| # taz.de -- Aras Ören zum 80. Geburtstag: Barde der Großstadt | |
| > Seine Poeme waren die ersten großen Texte über das türkische Leben in der | |
| > Stadt. Zum 80. von Aras Ören wird seine „Berliner Trilogie“ neu | |
| > aufgelegt. | |
| Bild: Irritiert spielerisch das Verständnis von deutscher Literatur: Aras Ören | |
| In der Vorrede zu seiner neu aufgelegten „Berliner Trilogie“ widmet Aras | |
| Ören seine Verse der ersten und zweiten Generation von Menschen, die nach | |
| dem deutsch-türkischen Anwerbeabkommen 1961 aus der Türkei nach Deutschland | |
| auswanderten. Jenen Menschen also, die aus den ländlichen Regionen | |
| Anatoliens und aus den Randbezirken der Großstädte aufbrachen, um eine | |
| Arbeit in Fabriken zu verrichten, die sie nie gelernt hatten. Einen | |
| Großteil ihres Lohns schickten sie zurück an die Familie, ihren | |
| Trennungsschmerz und die Schikane in der Fremde erwähnten sie in den | |
| beigelegten Briefen selten. Ören schreibt: „Sie änderten sich selbst und | |
| Europa. Sie förderten – ohne es zu wissen – einen neuen europäischen | |
| Humanismus.“ Deren Töchtern und Söhnen sollen diese Gedichte helfen, denn | |
| „auch in der Gegenwart schwingt die Vergangenheit stets mit“. | |
| Die Geschichten derjenigen, die nie eingeladen waren, zu bleiben, sind | |
| ebenso flüchtig wie sie selbst. Im Geschichtsunterricht spielen die | |
| Biografien, Lieben, Verwerfungen, die Nöte und die Lebensweisen dieser | |
| Menschen kaum eine Rolle. Dass sie bereits wenige Jahre nach der Gründung | |
| der Bundesrepublik gekommen waren und das Land mit aufgebaut hatten, machen | |
| sich auch heute noch nur wenige bewusst. Viele dieser Arbeiterinnen und | |
| Arbeiter brachten die anatolische Tradition der Barden mit nach | |
| Deutschland. Sie dichteten in den vielbettigen Zimmern ihrer Wohnheime, | |
| publizierten ihre Verse in Selbstverlagen. Von all dem ist nur wenig übrig. | |
| Aras Ören kam als Barde der Großstadt. 1939 in Istanbul geboren, zog er | |
| 1969 nach Deutschland und schrieb bereits 1973 sein Langpoem über eine der | |
| ältesten Migrationsstraßen Deutschlands – „Was will Niyazi in der | |
| Naunynstraße?“: „Ein verrückter Wind eines Tages / wirbelte den Schnurrba… | |
| eines Türken / und der Türke rannte hinter seinem Schnurrbart / her und | |
| fand sich in der Naunynstraße.“ Der Verbrecher Verlag hat es nun neu | |
| aufgelegt. | |
| Im Jahr 2009 war es der Dramaturg Tunçay Kulaoğlu, der über Aras Örens Poem | |
| einen Anschluss an die brüchige Vergangenheit jener Menschen finden wollte, | |
| die unmerklich und ungeplant das Fundament für das Einwanderungsland | |
| Deutschland geschaffen hatten. Eine Wertschätzung, die die zweite | |
| Generation der ersten zollt und so Zugang zu den eigenen verlorenen – auch | |
| verdrängten – Geschichten sucht. Vom eben unter dem Label „junges | |
| postmigrantisches Theater“ wiedereröffneten Ballhaus Naunynstraße | |
| brachten Künstler das Poem performativ auf die Straßen Kreuzbergs. Dank | |
| dieser kuratorischen Intervention stellte sich mithilfe der Verse von Aras | |
| Ören eine Verbindung zur Vergangenheit her, die nicht nur in die Gegenwart, | |
| sondern auch in die Zukunft ragte. In gewisser Weise also das, was man | |
| „künstlerische Tradition“ nennen kann: ein Kontinuum, das von den ersten | |
| Arbeiterinnen aus Italien, der Türkei und Griechenland, damals | |
| „Gastarbeiter“, über die Jugendkultur der 80er und 90er Jahre in Kreuzberg | |
| und andernorts, zu dem postmigrantischen Projekt des Ballhauses der späten | |
| Nullerjahre reichte, welches letztlich die gesamte deutsche Theater- und | |
| sogar Kulturlandschaft nachhaltig verändert hat. Was vom offiziellen | |
| politischen Gedenken sowie vom künstlerischen Kanon bis dahin | |
| ausgeschlossen war, lebte vom Rand her auf und veränderte von dort aus | |
| Kunst und Gesellschaft. | |
| Indem der Verbrecher Verlag dieses Vermächtnis nun annimmt, legt er ein | |
| großes verlegerisches Verantwortungsbewusstsein an den Tag. Eine in erster | |
| Linie literarische Verantwortung – das Politische ist lediglich eine Folge. | |
| Aras Örens Kunst irritiert nämlich spielerisch das Verständnis von | |
| deutscher Literatur. Zunächst ist er ein türkischsprachiger Autor, der auch | |
| seine „Berliner Trilogie“ auf Türkisch verfasst hat. Und doch hat er seine | |
| Bücher für Menschen in Deutschland geschrieben. Veröffentlicht wurden die | |
| Texte zuerst in ihrer deutschen Übersetzung – damals im Rotbuch Verlag. Das | |
| türkische Original wurde lediglich nachgereicht – aber was bedeutet „das | |
| Original“, wenn die Texte auf Türkisch fürs Deutsche verfasst wurden und | |
| der Autor an der Übersetzung mitgewirkt und weiter am Text gearbeitet hat? | |
| Spätestens seit dem Schaffen von Aras Ören und den wenigen anderen, die in | |
| den frühen 70er Jahren so verfahren sind wie er, muss deutsche Literatur | |
| nicht zwangsläufig deutschsprachig sein. Es bleiben aber noch viele weitere | |
| literarischen Anknüpfungspunkte, die Ören vor fast einem halben Jahrhundert | |
| mit seiner Erfindung des kommunistischen Arbeiters Niyazi aus der | |
| Naunynstraße ermöglicht. Inspiriert von Nazim Hikmet hat er mit der Form | |
| des Versepos das Leben der kleinen Leute in einem scheinbar ganz | |
| gewöhnlichen Arbeiterviertel in Deutschland poetisch eingefangen. | |
| In einer Zeit, in der sich Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs | |
| erst allmählich wieder für eine Vielfalt öffnete, für die es noch keine | |
| Worte kannte, hatte er eine literarische Form anzubieten. Mit dieser fand | |
| er eine Sprache für ein offenes Deutschland. | |
| 1 Dec 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Deniz Utlu | |
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