| # taz.de -- TAZ-SERIE ORTE DER MIGRATION (1): Außenklos im Wunderland Almanya | |
| > Kreuzberg 36 rund um die Naunynstraße war Anlaufstelle für viele | |
| > türkische Einwandererer der ersten Generation. Heute errinnert das | |
| > Ballhaus Naunynstraße an 50 Jahre Anwerbeverträge. | |
| Bild: Kreuzberg ist noch heute türkisch geprägt. | |
| "Ghettos in Deutschland. Eine Million Türken", titelt der Spiegel 1973, | |
| zwölf Jahre nach dem Abschluss des Anwerbevertrags für Arbeitskräfte | |
| zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei. Und der in Berlin | |
| lebende türkische Schriftsteller Aras Ören veröffentlicht mit dem Buch "Was | |
| will Niyazi in der Naunynstraße?" den ersten Teil seiner Berlin-Trilogie. | |
| Was für den Spiegel eine Bedrohung darstellt, liefert dem damals | |
| 34-jährigen Ören Stoff für seine Texte. "Poeme" nennt er sie: "Ein | |
| verrückter Wind eines Tages / wirbelte den Schnurrbart eines Türken / und | |
| der Türke rannte hinter seinen Schnurrbart / her und fand sich in der | |
| Naunynstraße". | |
| Aras Ören, 1939 in Istanbul geboren, lebte seit 1969 in Berlin - als | |
| Schriftsteller und Schauspieler, gelegentlich als Fabrikarbeiter, später | |
| als Mitgründer und Leiter der türkischsprachigen Radiosendungen des Senders | |
| Freies Berlin (SFB). | |
| Die Lebenssituation der nach Deutschland gekommenen türkischen | |
| Arbeitskräfte faszinierte Ören von Beginn an: "Sie waren existent und | |
| gleichzeitig nicht vorhanden", schreibt er heute rückblickend in einem Text | |
| für das Theater im Ballhaus Naunynstraße. "Sie existierten überall, in den | |
| Straßen und U-Bahnhöfen, in den Discount-Märkten, in Bahnhöfen, an | |
| Fließbändern, in den Fabriken, in den Tiefen der Zechen, in armen Vierteln, | |
| den abrissreifen Altbauten, in nassen Hinterhöfen, mit ihren Tiroler Hüten, | |
| den Billiganzügen, bunten Krawatten und den riesigen batteriebetriebenen | |
| Radiorekordern in den Händen. Dennoch waren sie nicht vorhanden: Ihre | |
| unterschiedlichen Identitäten, ihre persönlichen Schicksale wurden nicht | |
| anerkannt. Sie waren eine fremde Masse, keine Individuen." | |
| Örens Trilogie über das Leben der aus der Türkei eingewanderten | |
| Neuberliner, die der Wind nach Kreuzberg gewirbelt hat, gilt bis heute als | |
| Beginn der "Gastarbeiterliteratur". Die Wahrnehmung und Beschreibung des | |
| Alltags der Fremden, die mit den Anwerbeverträgen nach Deutschland gekommen | |
| waren, war neu im deutschen Literaturbetrieb der Siebziger. Und erst recht | |
| die Sichtweise des selbst türkeistämmigen Literaten: "Ein türkischer | |
| Metzger in Kreuzberg ist kein Metzger in der Türkei", schrieb Ören schon | |
| damals: "Er ist ein türkischer Kreuzberger Metzger." | |
| Dass Ören sein Poem in Kreuzberg ansiedelte, war kein Zufall. Viele | |
| türkische Einwanderer hatten sich damals hier niedergelassen, als sie ihre | |
| ersten Wohnstätten, die Gastarbeiterheime, verlassen und eigene Wohnungen | |
| beziehen durften. Wohnraum war infolge der Zerstörungen des Zweiten | |
| Weltkriegs immer noch knapp in Berlin, doch in die zerfallenden Altbauten | |
| des heruntergekommenen Westberliner Randbezirks mochten deutsche Mieter | |
| nicht mehr ziehen. | |
| Auch viele Menschen aus der Türkei waren entsetzt über die Zustände im | |
| Wunderland Almanya. Kreuzberg, das waren damals Außenklos, Ofenheizungen | |
| und Häuser, die mehr als sanierungsbedürftig waren - gewiss kein heimeliger | |
| Ort, aber ein Abenteuerspielplatz für die Kinder der GastarbeiterInnen, die | |
| den ganzen Tag auf der Straße verbrachten, während die Eltern in die | |
| Fabriken gingen. | |
| Die meisten Kreuzberger TürkInnen wohnten rund um das Kottbusser Tor, in | |
| Kreuzberg 36. Günstige Mieten und der Plan, nur zwei oder drei Jahre in | |
| Deutschland zu bleiben, reichten, um die eigentlich unzumutbaren Zustände | |
| hinzunehmen. Die damalige Politik und die Stadtplaner drückten beide Augen | |
| zu. Sie wollten, nachdem die Gastarbeiter in ihre Heimat zurückgekehrt | |
| wären, den Bezirk, der von drei Seiten durch die Mauer eingeschlossen war, | |
| zu einem Vorzeigestück des Westens machen. Moderne Neubauten und eine | |
| Autobahn quer durch Kreuzberg sollte es nach dem Willen der Planer geben. | |
| Das Neue Kreuzberger Zentrum (NKZ) mit dem Brückenhaus über die | |
| Adalbertstraße ist heute eines der Zeugnisse der aberwitzigen | |
| architektonischen Entwürfe der Siebzigerjahre. Auch die Naunynstraße sollte | |
| den Plänen zum Opfer fallen. | |
| Der Plan mit der Autobahn wurde bald verworfen, die einstigen Gastarbeiter | |
| blieben, die noch halbwegs sanierbaren Häuser aus der Jahrhundertwende | |
| wurden in den Achtzigern instandgesetzt. Wer heute durch die Gegend um die | |
| Naunynstraße flaniert, sieht modernisierte Altbauten neben | |
| Sozialwohnungs-Neubauten, Spielplätze, begrünte Höfe und in den Läden den | |
| typischen Kreuzberger Mix: hippe Kneipen und Boutiquen neben türkischen | |
| Männercafés und Backshops sowie einen "Süpermarket", der "die Kontinente | |
| verbindet", so die Eigenwerbung. Und natürlich das Theater im Ballhaus | |
| Naunynstraße. | |
| Franz Naunyn, Namensgeber der Straße, wäre bestimmt gern hier flaniert. Der | |
| Jurist und spätere Oberbürgermeister von Berlin, aus ärmlichen | |
| Verhältnissen stammend, galt während der Märzrevolution 1848 als Sprecher | |
| des Volksaufstandes. Er überzeugte den König von Preußen, das Militär nicht | |
| gegen das Volk zu hetzen. Unter seiner Führung unternahm der Berliner | |
| Magistrat große Anstrengungen, den vielen Arbeitslosen | |
| Beschäftigungsmöglichkeiten zu verschaffen - etwa beim Bau des heute | |
| zugeschütteten und nur noch als Teilstück in Gestalt des Engelbeckens | |
| erhaltenen Luisenstädtischen Kanals. | |
| Dass mit dem Ballhaus heute das wichtigste "postmigrantische" Theater | |
| Deutschlands in der Naunynstraße angesiedelt ist, mag Zufall sein. Doch für | |
| Shermin Langhoff, Intendantin des Ballhauses, steht es auch noch 50 Jahre | |
| nach dem Abschluss der Anwerbeverträge am richtigen Ort. "Für mich ist die | |
| Naunynstraße ein Stück Kulturgeschichte", sagt Langhoff. Tatsächlich gehört | |
| das Haus zu den Orten, anhand derer dies tatsächlich erfahrbar ist. Etwa, | |
| dass die Geschichte von Fremden in Berlin, in Kreuzberg, nicht erst mit den | |
| türkischen GastarbeiterInnen begann. | |
| Ende des 19. Jahrhunderts eröffnet, wurde die Vergnügungsstätte im Zweiten | |
| Weltkrieg als Arbeitslager für italienische Zwangsarbeiter zweckentfremdet. | |
| Ende der 70er-Jahre wurde das denkmalgeschützte Gebäude restauriert. Etwas | |
| später, 1983, erschien das Ballhaus dank Förderung des Kultursenators | |
| wieder in neuem Gewand: Es wurde im bunten Bezirk Kreuzberg zu einem | |
| Marktplatz für alternative Kultur und zum Zufluchtsort für viele kleine | |
| Projekte. | |
| Martin Düspohl, Leiter des Bezirksmuseums Friedrichshain-Kreuzberg, | |
| erinnert sich gern an seine Zeit als Leiter dieser linksalternativen | |
| Kultur-und Begegnungsstätte zurück. "Plötzlich probte in einem Raum eine | |
| albanische Band, keiner wusste, wo die eigentlich herkam", erzählt er. "So | |
| kamen und gingen viele und unterstützten sich gegenseitig. Nicht nur | |
| künstlerisch", erinnert er sich. | |
| Heute hat sich das Ballhaus weit über die Grenzen Deutschlands hinaus einen | |
| Ruf mit seinen postmigrantischen Stücken gemacht, die oft von | |
| LaiendarstellerInnen aus Einwandererfamilien gespielt werden. Es ist ein | |
| Ort der Erinnerung geworden, ein Ort der migrantischen Vergangenheit nicht | |
| nur Kreuzbergs. Das den ganzen September andauernde Festival "Almanci - 50 | |
| Jahre Scheinehe" zum 50. Jahrestag des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens | |
| eröffnete das Theater mit Aras Örens als Oper inszeniertem Text "Was will | |
| Niyazi in der Naunynstraße?" Ist die "Gastarbeiterkultur" etwa in der | |
| Naunynstraße steckengeblieben? "Nein", sagt Ballhaus-Intendantin Langhoff | |
| und zitiert Aras Ören: "Die Naunynstraße ohne Türken wäre zwar noch die | |
| Naunynstraße, aber an ihren alten Tagen ohne neuen Anfang." | |
| 7 Sep 2011 | |
| ## AUTOREN | |
| Ebru Tasdemir | |
| Canset Icpinar | |
| ## TAGS | |
| Türkisch | |
| Literatur | |
| Maxim Gorki Theater | |
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