# taz.de -- „Universen“ im Schauspielhaus Hannover: „Holt euch die Steuer… | |
> Playstation-Turniere und Solidaritätskonzerte: Theatermacher Murat | |
> Dikenci lockt ein sonst eher theaterfernes Publikum ins Schauspielhaus | |
> Hannover. | |
Bild: Verfolgt ein offenes, postmigrantisches Konzept: „Universen“-Kurator … | |
HANNOVER taz Sonntagabend im Hannoveraner Schauspielhaus. Das Publikum im | |
Saal [1][ist etwas anders], als man es aus anderen Horten deutscher | |
Hochkultur kennt: türkische Familien, Kopftuchträger*innen, BIPoC. Der | |
Altersdurchschnitt liegt gefühlt bei Mitte 20, es wird gekichert und sich | |
lautstark begrüßt. | |
Ein lauter Hip-Hop-Track ertönt; „Lauf weg, lauf weg, […] Blaumann haut dir | |
die Farbe der Haut weg. Auch fremd, wenn du hier aufwächst.“ Von den | |
hinteren Rängen kommend sprinten drei Männer auf die Bühne. Dort angekommen | |
liefern sie sich ein Tanzbattle bis zum Ende des Tracks. | |
Einer der Tänzer ist Murat Dikenci, 35 Jahre alt, Schnurrbartträger und | |
Gastgeber des Abends. Vom Tanz noch ganz aus der Puste, greift er nach | |
einem Mikrofon und ruft: „Willkommen zu einer neuen Spielzeit Universen, | |
Hannover!“ Die „Universen“, das ist das Studiobühnenprogramm des | |
Hannoveraner Schauspielhauses. Sie sind Murat Dikencis Baby, er ist bereits | |
im zweiten Jahr künstlerischer Leiter und Kurator. Mehr als das, er ist ihr | |
Herzstück. | |
Die „Universen“ sind eine Art Dauerfestival, das über die gesamte Spielzeit | |
stattfindet und sich von den klassischen Bühnenproduktionen des Hauses | |
absetzt. Was es genau umfasst, ist nicht so klar, Theaterleute legen sich | |
nicht gerne fest. Theatervermittlung, Begleitprogramm, partizipative | |
Workshops – das trifft es nicht genau. Also einigte sich Dikenci mit dem | |
Haus auf den Begriff [2][„solidarische Bühne“]. | |
Die Mission: die Stadt in ihrer Breite abbilden, Veranstaltungen für alle | |
anbieten. Wie, ist egal, alles ist erlaubt: Konzerte, Filmscreenings, | |
Lesereihen, Performances, Gedenkveranstaltungen, Workshops, Partys und | |
Tanz. | |
## Von Nouruz bis Chanukka | |
Auch religiöse Feste werden gefeiert. Im letzten Jahr gab es eine | |
Nouruz-Feier, Chanukka mit der jüdisch-liberalen Gemeinde der Stadt musste | |
wegen Corona abgesagt werden. „Aber die haben sich so gefreut, mal nicht | |
zum Holocaust angefragt zu werden“, sagt Dikenci. In diesem Jahr wird es | |
erstmalig eine Bühnenproduktion der „Universen“ geben. | |
Die Gedichte des palästinensisch-dänischen Dichters Yahya Hassan werden | |
uraufgeführt, Regie führt Dikenci. Er findet, dass das Theater zu weit weg | |
von den Menschen ist. „Die Kulturinstitutionen haben es über Jahrzehnte | |
massiv verpasst, bestimmte Bevölkerungsgruppen anzusprechen. Viele Menschen | |
denken bis heute: Da gehöre ich nicht rein.“ | |
Als die „Universen“ zur Spielzeit 2019/20 ins Leben gerufen wurden, war das | |
Ziel, neue Zuschauer:innengruppen ins Theater zu holen, Aufbauarbeit | |
zu leisten. Ein Wunsch, den viele Stadttheater hegen. „Der Denkfehler ist, | |
dass viele dann nur partizipative Workshop-Programme machen“, sagt Murat | |
Dikenci. „Dabei weiß ich von vielen Menschen, dass sie nach der Arbeit | |
nichts übermäßig Intellektuelles brauchen. Die wollen unterhalten werden, | |
also müssen wir ihnen auch so ein Programm anbieten.“ | |
An dem Abend der Spielzeiteröffnung kommt deswegen also der Comedian | |
Benaissa Lamroubal auf die Bühne. Er ist einer der Gründe, warum so viele | |
junge Menschen da sind. Seine Stand-up-Comedy spricht gezielt ein | |
migrantisches Publikum an, indem er kulturelle Unterschiede zwischen | |
Ausländern und Deutschen aufzeigt. Lamroubals Pointen bringen den Saal zum | |
Brüllen, teilweise aber mittels plumper Männer-Frauen-Stereotype. Doch | |
vielleicht ist das der Preis, den man für die [3][Öffnung des Theaters] für | |
neue Gruppen zahlen muss. | |
Wer in Dikencis Programm eine moralische Selbsterhöhung durch ein Übermaß | |
an Political Correctness sieht, liegt falsch. In seinem Programm geht es | |
ihm um Breite, nicht um Differenzierung. Dikenci stammt aus Hannover. Seine | |
Großeltern kamen als Gastarbeiter*innen nach Hannover und arbeiteten | |
für Telefunken. Später zogen sie in die Türkei zurück, ihre Kinder blieben | |
da. | |
## Verantwortung gegenüber Community | |
Als Kind sang Murat Dikenci im Hannoveraner Knabenchor. Mit 19 fand er | |
durch einen Aufruf für Laienschauspieler*innen den Weg auf die | |
Theaterbühne. Eines seiner ersten Stücke wurde in der Cumberlandschen | |
Galerie aufgeführt, dem historischen Nebengebäude des Schauspielhauses, das | |
für sein imposantes Treppenhaus bekannt ist und die Hauptstätte der | |
„Universen“ darstellt. | |
Der Job im Schauspielhaus ist für ihn auch eine Verantwortung gegenüber | |
seiner Community. Auch wenn sich das Haus Diversität auf die Fahne | |
geschrieben hat, weiß er genau, dass das auch bloß eine endliche Ressource | |
ist. Bevor er die Stelle antrat, fragte er sich: „Nehme ich jetzt meinen | |
eigenen Leuten ein Stück vom Kuchen weg?“ In der heutigen, von Kollektiven | |
geprägten Kulturlandschaft fungiert der Kurator auch als eine Art | |
Community-Organizer. | |
Dikenci scheint für diese Rolle wie geschaffen. Im Gespräch erzählt er, wie | |
er einem bulgarischen Kulturverein schrieb, dass die bulgarischstämmige | |
Schauspielerin Vidina Popov ihr Monologstück „Ich bin Bulgare?“ aufführen | |
würde. Er bekam keine Antwort, doch zu dem Abend kamen über 20 | |
Bulgar*innen, die sonst nie ins Theater kommen. | |
Oder als er vor der Gedenkveranstaltung für die rassistischen Mordanschläge | |
von Mölln bei einem türkischen Seniorenverein anrief, um dessen | |
Bewohner*innen zu dem Konzert der deutschtürkischen Bağlama-Virtuosin | |
Derya Yıldırım einzuladen. Die Senior:innen wussten nicht, wo das | |
Theater ist. Also holte er sie kurzerhand vom Kröpcke ab, einem zentralen | |
Platz in Hannover. | |
„Es ist schockierend, dass die seit sechzig Jahren in Deutschland sind, | |
aber nicht mal wissen, wo das Theater ist“, sagt er. | |
## Solidarität gegen Rassismus | |
Die Intendantin des Hauses, Sonja Anders, schätzt Dikenci. „Ich finde es | |
beeindruckend, wie er sich aus seiner eigenen Person heraus mit politischen | |
Struggles verbindet und solidarisiert.“ Dikenci kultiviert keinen | |
überhöhten Kunstbegriff, lässt sich emotional auf die Menschen ein, mit | |
denen er arbeitet. Im Juni 2021 setzte er sich gegen die rassistischen | |
Polizeistrukturen im tschechischen Osek ein, wo der 46-jährige Rom | |
Stanislav Tomáš von Sicherheitskräften ermordet wurde. | |
Die Tat erinnert an die Ermordung des US-Amerikaners George Floyd, die 2020 | |
für weltweite Proteste sorgte. Auch Tomáš starb durch einen Polizisten, der | |
auf seinem Hals kniete. Murat Dikenci bewegte diese Geschichte besonders: | |
er selbst wurde 2006 während einer Tournée in Osek Opfer eines | |
rassistischen Angriffs von Neonazis und fühlte sich von der Polizei | |
komplett allein gelassen. Als der Fall von Stanislav Tomáš publik wurde, | |
setzte er sich auf Instagram lautstark für die Sinti*zze-&- | |
Rom*nja-Gemeinschaft ein. | |
Seine eigene Machtposition über den Theaterraum und dessen Ressourcen sieht | |
er als Chance für Umverteilung. Noch bevor er offiziell seine Stelle | |
antrat, bestellte er mehrere Playstations, um Fifa-Turniere mit | |
Jugendlichen veranstalten zu können. „Es ist egal, wie Menschen hierher | |
gelangen. Hauptsache, sie können sagen: Ich war im Theater, das ist auch | |
mein Ort.“ | |
Mit seiner Auslegungsweise postmigrantischer Theaterräume steht er ganz in | |
der Tradition der Berliner Theater Maxim Gorki und Ballhaus Naunynstraße, | |
die in den 2000er Jahren um Sichtbarkeit und Anerkennung von Communities | |
mit Migrationsgeschichte in der Hochkultur kämpfte. Murat Dikenci war | |
damals mittendrin: Nach seinem Studium wurde er Hospitant am Ballhaus | |
Naunynstraße, spielte zehn Jahre lang in der für die Ära so wichtigen | |
Inszenierung „Verrücktes Blut“. | |
## Postmigrantischer Spirit | |
Diesen Spirit führt er Hannover fort. „Menschen wie meine Großeltern wurden | |
im Theater nie mitgedacht. Ich sage ihnen heute: Holt euch eure | |
Steuergelder zurück! Geht in die Theater und nutzt, was mit euren | |
Steuergeldern produziert wird!“ | |
Doch warum brauchen marginalisierte Communities eigentlich eigene | |
Kulturveranstaltungen? Vielleicht ist es auch umgekehrt. Die | |
Mehrheitsgesellschaft und ihre Hochkultur brauchen das postmigrantische | |
Theater, denn eine Gesellschaft lässt sich am besten von ihren Rändern | |
betrachten. | |
Das zeigt sich auch in Dikencis Begrüßungsrede zu seiner zweiten Spielzeit | |
„Universen“. Ein Schwerpunkt soll auf dem Hinterfragen toxischer | |
Männlichkeitsbilder und der Erwartungshaltung an migrantische Männlichkeit | |
liegen. | |
Murat Dikenci unterbricht sich selbst und bittet seinen Vater auf die | |
Bühne. Bei seinem Baba bedankt er sich, dass er ihm so einen gesunden | |
Umgang mit Männlichkeit vermittelt hat. Und wie zum Beweis kommen ihm | |
Tränen, die beiden umarmen sich auf der Bühne. Ein schöner Moment, der | |
vielleicht mehr vermittelt hat als so manch realitätsferner Theaterdialog. | |
6 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Leonard Maximilian Schulz | |
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