# taz.de -- Meta ohne Faktencheck: Das Märchen von der „free expression“ | |
> Uneingeschränkte Meinungsfreiheit kann es auf sozialen Medien gar nicht | |
> geben. Wir müssen diese deshalb jedoch nicht meiden, sondern klüger | |
> nutzen. | |
Bild: Hass als Geschäftsmodell: Protest vor den Meta-Hauptsitz in London | |
Es war einmal eine Plattform, die versprach, ein Ort uneingeschränkter | |
Redefreiheit zu sein. [1][So erzählte es Meta-Chef Mark Zuckerberg letzte | |
Woche] in einer unheilvollen „Neujahrsansprache“, wie ein | |
Instagram-Kommentator dessen Video treffend klassifizierte. Doch hinter den | |
friedlichen Regenbogen-Flaggen verbarg sich ein „zensierendes“ System aus | |
Algorithmen, das entschied, welche Worte überhaupt sichtbar wurden. [2][Nun | |
aber, so verkündete Zuckerberg, müsse die „free expression“ | |
wiederhergestellt werden!] | |
Auch die Meta-Plattformen sollen künftig X-gleich zu einer Bastion der | |
freien Rede werden. Ob Zuckerberg hier selbstkritisch sprach oder mit | |
vorgehaltener Pistole – darüber lässt sich spekulieren. Doch eines ist | |
klar: Er bedient damit geschickt ein Narrativ, das anhaltend Konjunktur | |
hat: das der unterdrückten Meinungen, die dringend befreit werden müssen. | |
[3][Der derzeitige Schirmherr dieses Narrativs ist Elon Musk], der X | |
bereits zum selbsternannten Leuchtturm der Meinungsfreiheit umgebaut hat. | |
Auch wenn viele die Plattform daher mittlerweile verlassen haben, floriert | |
X dennoch weiter. Die User sehen sich nämlich durch Musks Rhetorik in ihrem | |
diffusen Gefühl bestätigt, ihre wahren Gedanken sonst nicht mehr äußern zu | |
dürfen. | |
Dieses Gefühl ist in den sozialen Medien allerdings unvermeidlich. Dafür | |
gibt es viele Gründe. Einer davon: Soziale Medien verstärken soziale | |
Sanktionen – von offener Kritik und Ausgrenzung über Shaming bis hin zu | |
Mobbing. Sichtbarkeit und Reichweite spielen hier eine entscheidende Rolle. | |
Äußerungen und Handlungen sind einer breiten Öffentlichkeit zugänglich und | |
werden nicht nur von kleinen Gruppen, sondern potenziell von einer globalen | |
Community bewertet. Das erhöht den Druck auf Einzelpersonen erheblich. Ein | |
misslungener oder unbedachter Post kann innerhalb von Stunden massive | |
öffentliche Kritik nach sich ziehen – das, was heute vorschnell als „Cancel | |
Culture“ bezeichnet wird. Manchmal mit positiven, manchmal mit negativen | |
Konsequenzen. | |
## Orchestrierte Bestrafung | |
Besonders gravierend ist der sogenannte „Pile-on-“ oder Schneeballeffekt: | |
Wird jemand oder etwas öffentlich kritisiert, schließen sich oft viele User | |
der Bestrafung an. Schnell entsteht der Eindruck eines breiten Konsenses – | |
auch wenn dieser objektiv betrachtet gar nicht existiert. In dieser Dynamik | |
fühlt sich paradoxerweise jede Position als bedrohte Minderheit. Dabei ist | |
die vermeintliche Mehrheitsmeinung oft nur ein gut orchestriertes Ensemble | |
Weniger. | |
Die Mär von der „free expression“ ist also eine schöne Geschichte, aber s… | |
bleibt auch unter Musk und einem Meta ohne Faktencheck und mit weniger | |
Content-Moderation, was sie immer schon war: ein Märchen. Die Vorstellung, | |
dass Plattformen uneingeschränkte Meinungsfreiheit ermöglichen, verkennt | |
ihre Architektur: Algorithmen, Monetarisierung und Marktlogiken schaffen | |
Bedingungen, unter denen jede Rede zur Ware wird: verpackt, kuratiert, | |
verkauft – aber nicht frei. Sie verkennt aber auch, dass soziales Verhalten | |
in einem Umfeld, das Feedback und Reaktionen nicht nur ermöglicht, sondern | |
permanent forciert, nicht reguliert werden kann. | |
Die eigentliche Frage lautet also nicht, ob es freie Rede im Netz geben | |
kann. Die Frage ist, wer uns diese Märchen erzählt – und warum ausgerechnet | |
jetzt. Während Zuckerberg und Musk von digitaler Befreiung reden, | |
verwandeln sie im Hintergrund weiterhin jede Äußerung in verwertbare Daten. | |
Je wilder die Debatten toben, desto höher die Engagement-Raten. Je | |
polarisierter die User, desto präziser die Algorithmen. Die „free | |
expression“ ist ein trojanisches Pferd – das wir begeistert begrüßen. | |
Dieser Widerspruch lässt sich wohl nicht auflösen – aber wir sollten ihn im | |
Hinterkopf behalten. Die Mechanismen sozialer Medien zu durchschauen muss | |
nicht bedeuten, sie zu meiden. Es bedeutet, sie klüger zu nutzen. Denn die | |
echte digitale Freiheit liegt darin, nicht alles zu sagen, was man sagen | |
könnte. | |
13 Jan 2025 | |
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## AUTOREN | |
Annekathrin Kohout | |
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