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# taz.de -- Neue Intendanz am Gorki Theater Berlin: Eröffnung im Hidschab
> Erweiterter Staatstheaterbegriff: Mit seiner Chefin Shermin Langhoff
> startet das Berliner Maxim Gorki Theater in eine neue Zeit.
Bild: Shermin Langhoff, neben dem Werk „Sleepy Hollows“ der Künstlergruppe…
Die erste Szene könnte aus einem Traum von Thilo Sarrazin stammen: Denn als
der Vorhang sich im Maxim Gorki Theater für die Intendanz Shermin Langhoff
hebt, ist eine Frau im schwarzen Hidschab zu sehen. So heißen die
kleidsamen Ganzkörperverhüllungen für muslimische Frauen. Und eine solche
eröffnet hier die erste Spielzeit des ersten deutschen Staatstheaters mit
explizitem Migrationshintergrund. Ein kleiner, frecher Wink mit dem
Zaunpfahl in Richtung der Deutschland-schafft-sich-selber-ab-Krakeeler?
Doch dieses Deutschland – das ist die Botschaft von Nurkan Erpulats Lesart
von Anton Tschechows berühmtem Stück über einen Epochenwechsel, „Der
Kirschgarten“ – gleicht dem titelgebenden Kirschgarten der bankrotten
Gutsherrin Ranewskaja, der gar keine Kirschen mehr trägt, aber seinen
lethargischen Bewohnern immer noch als Folie für ihre Identität dient. Doch
was kann die noch sein? Am Ende, man kennt die Geschichte, kauft der zu
Geld gekommene Sohn eines einstigen Leibeigenen, Lopachin, das verschuldete
Gut, holzt die nutzlos gewordene Pracht ab, weil er etwas Neues bauen will.
Das ist natürlich auch eine wunderbare Metapher für eine
Theaterneueröffnung, für die des Maxim Gorki Theaters erst recht, wo nun
Shermin Langhoff und Jens Hillje angetreten sind, den Stadttheaterbegriff
zu erweitern und auch all jene miteinzubeziehen, die den Kirschgarten der
deutschen Hochkultur bislang nicht betreten durften.
## Symbolische Besetzung
Bereits die Besetzung von Nurkan Erpulats Inszenierung könnte symbolischer
nicht sein: Ruth Reinecke spielt die bankrotte Gutsherrin, die nach einer
gescheiterten Affäre mit ihrem Tross aus Paris auf das Gut in der
russischen Provinz zurückkehrt – die Schauspielerin gehört bereits seit
1978 zum Gorki-Ensemble: „Ich habe hier schon als Kind gespielt!“, flötet
sie also zweideutig, als sie die Bühne betritt. Firs, den alten Diener des
Guts, spielt der türkische Schauspieler und Regisseur Çetin Ipekkaya, der
in den 1980er Jahren das Kreuzberger Tyatrom geleitet hat.
Das bereits in den 1970er Jahren im damaligen Westberlin gegründete Theater
ist eine Art Urzelle des migrantischen Theaters in Deutschland gewesen,
wurde dann 1979 von Peter Stein ans Halleschen Ufer geholt und bespielte
später ein eigenes Haus in der Alten Jakobstraße. Das alles nun zu einem
neuen Ganzen zusammenzufügen ist der Plan des neu aufgestellten Maxim Gorki
Theaters, für das diese Inszenierung die programmatische Linie ausgab.
Und so ist dieser Tschechow auch nicht nach Anatolien verlegt worden, wie
das Eingangsbild kurz vermuten ließ. Sondern wir sind und bleiben im Maxim
Gorki Theater, das Spielfläche und Experimentierfeld dieser Zusammenführung
sein wird. Die graue Wand mit dem rautenförmigen Stuck, die den
Zuschauerraum einfasst, findet sich auch auf Magda Willis Bühne wieder.
Ganz am Ende wird Lopachin, der neue Hausherr (Taner Sahintürk), die Tapete
mit dem Rautenmuster abreißen.
## Eine neue Geselschaft erscheint
Immer neue Tapetenreste werden darunter zum Vorschein kommen – Reste von
denen, die früher hier waren. Am Ende kippt er die Wand um und eine neue
Gesellschaft erscheint dahinter und tanzt zu einem west-östlichen Musikmix
in eine offene Zukunft. Am Anfang des Abends steht zunächst ein Klavier vor
dieser Wand, an das sich die schwarz verschleierte Frau setzt und Chopin zu
spielen beginnt, übrigens auch Kind eines französischen Arbeitsmigranten in
Polen – und später selbst exiliert und heimatlos.
Heimat ist das große Thema dieses Abends: Was ist das überhaupt, Heimat,
Identität? Das spielt der Abend an den unterschiedlichsten inhaltlichen
Fronten durch. Das Tschechow-Stück ist nur eine davon. Auch die Geschichten
ganz anderer Figuren sind eingeflochten. Die der hinreißenden
Travestiekünstlerin Fatma Souad zum Beispiel. Oder die Biografie Çetin
Ipekkayas, der als politischer Flüchtling aus der Türkei nach Deutschland
kam. Zusammengeführt werden reale und Tschechows Theatergeschichten in der
Figur Lopachins, des einstigen Leibeigenen, der nun zum neuen Gutsherren
wird.
Taner Sahintürk legt in den ungelenken Charme , der er dieser Figur
verleiht, einmal auch die ganze Verbitterung der türkischen „Gastarbeiter“
und ihrer Nachkommen über die Missachtung, die ihnen hier zuteil geworden
ist. Die Kostüme (auch Magda Willi) stammen aus dem Fantasiefundus des
deutschen Heimatfilms, angeschrägt und ins Schrille zugespitzt: Die Frauen
haben Schwarzwaldbommeln auf dem Kopf, tragen weite Folkloreröcke und
luftige Blusen. Nur Birken, die geradezu paradigmatisch für das
Tschechow-Klischee auf deutschen Bühnen stehen, kommen nicht vor.
## Ein toter Gigant
Eine Birke gibt es erst am zweiten Eröffnungsabend: in Yael Ronens Adaption
des Romans von Olga Grjasnowa „Der Russe ist einer, der Birken liebt“, der
einerseits das russische Thema des Eröffnungsabends, aber auch das
Heimatthema weiterspinnt. Allerdings liegt diese Birke umgestürzt über der
ganzen Bühne, ein toter Gigant, der erst am Schluss von Stahlseilen in den
Bühnenhimmel gezogen wird. Identitätsbildung als theatralischer Kraftakt.
Die israelische Regisseurin Yael Ronen, die bisher an der Berliner
Schaubühne inszenierte, gehört nun als Hausregisseurin wie Erpulat ans
Maxim Gorki Theater.
Ihre Spezialität sind luzide Geschichts- und Identitätsbefragungen vor dem
Hintergrund der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Als solche liest sie auch
den Roman über eine junge Frau, die aus dem bürgerkriegsgeschüttelte
Aserbaidschan nach Deutschland kam – also weder Russin noch eine Deutsche
ist. Der Abend erzählt die Geschichte der jungen entwurzelten und
traumatisierten Mascha als Stationendrama. Der Schauspieler Dimitrij Schaad
fungiert mit Gitarre und großer musikalischer Begabung als Erzähler von der
Unmöglichkeit, irgendwo anders heimisch zu werden, als bei einem Menschen,
den man liebt.
Yael Ronen bevölkert den Abend mit falschen Russen und echten Deutschen,
Juden, Arabern und Christen – und würfelt die Gewissheiten und Klischees
immer wieder durcheinander. Und trotzdem überzeugten an diesem Abend im
Wesentlichen die Schauspieler – allen voran Dimitrij Schaad und Anastasia
Grubareva in der Rolle der Protagonistin Mascha.
## Zwei Intensiv-Liebestäter
Beiden Schauspielern kann man auch am dritten Abend des Eröffnungsmarathons
dieses Wochenendes wiederbegegnen: in Hakan Savas Micans Inszenierung von
Marianna Salzmanns neuem Stück „Schwimmen lernen“ schreiben sie auf eine
Art die Figuren des Ronen-Abends fort: zwei Intensiv-Liebestäter, die ihren
Meister suchen und in dieser Suche verlorengehen.
Hakan Savas Mican baut den Abend zu einem suggestiven Konzert aus Worten
und Tönen zusammen. Mit „Schwimmen lernen“ wird das Heimat- und
Identitätsthema auf die kleinste Einheit heruntergebrochen: die Liebe und
die (natürlich vergebliche) Sehnsucht jedes Einzelnen, in einem anderen
diese Heimat zu finden.
Denn jeder stirbt in seinem kleinen wie kleinlichen Ego-Universum für sich
allein. Erzählt wird in fragmentierten und rauchzart dahingeworfenen
Dialogen die Geschichte von Feli, die sich erst in einen Mann, in Pep,
verliebt und nach einer Woche Beziehung heiratet – um sich kurz darauf in
eine Frau, in Lil zu verlieben und mit Lil dann in das Land aufzubrechen,
aus dem sie gekommen ist.
## Musikalisches Kammerspiel
„Ein Lovesong“ hat Salzmann dieses musikalische Kammerspiel für drei
Personen überschrieben. Und Hakan Savas Mican hat es mit drei starken
Schauspielern, die mindestens so gut Musik machen können wie Theater
spielen, genau so uraufgeführt: als Liebeslied, von kalten, schroffen und
hässlichen Worten und kleinlichen Gefühlen durchzogen, die sich in
liebesgeweitete Herzen plötzlich wie Messer bohren.
Die Spielszenen zwischen der Musik (des Münchner Indie-Musikers Enik)
schrauben sich manchmal ins Übergroteske: wenn Anastasia Gubarova und
Dimitrij Schaad (als russisches Spießerpaar) zum Beispiel ihre Körper
ineinander winden, während sie die lesbische Lil nach technischen Details
ihrer Liebespraxis ausfragen. Oder wenn Anastasia Gubarova schnarrend Bob
Dylans „Just like a woman“ persifliert.
Die Schauspieler surfen zwischen den Sprachen Deutsch und Russisch,
zwischen dem gesungenen und gesprochenen Wort mühelos umher wie zwischen
den großen und kleinen Gefühlen, von denen dieser Abend handelt. Was für
ein Können!, denkt man immer wieder auch. Und freut sich auf das, was da
hoffentlich noch kommt.
18 Nov 2013
## AUTOREN
Esther Slevogt
## TAGS
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Homophobie
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