# taz.de -- Wahlkampf auf Social Media: User, Algorithmen und Argumente | |
> Weltweit ähnelt Wahlkampf auf Social Media einem Computerspiel. Likes | |
> entscheiden mit. | |
Bild: Im Wahlkampf ist Vieles möglich – fehlen nur noch Ascii-Art-Katzenbild… | |
Es ist die heiße Phase des Bundestagswahlkampfs, das macht sich auch in den | |
Kommentarspalten auf Tiktok bemerkbar. Ein blaues Herz für die AfD, ein | |
grünes für die Grünen, ein rotes für die Linken – politische Präferenzen | |
werden hier gerne mit Emojis ausgedrückt. Nicht nur ab und an, sondern | |
zuhauf. Nicht nur unter Videos zu politischen Inhalten, sondern fast | |
überall. | |
Auch ASCII-Art erlebt eine Renaissance! Mit Symbolen und Sonderzeichen | |
werden dekorative Rahmen, Herzen und die Schriftzüge der Parteien | |
gestaltet, um sich in den langen Threads visuell abzuheben. | |
Kommentare dieser Art sind nicht nur Ausdruck der persönlichen Meinung, es | |
geht oft auch nicht vordergründig darum, andere von der eigenen Haltung zu | |
überzeugen – denn dann würde man argumentieren. Nein, sie sind ein | |
Spielzug: [1][Durch erhöhte Interaktion soll der Algorithmus beeinflusst | |
werden]. | |
## Mehr For-You, mehr Reichweite | |
Das Ziel? Politische Inhalte auf die For-You-Page zu bekommen, wo sie viral | |
gehen können – denn das bedeutet mehr Reichweite, mehr Einfluss, mehr | |
Kontrolle über den digitalen Wahlkampf. [2][Um die eigene Bubble zu | |
durchbrechen], werden vielfach sogar die Herzchen der gegnerischen Partei | |
verteilt. | |
Manche Kommentare enthalten zudem irreführende Ratschläge wie: „Nicht | |
vergessen, den Wahlzettel zu unterschreiben!“ Der politische Diskurs ist | |
zum Multiplayer-Game geworden – ein Phänomen, das sich weltweit in | |
demokratischen Wahlkämpfen beobachten lässt. Regeln wie „Sie erreichen mehr | |
Sichtbarkeit durch Interaktion“ werden von den großen Plattformen | |
vorgegeben. Algorithmen sind die unsichtbaren Spielleiter, die entscheiden, | |
welche Inhalte im Turnierverlauf weiterkommen. In diesem Wahlkampf-Game | |
ringen Parteien um die besten Platzierungen in den Feeds der Wählerschaft. | |
Doch die wichtigsten Spielfiguren, das sind wir – wir User. | |
Originalcontent, seien es Videos auf den Profilen der Kanzlerkandidaten | |
oder Auszüge aus TV-Sendungen oder Bundestagsreden, dient nicht mehr allein | |
als Aufklärung über das Parteiprogramm. Sie sollen Reaktionen hervorrufen | |
und sind Munition für uns User. Wir werden damit zu Wahlhelfern – ohne das | |
immer im Sinn gehabt zu haben. Denn [3][Liken, Teilen, Kommentieren sind | |
die Moves,] die über Sieg oder Niederlage entscheiden. | |
## Politik als Fankultur | |
Doch was bedeutet es für die politische Kultur, wenn Wahlkampf zur reinen | |
Performance wird? Wichtiger als der Wettstreit politischer Ideen sind | |
zustimmende Likes und Reichweite. Politische Überzeugungen werden nicht | |
mehr durch Argumente verhandelt, sondern durch Symbole markiert – ähnlich | |
wie Fans ihre Zugehörigkeit zu Popstars oder Sportvereinen demonstrieren. | |
Wer Politik als Spiel begreift, sucht nicht mehr nach der besten Lösung für | |
gesellschaftliche Probleme, sondern nach der effektivsten Taktik, um zu | |
gewinnen. In der digitalen Arena bedeutet das: Hohe Viewzahlen schlagen | |
jedes Argument, Engagement ist wichtiger als Wahrheitsgehalt. | |
Auch die Motivation der Beteiligten verändert sich grundlegend. Man | |
vertritt Positionen nicht mehr unbedingt aus Überzeugung, sondern weil ihre | |
Inszenierung Erfolg verspricht: „Ich wähle AfD. Einfach nur, um euch zu | |
ärgern. Ihr nervt nämlich mittlerweile mehr als rechts“, schreibt ein | |
Kommentator auf Tiktok. Das ist repräsentativ. | |
Solchen Kommentaren lässt sich die schleichende Entwertung politischer | |
Ernsthaftigkeit entnehmen. Wer den Wahlkampf als Spiel wahrnimmt, kann | |
komplexe gesellschaftliche Herausforderungen leichter trivialisieren. | |
Moralische Verantwortung und demokratische Werte verkommen zu beliebigen | |
Spielelementen, die man je nach Taktik einsetzen oder ignorieren kann – | |
schließlich ist es ja „nur ein Spiel“. | |
Die Gamifizierung des Wahlkampfs ist damit deutliches Symptom einer | |
Transformation unserer politischen Öffentlichkeit. Während Wahlkämpfe schon | |
immer von strategischem Kalkül geprägt waren, sind es heute wir User, die | |
mit jedem Like, jedem Kommentar und jedem geteilten Video entscheiden, ob | |
Politik zum demokratischen Diskurs oder zum taktischen Spiel wird. | |
10 Feb 2025 | |
## LINKS | |
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## AUTOREN | |
Annekathrin Kohout | |
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