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# taz.de -- Inklusion und performative Künste: Lob der Langsamkeit
> Das Netzwerk making a difference setzt sich für die Inklusion behinderter
> Künstler*innen ein. Die Berliner Kulturpolitik gefährdet schon
> Erreichtes.
Bild: Über die Segel ziehen bald Fragmente von Bildern in der Videoinstallatio…
Die Zeit? Dinge gehen so lange, wie sie eben brauchen und wie viel Zeit
dafür in Anspruch genommen wird, ist in der Kunst oft nicht vorhersehbar.
Wo aber die Gleichung „Zeit ist Geld“ das Rechnungswesen bestimmt, ist
diese Zeit oft nicht da. Damit werden viele Künstler*innen
ausgeschlossen, die nicht im Takt der genormten Zeit arbeiten können. Das
war zuletzt Thema in der Performance „Raven mit Long Covid“ von Showcase
Beat le Mot im Hebbeltheater.
„Die Leistungsnormen funktionieren für viele nicht“, sagt Leo Naomi Baur.
Baur (they/them) leitet zusammen mit Juli Reinartz das [1][Berliner
Netzwerk making a difference], seit Juli 2024. Wer zum Beispiel chronisch
krank ist, oft nicht gut stehen, nicht gut gehen kann, für den die Wege zur
abgelegenen Toilette zu weit sind, braucht ein anderes Zeitmanagement, hat
eine andere Geschwindigkeit. Oder benötigt auch neue Formen der
Zusammenarbeit, die nicht immer von der körperlichen Anwesenheit im
Probenraum ausgehen. In Workshops Konzepte zu finden, wie das funktionieren
kann, ist eines der Ziele des Netzwerks.
„Crip Time“, das ist ein für mich neuer Begriff, den ich im Kontext von
making a difference lerne. Es ist ein Konzept aus den disability studies,
das sich mit der Anpassung der Geschwindigkeit an Bedarfe behinderter,
chronisch kranker und neurodivergenter Menschen befasst.
Juli Reinartz hat dazu im Juni letzten Jahres, als praktischen Teil ihrer
Doktorarbeit, die Performance „Late“ herausgebracht, ein Ballsaal der
unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Die Besucher sind nicht nur zum Sehen
eingeladen, sondern auch zum Fühlen und Tasten von Kostümen und
Dekostoffen, Wiederholungen öffnen Zugänge zum Begreifen der Strukturen.
Eine Entschleunigung, von der alle etwas haben.
Was Barrierefreiheit kostet
Sich den Luxus der Langsamkeit erlauben? Dolmetscher für die
Gebärdensprache engagieren? Dramaturgen für die Audiodeskription, die über
die sachliche Information hinaus eine eigene künstlerische Ebene bieten
kann? All das ist teuer. Theater müssten, das schätzen Juli Reinartz und
Leo Naomi Baur, gut 20 Prozent der Mittel, die für ein Projekt zur
Verfügung stehen, in die Arbeit an der Barrierefreiheit investieren, wenn
sie den Anspruch der Diversität ernst nehmen wollen.
Aber unter den Vorzeichen des aktuellen Spardiktats, das der Berliner Senat
der Kultur seit Jahresbeginn verordnet hat, stehen die Zeichen dafür
schlecht. Es droht verloren zu gehen, was in den letzten Jahren, unter
anderem dank des [2][Netzwerkes making a difference, das seit 2018
gearbeitet hat], an Strategien der Vernetzung, Vermittlung und Übersetzung
gewonnen wurde.
Bis 2022 hatte das Netzwerk im Jahr knapp 220.000 Euro im Jahr zur
Verfügung, die Finanzierung kam anteilig vom Land Berlin und vom Bund. Seit
2024 sind es nur noch 70.000 Euro vom Land Berlin, auch für 2025. Das
reicht für nur knapp zwei Stellen à 16 Stunden die Woche. Aber viele der
Künstler*innen aus der Community der Tauben, behinderte oder chronisch
Kranke, mit denen making a difference zusammenarbeiten will, waren auf
Mittel aus Förderprogrammen angewiesen wie [3][urbane Praxis],
Impact-Förderung und dem Projektfond Durchstarten, die jetzt kein Geld mehr
erhalten.
Alle können profitieren
Damit drohen Tore wieder zuzufallen, deren Öffnung viel mehr betrifft als
den Ausschluss von Behinderten zu überwinden. Es geht um eine
Bewusstseinsänderung und Wahrnehmungserweiterung, von der alle profitieren
können.
Dazu gehört, nicht mehr zu verstecken, was man Behinderten als Hilfe
anbietet, wie etwa die Audiodeskription für Nichtsehende über Kopfhörer,
und sie damit der Unsichtbarkeit überlässt. Sondern mit den [4][aesthetics
of access], noch ein Begriff, den ich von Juli und Leo lerne, neue
Theatererfahrungen für alle anzubieten. Die Erfahrung des Nichtverstehens
und des Sich Fremdfühlens eingeschlossen, wenn etwa ein Gebärdensprachler
Musik übersetzt wie in der Performance [5][„Natural Acts“ von] [6][Perel
und Rita Mazza] im HAU.
Am 9. Januar eröffnen in den Sophiensälen die Tanztage. Dann ist an drei
Tagen eine Arbeit von Leo Naomi Baur zu sehen, „The Disempowered“, eine
Videoinstallation. Türme mit aufgespannten Segeln stehen wie Schiffe im
Raum, Kissensäcke liegen darunter für das Publikum. Man sieht Teile von
Bildern, aus einer verschneiten und einsamen Landschaft hoch in den Bergen
und von einer Tanzperformance mitten in einem U-Bahnhof über die Flächen
ziehen. Über Kopfhörer sind Texte zu hören, die Bilder, Körper und
Bewegungen beschreiben.
Leo Naomi Baur geht es dabei darum, eine Alternative zur körperlichen
Anwesenheit auf der Bühne zu erarbeiten und „die körperliche
Unverfügbarkeit neu zu lesen“. Erinnerungen und Beschreibungen in den
Texten triggern die Vorstellungskraft und gehen mit dem fragmentarisch
Sichtbaren neue Verbindungen ein. Bild und Sprache begegnen sich anders als
gewohnt in diesem Theater.
9 Jan 2025
## LINKS
[1] https://making-a-difference-berlin.de/
[2] /Inklusives-Netzwerk/!5986107
[3] https://www.urbanepraxis.berlin/projekt/
[4] https://diversity-arts-culture.berlin/woerterbuch/aesthetics-access
[5] https://www.hebbel-am-ufer.de/programm/pdetail/perel-natural-acts
[6] https://www.hebbel-am-ufer.de/programm/pdetail/perel-natural-acts
## AUTOREN
Katrin Bettina Müller
## TAGS
Inklusion
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