| # taz.de -- Demokratie als Klassenprojekt: Eine Sehnsucht nach Disruption | |
| > Demokratie gilt nicht mehr allgemein. Ob Inflation, Klimawandeln oder | |
| > Integration – der rechte Diskurs verspricht Veränderung der bisherigen | |
| > Politik. | |
| Bild: Griff nach der Kanzlerschfaft: FPÖ-Chef Herbert Kickl in Wien | |
| Österreich steht kurz vor einem FPÖ-Kanzler. Und das verbreitetste Gefühl | |
| ist – Resignation. Es scheint unausweichlich. Gibt es nicht eine rechte | |
| Welle – weltweit? Leben wir nicht in einem rechten Zeitalter? Das Scheitern | |
| einer möglichen Austro-Ampel, das dem vorausging, scheint sich da nahtlos | |
| einzufügen. Als ob im rechten Zeitalter andere Politikkonzepte letztlich | |
| chancenlos wären. Oder war dieses Scheitern doch ein Versagen der | |
| politischen Eliten des Landes? | |
| Letztlich gilt wohl: weder noch – oder beides, was in diesem Fall | |
| gleichbedeutend ist. Denn weder ist der allgegenwärtige Rechtsruck einfach | |
| ein Zeitgeist, dem man schicksalhaft ausgeliefert wäre. (Die | |
| Ampel-Verhandlungen hätten auch gelingen können.) Noch haben die handelnden | |
| Akteure einfach nur versagt – denn es gibt ein grundlegendes Problem. | |
| Dieses Problem aller bisherigen Politik lautet: „Kein Weiter-wie-bisher.“ | |
| Das ist das derzeitige Grundgefühl. Die anstehenden Probleme scheinen | |
| überbordend – von der Inflation über die medizinische Versorgung bis zu | |
| Integrationsfragen und zum Klimawandel. Die Reihe ließe sich fortsetzen. | |
| All diesen Herausforderungen scheinen weder die Gesellschaft noch die | |
| Politik gewachsen. Deshalb greift die Sehnsucht nach Disruption um sich, | |
| der Wunsch nach einem Bruch, nach einer wirklichen Veränderung. Eben nach | |
| einem „Kein-Weiter-wie-bisher“. | |
| ## Sehnsucht nach einer wirklichen Veränderung | |
| In gewissem Sinn ist diese Sehnsucht weiter als die bisherige Politik. Weil | |
| sie das Empfinden einer notwendigen Veränderung ist. Und zugleich ist diese | |
| Sehnsucht trügerisch. Denn sie lässt sich von den Rechten kapern, | |
| usurpieren, einfangen. Die Rechten sind es, die heute Disruption und | |
| Veränderung versprechen. | |
| Sie bedienen diese Sehnsucht durch einen brachialen Stil, durch eine | |
| Radikalität des Auftretens. Die AfD ist darin wie das Spiegelbild von Kickl | |
| und seiner FPÖ. Bemerkenswert ist, wie unverblümt das autoritäre Gehabe | |
| heute auftritt. Wie unverhüllt solches mittlerweile aus den Echokammern | |
| herausdringt – in das, was die alte Öffentlichkeit war. Diese, die ehemals | |
| allgemeine Öffentlichkeit, ist längst zu einer Teilöffentlichkeit | |
| degradiert worden. Nicht nur durch die sozialen Medien – auch angesichts | |
| eines populistischen medialen Apparats. (Die FPÖ ist diesbezüglich | |
| Vorreiter.) | |
| So ist der martialische Tonfall auch nur für eine Teilöffentlichkeit | |
| erschreckend. Man hat vielleicht zu wenig begriffen, dass die anderen, | |
| viele andere diese Radikalität des Auftretens befreiend finden. Das sind | |
| jene, die das Vertrauen in die Institutionen, den Glauben an die Demokratie | |
| längst verloren haben. Für diese ist solches politische Rowdytum das | |
| Versprechen, sie „da herauszuholen“. Nämlich aus dem, was sie als | |
| unterdrückend empfinden. Herauszuholen aus der bestehenden institutionellen | |
| Ordnung, aus der Demokratie. | |
| ## Demokratie ist jetzt ein Klassenprojekt | |
| Der Demokratie ergeht es wie der Öffentlichkeit: Sie gilt nicht mehr | |
| allgemein. Demokratie ist zu einem Klassenprojekt geworden. Zu einem | |
| Projekt des Mittelstands. Zumindest wird sie von manchen als solches | |
| angesehen. Deshalb greifen die ständigen Warnungen vor deren Verlust auch | |
| nicht wirklich. | |
| Alle sonstige Politik aber, auch linke, kann die Disruptionssehnsucht nicht | |
| bedienen. Denn eine echte Politik der Veränderung steht vor einem | |
| grundlegenden Problem: Sie bräuchte andere Subjekte als neoliberal | |
| verbogene Narzissten. Sie würde anderer Subjekte bedürfen, sich an andere | |
| Subjekte wenden, andere hervorbringen. Linke Politik müsste für andere | |
| Subjekte gemacht werden. Die Disruptionssehnsüchtigen müssten sich also | |
| selbst verändern. | |
| Die Rechten aber versprechen genau das Gegenteil: eine Veränderung der | |
| Gesellschaft, ohne dass man – also die Autochthonen – sich verändern muss. | |
| Sie versprechen eine Veränderung, in der man sich bewahren kann. In der man | |
| der bleiben kann, der man ist. Eine Veränderung der Gesellschaft, um sich | |
| als Einzelner nicht zu bewegen. Das ist die Grundlage von dem, was zum | |
| rechten Zeitalter aufgebauscht wird. Und genau das ist kein Schicksal. Oder | |
| müsste zumindest keines sein. | |
| 29 Jan 2025 | |
| ## AUTOREN | |
| Isolde Charim | |
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