billiges Bier trinkt, flotte Dreier | |
und Analsex mag …“ Es ist kein Zufall, dass neben den Hobbys zwei Arten von | |
Sex aufgezählt werden, die Männer gerne einmal von ihren Partnerinnen | |
erbeten. Die „Coole“ ist dabei eben nicht so wie die anderen Weiber, die | |
sich zieren. Sie beschwert sich nicht, sie macht alles mit, sie ist wie | |
eine von den Jungs, außer dass Mann mit ihr schlafen will. Und für diese | |
Eindimensionalität wird sie geliebt. | |
In der Hinsicht hatte ich mich selbst verarscht. Die Feministin, die ich | |
eigentlich sein wollte, ist zu einer Frau geworden, die ihre zur Schau | |
gestellte angebliche Laissez-faire-Einstellung zu Sex nutzt, um sich von | |
anderen Frauen abzuheben und um Männern zu gefallen. Ich nutzte meine | |
Sexualität, um mir selbst eine coole, aufgeklärte, feministische und | |
rebellische Aura zu geben, um mich dann von Männern führen zu lassen, ohne | |
Rücksicht auf Verluste. | |
Ich musste mir erst von einem unterdurchschnittlichen Alman vorwerfen | |
lassen, prüde zu sein, weil ich eine Grenze gezogen habe, um langsam | |
umzudenken. Um zu erkennen, dass ich viel zu lange Sex für Männer gehabt | |
habe und nicht für mich. | |
## Doch was jetzt? | |
Ich wünschte, ich könnte jetzt einfach sagen, ich hätte einen Weg aus | |
diesem Druck und diesem toxischen Gefilde gefunden, das die weibliche | |
Sexualität umgibt. Denn eine wirkliche Alternative wird mir derzeit nicht | |
vorgelebt. Ich versuche daher, einen autonomen Weg zur Sexualität zu | |
finden, jenseits der Binärität von vanilla und kinky. Fernab von Narrativen | |
und Rollenvorstellungen will ich herausfinden, was übrig bleibt von meiner | |
Sexualität, meinen Wünschen und meinen Grenzen. | |
Das endgültige Ziel wird von unserem Lord and Savior formuliert – Nico | |
Seyfried von KIZ: „Haben Sex, wie wir wolln. Und nicht wie die Kirche oder | |
Pornos es uns erzählen.“ Am liebsten wäre mir, wenn sich eine Art | |
„Sexneutralität“ etablieren würde, wobei Sex auf das reduziert wird, was … | |
ist: Geschlechtsverkehr. Inwieweit das auf individueller Ebene machbar ist, | |
steht auf einem anderen Blatt. Aber ich werde meine eigene Sexualität | |
wiederfinden. | |
15 Mar 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=KfpbJr-gOGs | |
[2] https://www.youtube.com/watch?v=0o4heKCLeTs | |
## AUTOREN | |
Laila Oudray | |
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