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# taz.de -- Deutsch-türkisches Anwerbeabkommen: Sie sind stolz, Almanci zu sein
> Deutschtürken haben Deutschland und die Türkei zum Besseren verändert.
> Trotzdem ecken sie in beiden Ländern bis heute oft noch an.
Bild: Integrierte Grenzgänger: Junge Türken in Berlin-Kreuzberg 1984.
BERLIN taz | So richtige Feierstimmung ist nicht aufgekommen zum 50.
Jahrestag des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens. Dafür sind wohl einfach
zu viele Deutsche der Meinung von Helmut Schmidt, der mal befand, dass es
ein Fehler gewesen sei, einst so viele Türken ins Land geholt zu haben.
Aber auch in der Türkei ist man nicht so richtig stolz auf die Auswanderer
und deren Nachkommen. Viele dort empfinden die Deutschtürken als eine
peinliche Verwandtschaft, die irgendwie aus der Art geschlagen ist.
Mögen viele Deutsche die Deutschtürken noch immer als "zu Türkisch"
empfinden und mit Klischees von Ehrenmorden und Zwangsehen und
"Kümmeldeutsch" verbinden - in der Türkei gelten sie Konservativen und
Nationalisten als viel zu verdeutscht. Hier werden sie als "Kanaken" und
"Kopftuchmädchen" beschimpft, dort als "Almanci" belächelt. Die Verbindung
von "Alman" und "Yabanci", Deutscher und Ausländer, zu "Deutschländer" ist
meist eher abfällig gemeint.
Dabei haben die Deutschtürken beide Länder, Deutschland und die Türkei, zum
Besseren verändert und zur Modernisierung beider Gesellschaften
beigetragen. Es wäre Zeit, das angemessen zu würdigen. Mit ihrer
Arbeitskraft hat die erste Generation der türkischen "Gastarbeiter" zum
Wirtschaftsaufschwung in Deutschland und zum sozialen Aufstieg der
Eingeborenen beigetragen, in dem sie jene Arbeiten übernahm, welche diese
nicht mehr machen wollten.
Sie haben die Deutschen, die das Fremde sonst gern tunlichst auf Distanz
halten und bestenfalls im Urlaub durch die Kameralinse betrachten, allein
durch ihre Gegenwart dazu genötigt, sich im Alltag an Vielfalt zu gewöhnen.
Ohne es zu wollen, haben sie damit mehr Weltläufigkeit in die miefige,
spießige Bundesrepublik von einst gebracht, nach der sich niemand
zurücksehnen kann, der noch ganz bei Trost ist.
Den größten Einfluss hat diese Einwanderung zweifellos auf die deutsche
Esskultur gehabt. Als immer mehr Türken aufgrund der Wirtschaftskrise in
den Siebzigerjahren arbeitslos wurden, eröffneten viele einen Imbiss. Zwar
hat die Kombination von Fladenbrot und Grillfleisch in der Türkei eine
lange Tradition. Doch mit Salat und Soße, wie man ihn hierzulande kennt,
ist er eine deutsche Erfindung. Es wäre an der Zeit, seinem Erfinder ein
Denkmal zu bauen.
## Die Mediterranisierung des Alltags vorangetrieben
Mit der zweiten Generation ist in Deutschland zudem eine ganz eigene,
deutschtürkische Kultur entstanden - mit eigenen Codes, eigener Musik,
einer eigenen Literatur, eigenem Theater, eigenem Film, eigener Mode und
eigenem Humor. Die Wurzeln dieser Entwicklung gehen in jene Zeit zurück,
als auf deutschen Straßen und in deutschen Jugendzentren der türkische
HipHop geboren wurde.
Pioniere wie Islamic Force und Cartel begannen in den frühen
Neunzigerjahren damit, Raptexte in türkischer Sprache zu ihren Beats zu
reimen. Sie legten damit den Grundstein für das Genre, das erst mit etwas
Verzögerung auch in der Türkei Früchte tragen sollte. Heute pilgert deshalb
der größte Rapstar der Türkei, Ceza, andächtig nach Berlin, um den Wurzeln
der Bewegung nachzuspüren.
Andere Besucher aus der Türkei sind dagegen oft geschockt, wenn sie der
deutschtürkischen Kultur begegnen. Sie staunen, wenn in türkischen
Diskotheken plötzlich, zu später Stunde, zum technoid aufgemotzten
Halay-Volkstanz im Kreis getanzt wird. Sie rümpfen die Nase, wenn aus dem
heruntergelassenen Autofenstern eines 3er BMWs laut anatolische
Arabeskmusik ertönt. Manche Deutschtürken können ihre bäuerlichen Wurzeln
nicht ganz verleugnen.
Doch sie haben dieses Land bereichert, indem sie die Mediterranisierung des
Alltags vorangetrieben haben. Eine Vielzahl deutschtürkischer Comedians wie
Bülent Ceylan oder Kaya Yanar schlägt heute aus der interkulturellen
Verwirrung Kapital. Und türkische Friseure sowie Enthaarungssalons prägen
heute das Aussehen der Großstadtjugend.
Sie haben auch mit dazu beigetragen, dass gezupfte Augenbrauen und rasierte
Beine heute in Deutschland eine Selbstverständlichkeit sind - zweifellos
ein wichtiger Beitrag zur ästhetischen Modernisierung der Republik.
Der enorme soziale Wandel, der Aufstieg von einfachen Gastarbeiterkindern
zu Unternehmern, Künstlern und Wissenschaftlern vollzog sich in den
Neunzigerjahren fast unbeachtet von einer breiten deutschen Öffentlichkeit.
Es ist keine Frage, dass dieser Werdegang mit viel Schmerzen, Scheitern und
Wut verbunden war. Doch diese Schmerzen, dieses Scheitern und diese Wut
haben große Kunst hervorgebracht.
Der Schriftsteller Feridun Zaimoglu brachte sich mit seinem Manifest "Kanak
Sprak" in den Neunzigerjahren als literarisches "Sprachrohr" seiner
Generation in Stellung. Heute ist er eine Art Elder Statesman all jener
Autorinnen und Autoren, die sich längst nicht mehr auf Migrationsthemen
beschränken und genauso gut über gärtnernde Nonnen oder das Landleben in
der Lüneburger Heide schreiben.
Doch für sie alle gilt, was der Regisseur Fatih Akin nach seinem Durchbruch
mit seinem Film "Gegen die Wand" fest stellte: "Wenn du Erfolg hast, dann
wirst du in Deutschland als Deutscher und in der Türkei als Türke
wahrgenommen. Wenn nicht, dann ist es umgekehrt".
## Pioniere eines kulturellen Wandels
Ein Zentrum der deutschtürkischen Kulturszene liegt im Berliner Bezirk
Kreuzberg, wo im Ballhaus Naunynstraße das erste "postmigrantische Theater"
der Republik residiert. Dort hat man das türkische Schimpfwort "Almanci" in
ein stolzes Aushängeschild verwandelt, unter dem man inzwischen sogar in
Istanbul Gastspiele gibt.
Denn nicht nur in Deutschland, auch in der Türkei sind die Deutschtürken
oft angeeckt. Dort beherrschen sie die Formeln der orientalischen
Höflichkeit oft nicht so gut, auch mit den ungeschriebenen Regeln und
Hierarchien tun sie sich schwer. Autoritäten anzuzweifeln, das haben sie
schließlich in Deutschland gelernt.
Dabei kann die Türkei von Glück sprechen, dass sie ihre Arbeiter nach
Deutschland schicken konnte. Bis heute profitiert das Land von seiner engen
Bindung an diese Diaspora und von der Erfahrung der Rückkehrer, die ihr
Know-how in den Tourismus und viele andere Branchen eingebracht haben. Das
hat die Europäisierung des Landes von unten befördert - als Ergänzung zu
der Europäisierung von oben, die oft eher äußerlich und oberflächlich war.
So wurden die Deutschtürken zu Pionieren eines kulturellen Wandels, der
sich auch in der Türkei an der Jugendkultur ablesen lässt. Zum Beispiel an
der Karriere des Sängers Tarkan: Als der, im rheinhessischen Alzey geboren,
mit 14 Jahren mit seinen Eltern in deren Heimat "zurückkehrte", hatte er es
in der neuen Umgebung anfangs schwer.
Mit seinem eigenwilligen Stil, seiner Unangepasstheit, seinem Hüftschwung,
seinem metrosexuellen Look und seiner unverblümten Art, über Liebesdinge zu
singen, sollte er jedoch in den Neunzigerjahren zu einem der größten
Popstars des Landes aufsteigen, zum Trendsetter und Teenageridol. Viele
andere deutschtürkische Sänger und Musiker folgten in seinen Fußstapfen und
fanden am Bosporus Ruhm und Auskommen.
Dieser kulturelle Wandel, bei dem die Deutschtürken vorangingen, zeigt sich
aber auch noch an einem anderen Detail. Mitte der Neunzigerjahre, als Cem
Özdemir noch ganz am Anfang seiner Politikerlaufbahn stand, gab sich die
türkische Zeitung Hürriyet noch schwer davon irritiert, dass der
aufstrebende Grünen-Politiker einen Ohrring trug.
Doch nun eilt sogar dem neuen Botschafter der Türkei in Deutschland,
Hüseyin Avni Karslioglu, der demnächst seinen Dienst in Berlin antreten
soll, der Ruf voraus, er trage zu seiner wallenden blonden Mähne einen
Ohrstecker. So ändern sich die Zeiten.
2 Nov 2011
## AUTOREN
Daniel Bax
Daniel Bax
## TAGS
HipHop
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