# taz.de -- Die Kunst der Woche: Davor, dahinter und immer weiter | |
> Drei Arte-Povera-Künstler suchen bei Konrad Fischer nach Bildern für die | |
> Unendlichkeit. Bei Stallmann reiht Alizée Gazeau eine Herde Pferdesattel | |
> auf. | |
Bild: Blick in die Ausstellung „Arte Povera“ mit der Arbeit „Albero grand… | |
1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21… Das Prinzip hinter der Fibonacci-Zahlenfolge ist | |
ganz einfach: Jede Ziffer ist die Summe der beiden vorangegangenen. | |
Leonardo da Pisa, genannt Fibonacci beschrieb damit im Jahr 1202 das | |
Anwachsen einer Kaninchenpopulation. Anwenden lässt sie sich nicht nur auf | |
viele Arten der progressiven Zunahme, sondern auch auf den Goldenen | |
Schnitt, jenes perfekte Verhältnis bestimmter Maße oder Größen zueinander, | |
das sich in der Natur wiederfindet und das die Kunst nachahmt. | |
Im Werk von Mario Merz (1925–2003) nahm die Fibonacci-Reihe einen zentralen | |
Platz ein, sie wurde zur Signatur seiner Kunst, als Ausdruck der denkenden | |
Natur. Die Zahlen fügte er beispielsweise aus leuchtendem Neon in seine | |
Arbeiten ein. So etwa auf einem unbetitelten Sprühfarbenbild des | |
italienischen Künstlers aus dem Jahr 1982 und einer Collage aus 1998, die | |
beide gerade in der [1][Galerie Konrad Fischer] in einer Gruppenausstellung | |
zu sehen ist. | |
Ihr Titel lautet so, wie der italienische Kunsthistoriker Germano Celant im | |
Jahr 1967 jene Kunst benannte, die sich aus „armen“ Materialien wie Erde, | |
Stein, Stahl oder Holz schöpft und für die Merz als einer der | |
Hauptvertreter gilt: Arte Povera. Konrad Fischer zeigte Merz damals bereits | |
kurze Zeit später, 1970 erstmals in seinen Räumlichkeiten in Düsseldorf. | |
Seitdem immer wieder, auch weitere Vertreter wie Giovanni Anselmo | |
(1934-2023) und Giuseppe Penone (*1947), deren Arbeiten jetzt wieder mit | |
denen von Merz zusammenkommen. | |
Rund um ein Iglo aus Stahl, Glas, Stein und Reisig von Mario Merz – noch so | |
eine wiederkehrende Form des Künstlers – scharen sie sich. Zwei herrliche | |
Skulpturen von Giuseppe Penone aus dessen Serie „Avvolgere la terra“ sind | |
dabei, dem einfachen Formen mit der Hand gewidmet. Und ein aus | |
Carrara-Marmor nachgebildeter Baumstamm, ebenfalls von Penone. Wie die | |
Quintessenz all dessen wirkt Giovanni Anselmos Arbeit „Infinito“ – ein | |
Diaprojektor, der eben jenes Wort auf das projiziert, was sich ihm | |
entgegenstellt. Das Denken, das Wachsen, die Natur – alles unendlich. | |
Es scheint etwas in der Luft zu liegen. In Paris entwickelte sich jüngst | |
eine große Arte-Povera-Schau im Privatmuseum Bourse de Commerce zum | |
riesigen Publikumserfolg. Bis zu dreitausend Besucher*innen sollen | |
täglich dorthin pilgern. Vom Umfang mithalten kann die Galerieschau zwar | |
freilich nicht, aber dafür gibt es dort genug Platz und Ruhe die Arbeiten | |
von allen Seiten zu betrachten. | |
## Das Innere nach vorn | |
Auch was Alizée Gazeau macht, hat durchaus gewisse Ähnlichkeiten mit der | |
Praxis der Arte-Povera-Künstler. Wie diese arbeitet sie mit Alltäglichem, | |
mit Gebrauchsmaterial, mit Fundstücken. Als Malerin hält sie Schatten und | |
Spuren etwa von Fischernetzen fest. Die Objekte, denen sie ihre neue | |
Ausstellung bei [2][Stallmann] gewidmet hat, fielen ihr im Jahr 2020 auf – | |
und lassen sie seitdem nicht mehr los: Pferdesattel aus Leder. | |
In der Galerie hängt eine ganze Herde davon in Reihe an den Wänden: „I'm | |
Herdsman of a Flock“ („Ich bin Hüter einer Herde“) heißt die Schau, | |
entlehnt hat sie den Satz aus einem Gedicht von Fernando Pessoa. Gazeau | |
zeigt sie so, wie man sie nie ansieht, mit dem Inneren nach vorne. Auf | |
diese Weise verwandelt sie die Sattel in monochrome Skulpturen, in denen | |
man alles Mögliche sehen kann: Käfer und Schmetterlinge, einen Uterus, | |
verwachsene, organische Objekte. | |
Im direkten Vergleich nebeneinander werden dann auch Unterschiede zwischen | |
ihnen sichtbar, größere und kleinere gibt es, schwärzere und braunere, aber | |
auch der Gebrauch hat Spuren hinterlassen, Abnutzungen durch die | |
Reiter*innen wie die Pferde. Fast scheint es, als würden sie ohne einen | |
Körper, der sie benutzt, selbst zu einem werden, indem sich vielleicht | |
sogar so etwas wie eine Persönlichkeit sichtbar wird. Wilder wirken manche, | |
andere zahmer. | |
17 Dec 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.konradfischergalerie.de/ | |
[2] https://www.stallmann.club/im-herdsman-of-a-flock | |
## AUTOREN | |
Beate Scheder | |
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