| # taz.de -- Neue Intendantin am Thalia Theater: „Ich möchte vermitteln, dass… | |
| > Sonja Anders wechselt als Intendantin von Hannover ans Thalia Theater | |
| > nach Hamburg. Das könnte mehr Freude im Spielplan versprechen – und mehr | |
| > Frauen. | |
| Bild: Lust auf niedrige Schwellen: Sonja Anders beim Besuch ihrer künftigen Wi… | |
| Lackiert in so einem angeschmuddelten Postfachgelb erobern die | |
| Garderobenschränke sofort Aufmerksamkeit beim Betreten des kühlweiß | |
| strahlenden [1][Schauspielhauses in Hannover]. Als Sonja Anders dort 2019 | |
| als Intendantin einzog, wollte sie die Spindtüren überstreichen lassen. Was | |
| aber sehr teuer gewesen wäre. So ließ sie lieber weitere gelbe Akzente im | |
| Haus setzen, auch auf den Tickets sind Logo und Schriftzug passend | |
| gedruckt. Von Mitarbeitenden wird Anders auch „Sunny“ genannt, wohl wegen | |
| ihres sonnigen Gemüts. | |
| Gelb wurde so was wie die Symbol- und Stimmungsfarbe ihrer Spielzeiten. | |
| Besonders das heitere Optimismusgelb und die herzwärmend lebensfreudige | |
| Zuversicht des Sonnengelbs. Klingt jetzt etwas pathetisch, aber Anders legt | |
| in unseren Krisenzeiten großen Wert auf lichtsuchende, energiespendende | |
| Inszenierungen und lässt die Freuden der Diversität feiern. „Dabei hat sie | |
| eine große Offenheit und Empathie für alle, die mit dem Theater fremdeln“, | |
| sagt Nora Khuon. | |
| Mit Chefdramaturgin Khuon – sowie Regisseurin Anne Lenk – bildet Anders ab | |
| Sommer 2025 das erste weibliche Leitungsteam des Hamburger Thalia Theaters. | |
| Beider Zugang zur dramatischen Kunst aber könnte unterschiedlicher kaum | |
| sein: Khuon lebt schon seit Kindertagen im Theater, ihr Vater ist der | |
| Intendant [2][Ulrich Khuon] – Konstanz, Hannover, Hamburg, Berlin, zurzeit | |
| Zürich –, ihr älterer Bruder Alexander ist Schauspieler. | |
| ## Ins Theater nur mit der Schule | |
| Anders hingegen wurde 1965 in Hamburg in „sehr einfache“ Verhältnisse | |
| hineingeboren, der Vater war ein „einfacher Angestellter“. Nach der | |
| Scheidung der Eltern wuchs sie mit ihrer Schwester bei der Mutter auf. | |
| „Wenn man heute sagt, 47 Prozent der Alleinerziehenden seien | |
| armutsgefährdet, dann waren wir das damals definitiv.“ Ins Theater seien | |
| ihre Eltern nie gegangen, sie selbst kann sich nur an einen Besuch mit der | |
| Schule erinnern. Dafür stromerte Anders schon in Kindertagen durch | |
| Bibliotheken und schleppte Monat für Monat die maximale Zahl von 20 | |
| Leihbüchern nach Hause. Dort lag sie oben auf ihrem Etagenbett und genoss | |
| „Literatur als Fantasieort, eine Form der Gegenwelten“, wie sie sagt. | |
| Vielleicht ja deswegen prägen Prosa-Adaptionen heute ihre Spielpläne. | |
| Der Welt zu wandte sich die Jugendliche in der [3][Punk- und | |
| New-Wave-Szene]. „Ich hatte gefärbte Haare, jobbte in Kneipen, ging in | |
| Clubs wie das 'Versuchsfeld’ in Bahrenfeld und mochte sehr die 'Geräusche | |
| für die 80er’-Festivals von Klaus Maeck in der Markthalle. In der Zeit habe | |
| ich gelernt, dass man die Grenzen, die die Gesellschaft aufzeigt, anfassen | |
| und verändern kann. Es zählt nicht Geld, sondern Originalität und | |
| Kreativität.“ Bis heute ist es Anders wichtig, sich für die freie Szene und | |
| die Förderung der Subkultur zu engagieren. „Wenn Kneipenräume so teuer und | |
| geleckt werden oder Bands keine Proberäume mehr haben, ist das fatal für | |
| die Jugendkultur in unseren durchgentrifizierten Städten.“ | |
| Germanistik mit Schwerpunkt Medien und Theater konnte Anders schließlich an | |
| der Universität Hamburg studieren. Dort hat sie erstmals mit einer freien | |
| Theatergruppe herumprobiert: „Das war eine Schockverliebtheit in das | |
| Theater!“ Sie habe sofort verstanden, dass sie nicht Schauspielerin werden | |
| wollte, nicht Regisseurin, sondern Dramaturgin. Bald absolvierte sie eine | |
| entsprechende Hospitanz am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, ging dann | |
| ans Staatstheater Stuttgart, wurde Chefdramaturgin am Thalia und am | |
| Deutschen Theater in Berlin. „Ich habe mir das alles selbst erarbeitet, ich | |
| kann auch ganz gut allein sein, habe auch viel allein gewohnt“, so Anders. | |
| ## Glück ist nicht langweilig | |
| Jetzt ist sie Mutter dreier Kinder und Intendantin. „Wobei meine Arbeit zu | |
| 90 Prozent aus Problembewältigung besteht“, sagt sie. „Da ist zuerst das | |
| Finanzielle, dann das Organisatorische, die Konfliktbewältigungen und | |
| schließlich das Künstlerische. Aber ich habe das Gefühl, in dieser Position | |
| etwas gestalten zu können, fühle mich freier als in der dramaturgischen | |
| Position.“ Was die Neue als Chefin auszeichnet, beschreibt Khuon so: „Sonja | |
| verliert sich nie in persönlichem Kleinklein, hat immer die großen | |
| Zusammenhänge im Blick. Und findet auch aus noch so kritischen Dialogen | |
| immer ins gemeinsame Arbeiten.“ | |
| Dass Herkunft nicht stigmatisieren und von der Theaterkunst als | |
| Lebensmittel ausschließen muss, ist aus Anders’ eigenem Werdegang zu lesen. | |
| Und es soll Folgen haben. „Ich möchte vermitteln, dass Theater nicht beißt. | |
| Dass man nicht blöd ist, wenn man nicht alles sofort versteht, weil die | |
| Kunstform inzwischen doch recht hochgejazzt ist. Die Sprache, die Bilder, | |
| das assoziative Erzählen können überfordern. Ich habe mir das selbst | |
| angeeignet und das Theater für mich entdeckt.“ Sie glaube an diese | |
| Lernprozesse – habe beispielsweise jahrelang all die | |
| Gleichstellungsdebatten nicht genügend beachtet, dann in Hannover aber | |
| Geschlechterparität bei der Auswahl von Schauspielenden praktiziert und ein | |
| wohltuend diverses Ensemble engagiert; viel wurde darüber diskutiert. | |
| „Inzwischen ist das selbstverständlich, auch für das Publikum. Wir reden | |
| jetzt gar nicht mehr so viel darüber. Dieser Umgang mit den sexistischen | |
| und rassistischen Anteilen in uns ist mir sehr wichtig, auch für das | |
| menschliche Reifen. Ich habe an mir selbst erlebt, wie man mit Theater den | |
| Blick auf sich und die Welt verwandeln kann.“ Das müsste auch bei anderen | |
| funktionieren. | |
| Aber nicht nur achtsam aufklärerische Helden toben durchs Schauspielhaus | |
| Hannover, auch verkopfteres Dramaturg:innentheater hat dort seinen | |
| Platz – so wie mancher Bösewicht: „Die Autokraten, Diktatoren, totalitären | |
| Charaktere von heute zeigen wir mit all ihren Lügen und ihrem Populismus in | |
| Stücken der Antike und von Shakespeare, wo sie niemals die Erlösung, immer | |
| das Problem sind. Aber die Gegenerzählung ist nicht die Stärke des | |
| Theaters. Ulrich Khuon hat immer gesagt, Glück sei langweilig auf der | |
| Bühne“, sagt Anders. „Aber ich mag das nicht so wirklich glauben, und das | |
| Publikum auch nicht.“ | |
| So hadert sie ein wenig mit der jüngsten Premiere, „Vor Sonnenaufgang“ | |
| [4][von Ewald Palmetshofer nach Gerhart Hauptmann], die sich wahnsinnig | |
| düster um zerstörte menschliche Beziehungen dreht. Und eben jeden Anflug | |
| sonnengelb-erhellender Gedanken verweigert. „Freude bringt mehr Bewegung in | |
| den Menschen, mehr Veränderung, hat vielleicht sogar mehr revolutionäres | |
| Potenzial als Affekte wie Hass und Wut. Regisseurin Jorinde Dröse ist ein | |
| gutes Beispiel für freudvolles Aktivieren von Widerstand.“ Gemeint ist | |
| deren Inszenierung von [5][Mareike Fallwickls „Die Wut, die bleibt“],wieder | |
| ein Roman: „Frauen und Care-Arbeit, ein Thema, das wirklich umtreibt, die | |
| Leute rennen uns die Bude ein, springen auf, weinen, sind ergriffen und | |
| dankbar, dass einem dieses Leid jemand auf der Bühne ein bisschen abnimmt“, | |
| so Anders – „Katharsis im besten Sinne.“ | |
| ## Die Power, Zuschauer:innen mitzunehmen | |
| In jeder Spielzeit setzt sie auf mitreißende, auch anrührende | |
| Selbstverständigungsabende für LGBTQ+-Communitys, PoC, Kinder und Enkel | |
| türkischer Gastarbeiter, Polizist:innen, perspektivlose Jugendliche, | |
| Betroffene von rassistischer und klassistischer Ausgrenzung, Fußballfans, | |
| alte weiße gescheiterte Männer, junge weiße gescheiterte Frauen … Ihre | |
| Idee: Zugänglichkeit erhöhen durch klare Botschaften, nachvollziehbare | |
| Inhalte, sinnlich direktes Spiel. Auch leicht als „Wokeness-“ oder | |
| „Identitätsthemen“ Abzutuendes soll heiter und bunt daherkommen. | |
| Das wird – auch hausintern – nicht nur gefeiert, erklärte | |
| Hochkulturmenschen bezeichnen die Produktionen mitunter als thesenhaft | |
| simpel oder plump aktivistisch. Darüber streitet Anders sich dann auch mal | |
| mit Kritiker:innen: „Ja, das ist niedrigschwellig und nicht wahnsinnig um | |
| acht Ecken gedacht, aber das hat doch eine Power, die die | |
| Zuschauer:innen mitnimmt, sich mit den Figuren zu identifizieren, | |
| mitzufiebern und sich dabei vielleicht ein kleines Stück weit zu | |
| verändern!“ | |
| Im Sommer 2025 kommt Anders zurück nach Hamburg. Warum ist sie eine | |
| Idealbesetzung fürs Thalia? „Weil sie eine Erneuerin ist, ohne etwas | |
| kaputtzumachen“, sagt Khuon. Im Ensemble werde es große Kontinuität geben. | |
| Aber es würden deutlich mehr Regisseurinnen engagiert, [6][als es | |
| Vorgänger-Intendant Joachim Lux ermöglicht hat]. Auf dem Programm sollen | |
| wenig Klassiker, viele Romane und Uraufführungen stehen. Für Anders ist die | |
| Hauptfrage ihrer Thalia-Arbeit, „wie verführe ich Menschen zu gemeinsamem | |
| und kraftvollem Widerstand gegen das, was gerade auf uns zurollt an | |
| Rückwärtsgewandtheit, Ängstlichkeit und Panik. Wie erreichen wir noch mehr | |
| Empowerment“. Und einen noch vielfältigeren, noch gelberen Spielplan? | |
| 1 Jan 2025 | |
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| Jens Fischer | |
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