# taz.de -- taz-Serie Orte der Migration: Markt der Sehnsüchte | |
> Seit den 70er Jahren dominieren türkeistämmige Händler den "Türkenmarkt" | |
> am Maybachufer. Ihre Kunden sind meist Kinder und Enkel der ersten | |
> Einwanderergeneration | |
Bild: Besucherinnen des Marktes am Maybachufer beim Stöbern | |
"Du mich wiegen Tomate?" Wenn Nuran Usta solche Sprüche von ihren KundInnen | |
hört, bleibt sie gelassen: "Sie können ganz normal mit mir reden, ich kann | |
Deutsch", lautet dann ihre Antwort. Doch immer häufiger, erzählt die | |
43-Jährige, werde sie von Kunden in Debatten zum Thema Integration | |
verwickelt oder müsse sich gar abfällige Äußerungen über ihre Arbeit als | |
Obst- und Gemüsehändlerin anhören. | |
Usta ist eine der dienstältesten HändlerInnen auf dem Markt am Neuköllner | |
Maybachufer, schon seit 1980 verkauft sie hier. "Früher haben die Leute | |
sich so einen Umgangston mit uns Händlern nicht getraut", sagt sie. Darüber | |
kann sie sich genauso aufregen wie über die "Erlebnis-Shopper", die sich an | |
den Probiertellern der HändlerInnen satt essen, ohne etwas zu kaufen. | |
Manchmal verstecke sie ihren Teller vor denen, erzählt die Händlerin und | |
lacht. | |
Als Oberschülerin half Usta ihrem Bruder am Stand auf dem Maybachufermarkt. | |
Längst hat sie selbst zwei Kinder: "Die sollen mir nicht hier helfen, | |
sondern sich auf die Schule konzentrieren", sagt sie und erzählt von ihrer | |
Tochter, die gerade ihr Wirtschaftsstudium abschließt, und ihrem Sohn, dem | |
Abiturienten. Statt der Kinder helfen ihr Cousin samt Frau. Der Stand ist | |
ein Familienbetrieb wie viele hier. | |
1881 wurde der Markt gegründet - mit 50 Ständen. In den 1930er Jahren boten | |
bis zu 700 Händler ihre Waren an. In den 60er Jahren musste er ums | |
Überleben kämpfen - generell galten Märkte damals wegen der neuen | |
Einkaufszentren und Warenhäuser als überholt. Die Geschäfte boten mehr | |
Vielfalt, waren bei Wind und Wetter bequemer und hatten den Ruf, | |
hygienischer zu sein. Die Bezirksverwaltungen wollten die Märkte schließen. | |
Doch die Händler am Maybachufer setzten sich zur Wehr und erhielten ihre | |
Arbeitsplätze. Heute ist der Markt mit rund 150 Händlern jeden Dienstag und | |
Freitag trotz der Konkurrenz der vielen türkischen Supermärkte und | |
Discounter in der Umgebung aus dem Kiez kaum mehr wegzudenken. Und: Er | |
steht in fast jedem Berliner Stadtführer. | |
Sein Beiname "Türkenmarkt" etablierte sich Ende der 60er Jahre. Denn die | |
Rettung des Marktes ist nicht zuletzt den sogenannten Gastarbeitern der | |
ersten Generation zu verdanken, die damals in den Supermärkten nicht die | |
gesuchten Waren aus ihrer Heimat bekamen und deshalb verstärkt auf dem | |
Markt einkauften. Seit den 1970er Jahren dominieren türkeistämmige Händler | |
den Wochenmarkt. Dabei wurden sie anfangs oft als Verkäufer von deutschen | |
Händlern beschäftigt. Gastarbeitern und Ausländern war die selbstständige | |
Tätigkeit früher untersagt, wenn sie keinen unbefristeten Aufenthaltsstatus | |
besaßen. | |
Während damals die Kundschaft tatsächlich überwiegend aus Einwanderern und | |
ihren Familien bestand, peilt die Marktverwaltung inzwischen ein breiteres | |
Publikum an. Der neue Name des Marktes, "BiOriental", soll das | |
multikulturelle Treiben Kreuzköllns widerspiegeln, erklärt Marktleiter | |
Rainer Perske. Inzwischen gibt es neben dem traditionell türkischen und | |
arabischen Angebot von Obst, Gemüse und Textilien auch afrikanische | |
Speisen, Schmuck, Bioprodukte aus Brandenburg und esoterischen Nippes. | |
Dabei gehe es nicht darum, den Markt komplett zu verändern. Das | |
"ursprüngliche Flair" will Perske beibehalten, aber das Angebot "qualitativ | |
erweitern". | |
Tatsächlich hat sich die Kundschaft des Marktes in den vergangenen Jahren | |
verändert. Immer mehr gut verdienende Menschen ziehen in den Kiez um den | |
Markt herum und fühlen sich auch von dessen Angebot angezogen. Die | |
türkischen Händler bemerken die Veränderungen. Heute kauften längst nicht | |
mehr so viele Kunden gleich kisten- und tütenweise ein, berichten sie - | |
auch weil die Familien der türkischen Einwanderer kleiner sind als früher. | |
Doch trotz aller Veränderungen seien seine Stammkunden überwiegend | |
türkeistämmig, sagt der Händler Fuat Atik, der ebenfalls zu den | |
Dienstältesten auf dem Markt gehört: "Es sind die, die bereits als Kinder | |
mit ihren Eltern auf den Markt gekommen sind." | |
Ganz nebenbei ist der Markt auch zu einem beliebten Tummelplatz für | |
JournalistInnen geworden. Sobald es in der öffentlichen Debatte mal wieder | |
um Migration und Integration geht, schlagen hier Medien jeglicher Couleur | |
auf. Und ob deutsch-türkisches Fußballspiel oder aktuelle politische | |
Entscheidungen zum Thema Migration: Die ausgesprochen kommunikativen | |
Händler haben eigentlich gerne zu jedem Thema eine Meinung. Als jedoch im | |
August eine türkeistämmige ZDF-Journalistin mit dem Ex-Finanzsenator und | |
Autor des Bestsellers "Deutschland schafft sich ab", Thilo Sarrazin (SPD), | |
den Markt besuchte, ging das manchen zu weit. | |
"Aus politische Gründen Fotografieren verboten", steht seither auf dem | |
Schild, das an Fuat Atiks Trockenfrüchtestand hängt. "Ohne Erlaubnis haben | |
sie meinen Sohn gefilmt, wie er einer Kundin auf Türkisch etwas erklärt. | |
Und später heißt es dann: ,Sehen Sie, die können hier alle kein Deutsch.' | |
Dabei spricht mein Sohn fließend Deutsch und Englisch." Viele Händler | |
reagieren nun verärgert auf die Presse. | |
Der gläubige Atik mit dem flachen Turban sieht das gelassener, er lässt | |
sich nicht von seinen gewohnten Ritualen abbringen. Bevor er am Dienstag- | |
und Freitagmorgen seinen Stand aufbaut, begrüßt er erst einmal seinen | |
Lieblingsbaum. "Das ist meine Meditation", lächelt er. | |
Seit 20 Jahren verkauft Atik auf dem Markt am Maybachufer, mindestens zehn | |
Stunden steht er dann hier. Auch er übernahm wie viele Händler das Geschäft | |
von seinem Vater und verkauft nun zusammen mit seiner Frau und seinem | |
ältesten Sohn Produkte aus der Türkei. Erst vor kurzem transportierte er | |
150 Liter Maulbeerensirup mit dem eigenen Auto von der Schwarzmeerküste | |
nach Berlin. | |
Der gelernte Käsemeister Harun Kalyoncu hat ebenfalls mehr als zwei | |
Jahrzehnte auf dem Markt zugebracht. Familie Kalyoncu wohnt inzwischen auch | |
hier am Maybachufer. Trotz der Eigentumswohnung möchte seine Frau in | |
absehbarer Zukunft lieber in die Türkei auswandern. "Unsere Kinder leben | |
dort, ich will bei ihnen sein", sagt Meryem Kalyoncu, während sie einer | |
Kundin den Kasar-Käse reicht. | |
Ihr Ehemann ist von der Idee noch nicht überzeugt. Was würde dann mit | |
seiner Käsebude passieren, fragt er sich. So richtig ans Aufgeben denkt er | |
nicht - dafür hat er noch viel zu viele Ideen. Als einer der Ersten begann | |
Kalyoncu damit, seine Waren an die sich verändernde Kundschaft anzupassen. | |
"Die verschiedenen Pasten aus Weißkäse kaufen eher deutsche Kunden", | |
erklärt er. Türken bevorzugten die klassischen Käseprodukte. Für diese hat | |
Kalyoncu auch etwas kreiert: fingerlange Käsefäden, gemischt mit bröseligem | |
Weißkäse. Neben Milchprodukten bietet er noch Oliven, Sucuk | |
(Knoblauchwurst) und Honig an. Ein harmonisches Durcheinander, fast wie der | |
Markt und seine Menschen. Aber nur fast. | |
30 Nov 2011 | |
## AUTOREN | |
Ebru Tasdemir | |
Canset Icpinar | |
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