# taz.de -- Schwules Begehren im Spielfilm „Queer“: Last und Lohn des Verla… | |
> Luca Guadagninos „Queer“ erkundet das Begehren als eine Kraft, die sowohl | |
> antreibt als auch zerstört. Daniel Craig besticht darin als schwuler | |
> Dandy. | |
Bild: Der eine verlangt, der andere nicht: William Lee (Daniel Craig) und Eugen… | |
Seit geraumer Zeit sind Luca Guadagninos Filme eine Verneigung vor dem | |
Verlangen. Sie würdigen das Wollen als ein großes Geschenk, das zum Wagen | |
antreibt. Etwas zu wagen, bedeutet in Bewegung zu bleiben, sich die Neugier | |
zu bewahren und sich in Neues zu stürzen. Mit anderen Worten: Verlangen | |
heißt lebendig sein. | |
Weil die Werke des italienischen Regisseurs diese Wahrheit atmen, und damit | |
letztlich eine Zelebrierung des Am-Leben-Seins und Am-Leben-bleiben-Wollens | |
sind, tragen sie stets einen humanistischen Kern in sich – so | |
unwahrscheinlich das angesichts so manch grenzüberschreitender Elemente | |
seiner Filme auf den ersten Blick auch scheinen mag. | |
Während sich Guadagnino in [1][„Call Me by Your Name“], durch den er 2017 | |
eine größere Bekanntheit erlangte, dem Sehnen des jungen Elio nach einem | |
deutlich älteren Mann widmete, verwebte [2][„Bones and All“] den monströs… | |
Appetit zweier junger Kannibalen mit dem humanen Hunger nach Verbundenheit. | |
Erst im gerade vergangenen Jahr überraschte der Filmemacher in | |
[3][„Challengers“] wiederum mit einer erstaunlich leichtherzigen Annäherung | |
an sein angestammtes Thema, die existenzielle Bedeutung des Verlangens. Das | |
Sportliebesdrama spielte die Regeln des Wagens und Wollens im gutgelaunten | |
Kontext eines Liebesdreiecks zwischen gutaussehenden Tennisprofis durch. | |
## Nach dem Roman von William S. Burroughs | |
Vor dem Hintergrund dieses dem Sehnen so wohlgesinnten Schaffens wirkt es | |
wie ein Widerspruch, dass Guadagnino sich mit seinem neuen Film nun des | |
lakonischen Romans „Queer“ von William S. Burroughs annimmt. Der | |
Schriftsteller, der als einer der wichtigsten Vertreter der Beat Generation | |
gilt, erzählt darin immerhin von den quälenden Schattenseiten des | |
Begehrens: der vergeblichen Suche eines Dandys mittleren Alters nach | |
menschlicher Verbindung. | |
Burroughs’ stark autobiografisch geformtes Alter Ego, William Lee, streift | |
in Mexiko-Stadt der frühen Fünfziger durch die schwule Community | |
US-amerikanischer Auswanderer. Er treibt sich in Bars herum, gibt | |
extravagante Anekdoten zum Besten und betäubt sich mit Mezcal und Tequila | |
oder, an glücklicheren Tagen, mit schnellem Sex. | |
Erst die Bekanntschaft mit einem jüngeren ehemaligen US-Soldaten erweckt in | |
ihm erneut die Hoffnung auf tatsächliche Nähe: Eugene Allerton ist überaus | |
attraktiv, zeigt ein gewisses Interesse am älteren Lee – oder lässt sich | |
zumindest durch dessen Wortgewandtheit und kleine finanzielle | |
Gefälligkeiten zu einem schwankenden Maß an Aufmerksamkeit bewegen. | |
Die Unsicherheit in der Beziehung zu Allerton verstärkt allerdings bald | |
Lees selbstzerstörerische Züge. Ob der wiederholten Zurückweisungen | |
verfällt er seiner langjährigen Sucht nach harten Drogen, nach Heroin, | |
Kokain und Opiaten noch weiter. | |
## Vom Macher von „Call Me by Your Name“ | |
Anders ausgedrückt: Dem Verlangen, das William S. Burroughs in „Queer“ | |
beschreibt, fehlt letztlich das lebensbejahende Moment, das spätestens seit | |
„Call Me by Your Name“ für Guadagninos Werke eigentlich so bezeichnend ist. | |
Indem die Adaption der literarischen Vorlage weitgehend folgt, erforscht | |
[4][Guadagnino mit „Queer“, der im Wettbewerb von Venedig seine Premiere | |
feierte], tatsächlich erstmals eine finsterere Facette des Verlangens und | |
zeigt es als Geschenk, das sich durchaus in eine Grausamkeit verwandeln | |
kann, wenn es niemals gestillt wird. | |
Auch der filmischen Version von Lee gelingt es nicht, bedeutungsvolle | |
Beziehungen aufzubauen. Im Auftakt ist er als in einen mondänen weißen | |
Leinenanzug gekleideter Lebemann zu sehen, der nach einer neuerlichen | |
Verführung giert, schließlich scheitert und sich schnell in die nächste | |
oberflächliche Plauderei stürzt, um sich bei Laune zu halten. | |
Schwitzend und trinkend sitzt er im nächsten Moment mit seinem | |
gleichgesinnten Freund Joe (Jason Schwartzman) zusammen, der immer wieder | |
von flüchtigen Liebhabern bestohlen wird. Vielleicht, weil sich die Männer | |
so vormachen können, dass es ihnen gar nicht um Sex gehe, überlegt Joe. Lee | |
gibt sich betont abgeklärt, gar amüsiert über die Anekdote, obwohl sie ihn | |
doch an seine eigene Einsamkeit erinnern muss. | |
Daniel Craig gelingt es herausragend, den ruinösen Balanceakt seiner Figur | |
zu verkörpern – zwischen innerer Hast, Sucht und dem Versuch, zumindest | |
nach außen souverän zu wirken. Seine nuancierte Darbietung eines stolzen, | |
doch suchenden Mannes trägt bedeutend dazu bei, dass aus Lee in „Queer“ | |
eine komplexere Erscheinung als in der Vorlage erwächst. | |
Im Zusammenspiel mit traumartigen Sequenzen, in denen Guadagnino sich | |
seinen Protagonisten als körperloses Wesen vorstellen lässt, wird spürbar, | |
dass ihn eine tief verinnerlichte Ablehnung der eigenen Sexualität quält. | |
Auch wenn Lee „sichtbares“ Schwulsein und feminin auftretende Männer mit | |
herablassenden Worten belegt, etwa Travestiekünstler als „Untermenschen“ | |
bezeichnet, wirkt das wie ein verzweifelter Abgrenzungsversuch, aus dem vor | |
allem eine nur leidlich vertuschte Selbstverachtung spricht. | |
Dass das Drama, zu dem erneut Justin Kuritzkes („Challengers“) das Drehbuch | |
verfasste, dennoch nicht das Gefühl der großen Hoffnungslosigkeit erzeugt, | |
wie es Burroughs’ fragmentarische Niederschrift einer bitteren Verzweiflung | |
tut, hat vor allem mit den feinen, aber ausschlaggebenden Anpassungen zu | |
tun, die „Queer“ auch abseits der detaillierteren Charakterzeichnung von | |
seiner Vorlage abheben. | |
Und diese finden sich, wenig verwunderlich, vor allem im Kontext der | |
Darstellung des bedeutungsvollen Verlangens – des den Film tragenden | |
Verhältnisses zwischen Lee und besagtem Allerton (Drew Starkey), der | |
personifizierten Verheißung auf ein Ankommen, ein Angenommensein durch | |
einen anderen und damit, vielleicht, auch durch sich selbst. | |
Den ersten Augenblick, in dem Lee den jüngeren Mann erspäht, inszeniert | |
Guadagnino als Erweckungserlebnis, durch dessen Schönheit „Queer“ bereits | |
seinen Sog entfaltet. Unmittelbar nach einer erneuten Zurückweisung | |
schlendert Lee durch die nächtlichen Straßen der umtriebigen Stadt. Die | |
Kamera von Sayombhu Mukdeeprom („Challengers“) folgt ihm in einer langen | |
sphärischen Einstellung zum Klang des schwebenden Gitarrenriffs aus | |
Nirvanas „Comes As You Are“. | |
## Kurt Cobain und Hahnenkämpfe | |
Zu Kurt Cobains rauer Stimme und der widersprüchlichen Liedzeile „Come as | |
you are, as you were, as I want you to be“, die das ambivalente Verhältnis | |
zu Allerton antizipiert, bleibt Lee an einer Straßenecke stehen, sieht sich | |
einen Hahnenkampf an, schaut schließlich auf und hält mit staunendem | |
Ausdruck den Blick des vorbeiziehenden, in diesem Moment makellos wirkenden | |
Mannes. | |
Allertons Gesicht wiederum zeigt ein kleines Grinsen, das sich kaum deuten | |
lässt: Fühlt er sich von der Aufmerksamkeit Lees geschmeichelt? Gefällt | |
auch ihm, was er sieht? Oder belächelt er den älteren Mann sogar, hat seine | |
Begierde sofort durchschaut und für lachhaft befunden? Die Natur von | |
Allertons Interesse an Lee, das binnen Minuten in erbarmungsloses | |
Desinteresse umschlagen kann, ist das zentrale Enigma dieses | |
atmosphärischen Dramas. | |
„Queer“ folgt daraufhin einerseits den beharrlichen Werbungsversuchen Lees, | |
die zwischenzeitlich auf Erwiderung und eine augenscheinlich wechselseitig | |
befriedigende sexuelle Begegnung stoßen, aber ebenso schnell den Groll | |
seines Geliebten hervorrufen können. Andererseits bebildert Guadagnino, | |
wie Allertons ambiges Auftreten Lee allmählich zerreibt. | |
Insbesondere in der zweiten Hälfte der Handlung, als die beiden Männer | |
durch Südamerika reisen und ihre Beziehung sich als nicht mehr denn ein | |
pragmatischer Pakt herausstellt, leidet Lee nicht nur am Entzug harter | |
Drogen, die abseits Mexikos weniger leicht aufzutreiben sind, sondern auch | |
an Allertons immer offenerer Ablehnung. | |
## Reichtum des Begehren | |
Einen Ausweg, weniger aus der Abstinenz denn aus der Einsamkeit, verspricht | |
er sich von „Yagé“, das damals noch nicht unter der Bezeichnung „Ayahuas… | |
geläufig war. Lee glaubt daran, dass die Pflanze telepathische Fähigkeiten | |
erweckt, Kommunikation ohne Sprache ermöglicht, und damit die | |
größtmögliche, eine rein intuitive zwischenmenschliche Verbindung eröffnet. | |
Diese Hoffnung soll ebenso enttäuscht werden wie jene darauf, dass er in | |
Allerton eine Art der Erlösung finden wird. | |
In einem surrealen Epilog, der Lee einige Jahre später zeigt, gelingt es | |
Guadagnino aber, dem Verlangen seines Helden die Vergeblichkeit zu nehmen. | |
Eine hypnotische Traumsequenz kommt darin vor, das Universum und sein | |
Farbenspiel, die letztliche Verbundenheit der Dinge. | |
Während Allerton sich zu diesem Zeitpunkt als ein Mensch erwiesen hat, der | |
nach nichts verlangt und sich schlicht treiben lässt, wird deutlich, dass | |
es Lee ist, der durch sein Sehnen die Fähigkeit besitzt, Schönheit zu sehen | |
– und am Ende womöglich, trotz allem, der Reichere ist. | |
Mehr als alles andere zeigt Luca Guadagnino das Verlangen in „Queer“ als | |
eine Gabe, die es, ungeachtet der Widrigkeiten, unbedingt zu bewahren gilt. | |
Es ist sein bislang ungeschöntester Blick auf das Begehren und in seiner | |
Aufrichtigkeit ebenso wie seinem filmkünstlerischen Anspruch doch der, der | |
mehr noch betört als die, die vor ihm kamen. | |
1 Jan 2025 | |
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## AUTOREN | |
Arabella Wintermayr | |
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