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# taz.de -- NS-Gerichtsprozesse: Ein Leben für etwas Gerechtigkeit
> Rechtsanwalt Thomas Walther hat viele alte Nazi-Verbrecher vor Gericht
> gebracht. Eine Bilanz der NS-Prozesse der vergangenen Jahre.
Bild: Der Nazi-Jäger des 21. Jahrhunderts: Thomas Walther 2022 in Brandenbur…
Der Platz der Angeklagten blieb leer im Gerichtssaal des
schleswig-holsteinischen Itzehoe. Irmgard Furchner, 96, die [1][frühere
Sekretärin des KZ-Kommandanten von Stutthof], hatte am frühen Morgen des
30. September 2021 ihr Pflegeheim in Quickborn verlassen und ein Taxi
bestiegen, das sie bis zu einem Hamburger U-Bahnhof brachte. Dort verlor
sich ihre Spur. Sie hinterließ dem Gericht einen handgeschriebenen Brief,
in dem sie mitteilte, dass sie zu ihrem Prozess nicht zu erscheinen
gedenke.
Furchner wurde noch am selben Tag in Hamburg gefasst und kam für kurze Zeit
in Untersuchungshaft. Am nächsten Verhandlungstag saß sie im Rollstuhl im
Gericht, mit Kopftuch und Atemschutzmaske vermummt. Angeklagt der Beihilfe
zum Mord in mehr als 11.000 Fällen, zeigte sie sich keiner Schuld bewusst.
In den folgenden Monaten sagte sie kein einziges Wort vor Gericht. Aber sie
schien immer aufmerksam zuzuhören.
Kurz vor Ende des Verfahrens brach Furchner ihr Schweigen. Die
Beweisaufnahme war abgeschlossen, die Nebenkläger hatten Furchtbares über
ihre Erfahrungen in Stutthof gesagt. Furchner sagte drei dürre Sätze: „Es
tut mir leid, was geschehen ist. Ich bereue, dass ich zu der Zeit gerade in
Stutthof war. Mehr kann ich nicht sagen.“
Ende Dezember 2022 erging das Urteil. Furchner erhielt eine Jugendstrafe
von zwei Jahren zur Bewährung. Zur Tatzeit galt sie als Heranwachsende,
Furchner ist Jahrgang 1925. Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH)
bestätigte im August 2024 dieses Urteil. Das Gericht entschied auch, dass
die elenden Lebensumstände für die Häftlinge in einem NS-Lager als Beihilfe
zum Mord gewertet werden können. Und dass es [2][keiner Uniform bedurfte],
um dort Morde zu begünstigen.
Tod, Demenz und Gebrechen haben die Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen im
Jahr 2024 beendet. „Dies war das letzte Mal, dass ein deutsches Gericht
über die Verbrechen der Nazis zu urteilen hatte“, sagt Thomas Walther über
den Prozess gegen Irmgard Furchner. Der Rechtsanwalt muss es wissen, denn
er hat in den vergangenen 15 Jahren die Verfahren gegen ehemalige
KZ-Bedienstete in Gang gebracht. 2009 begann das, was Historiker die
Spätphase der juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen nennen. Ohne
Walther hätte es diese Verfahren wohl nie gegeben.
## Der Angeklagte wollte demonstrieren, wie die deutsche Justiz unschuldige
Rentner quälte
Iwan Demjanjuk machte einen bemitleidenswerten Eindruck. Schräg liegend
wurde der damals 89-Jährige am 30. November 2009 auf einer Trage in den
Saal des Münchner Landgerichts gebracht. Den Mund halb geöffnet, die Augen
hinter einer Sonnenbrille versteckt, so hinfällig, dass ein Rollstuhl nicht
ausreichte, um ihn vor Gericht vorzuführen: So wollte der Angeklagte
demonstrieren, wie die deutsche Justiz unschuldige Rentner quälte.
Doch hinter den Backsteinmauern der Justizvollzugsanstalt
München-Stadelheim wusste deren Direktor ganz anderes über seinen aus den
USA ausgewiesenen Häftling zu berichten, der im Krankentrakt seine Tage
verbrachte. Er bereite sich sein Essen selbst zu, lese Zeitung und nehme im
Rollstuhl oder mit einer Gehhilfe am täglichen einstündigen Umschluss teil,
bei dem Gefangene miteinander ihre Freizeit verbringen, sagte
Anstaltsleiter Michael Stumpf damals der taz.
Demjanjuk war der Beihilfe zum Mord an mehr als 28.000 Menschen angeklagt,
begangen im NS-Vernichtungslager Sobibor. Dort war der ukrainische
„Hilfswillige“ der SS 1943 im Einsatz. Etwa 200.000 Jüdinnen und Juden
wurden in den Gaskammern von Sobibor ermordet.
Thomas Blatt, der im Jahr 2015 verstarb, war einer von nur 53 Gefangenen,
die das Lager überlebten. Blatt zählte in München zu den Nebenklägern. Er
berichtete von der Mordstätte: Die Juden aus den Niederlanden seien
ahnungslos gewesen, wenn ein SS-Mann ihnen nach der Ankunft erklärte, sie
befänden sich in einem „Übergangslager“ und es sei jetzt „aus hygienisc…
Gründen“ geboten, ein heißes Duschbad zu nehmen. „Sie starben, ohne dass
sie wussten, dass sie ermordet wurden“, sagte Blatt vor Prozessbeginn der
taz.
„Sobibor war wie eine Fabrik“, beschrieb er das Lager, in dem das Handeln
auf das Töten möglichst vieler Menschen ausgerichtet war. An Demjanjuk
konnte sich Blatt nicht erinnern: „Ich weiß, wer von den Deutschen in
Sobibor was getan hat“, sagte er. „Aber nicht bei den Ukrainern. Es waren
zu viele.“ Blatt musste im Alter von 15 Jahren als „Arbeitsjude“ die
Hinterlassenschaften der Ermordeten sortieren und entkam beim
Sobibor-Aufstand im Oktober 1943.
## „Wir müssen die unmittelbare Tatbeteiligung nachweisen“
Im März 2011 wurde Iwan Demjanjuk zu fünf Jahren Haft verurteilt. Aber wenn
es nach der lang geübten deutschen Rechtspraxis gegangen wäre, hätte man
den Angeklagten gar nicht verurteilen können, ja, nicht einmal vor Gericht
wäre Demjanjuk gekommen. Die Ermittler der Zentralen Stelle zur Aufklärung
nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg schoben jahrzehntelang in
Fällen wie dem von Demjanjuk die Akten in die Ablage, schlossen die Deckel
und stellten die Ermittlungen ein. Tausende KZ-Wachmänner entgingen so
ihrer Bestrafung. Wie war das möglich?
Im bayerischen Lindau ging 2006, fünf Jahre vor dem Demjanjuk-Urteil, ein
63 Jahre alter Amtsrichter der Pensionsgrenze entgegen. Doch so richtig als
Ruheständler mochte sich Thomas Walther sein Leben nicht vorstellen. Er
suchte eine neue Herausforderung. Walther fand eine Ausschreibung der
Zentralen Stelle. Es wurden Ermittler gesucht.
Die Verfolgung von NS-Straftätern ist Walther wichtig. Schon sein Vater
habe ihn gegen die Nazis geprägt, sagt er. Rudolf Walther nahm nach der
Pogromnacht 1938 zwei jüdische Ehepaare auf und versteckte sie so lange,
bis sie ins Ausland flüchten konnten. Thomas Walther bewarb sich bei der
Zentralen Stelle. Er bekam den Job.
„Ich habe mir im Internet angeschaut, welche wichtigen NS-Größen noch
herumlaufen könnten und mir eingebildet, ich könnte einen dieser Männer
erwischen“, sagt Walther heute. „Ich dachte, dass die Kollegen alle nah
dran seien. Und dann sagte mir der Behördenleiter Kurt Schrimm: ‚Nein, so
einfach ist es nicht. Wir müssen die unmittelbare Tatbeteiligung
nachweisen.‘ “ Zu irgendwelchen Anklagen werde es mit hoher
Wahrscheinlichkeit nicht mehr kommen. Die paar Zeugen seien alt und dement.
Entsprechend geruhsam ging es in der Zentralen Stelle zu. Walther erzählt:
„Es gab da eine Art von Kaffeerunden. Bei einer dieser Runden habe ich
meine Idee geäußert, dass wir vielleicht irgendetwas anders machen müssten,
wofür ich ein mildes Lächeln kassierte, weil man das ja schon immer so
gemacht habe.“
## Die mutmaßlichen Täter kamen davon – jahrzehntelang
Dieses „immer schon so gemacht“ bezog sich auf ein Urteil des
Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1969. In einer Revisionsverhandlung zum
Frankfurter Auschwitz-Prozess entschied der BGH damals, dass nicht „jeder,
der in das Vernichtungsprogramm des Konzentrationslagers Auschwitz
eingegliedert“ gewesen und dort „irgendwie anlässlich dieses Programms
tätig“ geworden sei, sich „objektiv an den Morden beteiligt“ habe „und…
alles Geschehene verantwortlich“ gemacht werden könne. Die Justiz
interpretierte das Urteil dahingehend, dass die bloße Tätigkeit in einem
NS-Vernichtungslager für eine Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord nicht
ausreiche, sondern dass dazu ein individueller Mordvorwurf vorliegen müsse
– die „unmittelbare Tatbeteiligung“.
Diese nachzuweisen, fiel freilich sehr schwer. Die meisten Zeugen des
Geschehens waren schließlich ermordet worden und die wenigen Überlebenden
waren Jahrzehnte nach den Verbrechen nicht in der Lage, einen der
einheitlich uniformierten SS-Angehörigen als Täter zu identifizieren. Die
mutmaßlichen Täter [3][leugneten jede Schuld] und kamen davon.
Jahrzehntelang.
Fast 10.000 Menschen arbeiteten bis 1945 alleine als Wachpersonal im KZ
Auschwitz. Das Urteil von 1969 sorgte dafür, dass bis ins neue Jahrtausend
davon nur 48 verurteilt worden waren. Diese Rechtsprechung sei ein
„Ausdruck fehlgeleiteter Verfolgungspraxis“, urteilte der Bundesgerichtshof
55 Jahre später in der Revisionsverhandlung zu Irmgard Furchner, der
Sekretärin von Stutthof.
In Ludwigsburg ging Ermittler Thomas Walther im Jahr 2008 daran, diese
Rechtspraxis in Frage zu stellen. „Ich habe mir Gedanken gemacht, dass ein
Vernichtungslager so etwas wie ein fabrikmäßiger Betrieb war, so wie
anderswo, wo einer die Schrauben reindreht und ein anderer den Kotflügel
heranbringt. Das Auto ist dann ihr gemeinschaftliches Werk, so wie die
menschliche Asche das gemeinsame Werk der SS-Leute war.“
## „Teil der Vernichtungsmaschinerie“ und deshalb schuldig
Im November 2008 stand das 50-jährige Jubiläum der Zentralen Stelle an, mit
Feierlichkeiten, prominenten Gästen, Journalisten.
Walther war im Vorfeld auf den Fall Demjanjuk gestoßen und fragte seinen
Chef Schrimm, ob zu dem Ukrainer Material vorliege. „ ‚Wir haben da eine
Beobachtungsakte‘, antwortete Schrimm. ‚Was wird denn da beobachtet?‘
‚Immer wenn in den Medien darüber berichtet wird, machen wir eine Kopie und
fügen die hinzu.‘ Da sagte ich: ‚Wenn wir nichts machen außer deiner
Sammlung von Presseausschnitten, dann kommen zum Jubiläum vielleicht
raffinierte Journalisten aus den USA und stellen eine Frage zu Demjanjuk.
Und dann lautet unsere Antwort, dass wir eine Beobachtungsakte haben. Ich
glaube, dann wird das unangenehm mit der Berichterstattung. Irgendetwas
sollte man schon ermitteln.‘ Und da hat Schrimm nach kurzer Überlegung
gesagt: ‚Na, dann mach mal.‘ Das war der Auftrag.“
Kurt Schrimms Erinnerung ist etwas anders. Die Entscheidung zu Ermittlungen
in Sachen Demjanjuk sei selbstverständlich unabhängig vom Jubiläum der
Zentralen Stelle erfolgt, schreibt er.
In jedem Fall aber entband Schrimm seinen Ermittler Thomas Walther von
jeglicher anderer Arbeit und stellte ihm als Kollegin Kirsten Goetze zur
Seite. Das Ergebnis war ein umfangreicher Ermittlungsbericht. Walther
erinnert sich: „Am 11. oder 12. November 2008 haben wir dieses Werk der
Münchner Staatsanwaltschaft auf den Tisch gelegt. Diesen Termin hatte ich
gewählt, weil es der Jahrestag war, an dem mein Vater 1938 die beiden
jüdischen Familien versteckt hatte.“
Die Staatsanwaltschaft klagte Demjanjuk an. Das Landgericht München II ließ
die Anklage zu. Dies alles geschah, obwohl eben keine unmittelbare
Tatbeteiligung des Beschuldigten vorlag. Das Eis war gebrochen.
Im Prozess trat Walther als Zeuge auf. Er unterstrich dort seine
Überzeugung, dass bei Massenmorden in Vernichtungslagern schon die Arbeit
dort ausreiche, um eine solche Person wegen Beihilfe zum Mord zu
verurteilen, weil sie damit den arbeitsteiligen Prozess der Tötung erst
möglich gemacht habe. Das Rädchen im Getriebe des Mordens. Das Gericht
folgte dieser Argumentation: Demjanjuk sei „Teil der
Vernichtungsmaschinerie“ gewesen und deshalb schuldig.
## Es lebten noch fünfzig mutmaßliche Verantwortliche von Auschwitz
Damit begannen 66 Jahre nach der Befreiung endlich umfangreiche
Ermittlungen gegen mutmaßliche Bedienstete in deutschen Mordfabriken. In
der Zentralen Stelle ließ Schrimm eine Liste mit Tausenden Namen von
Auschwitz-Wachleuten mit aktuellen Meldedaten bei der Sozialversicherung
abgleichen. Nur, so Walthers Kritik, hätte er damit auch schon vorher
beginnen können, nämlich, als die Anklage gegen Demjanjuk erfolgte. So aber
seien zwei wertvolle Jahre verloren worden, zwei Jahre, in denen die
Beschuldigten älter wurden, vielleicht schwer erkrankten oder verstarben,
in jedem Fall aber: [4][nicht mehr zur Rechenschaft zu ziehen] waren.
Fünfzig noch lebende mutmaßliche Verantwortliche von Auschwitz ermittelte
die Zentrale Stelle bis zum Frühjahr 2013. Einige dieser Personen lebten im
Ausland, andere waren aufgrund ihrer Gebrechen verhandlungsunfähig, wieder
andere verstarben noch vor Beginn der weiteren Ermittlungen. So blieben 30
Fälle, die an Staatsanwaltschaften im ganzen Land abgegeben wurden. Doch
fast alle Verfahren mussten aufgrund von körperlichen oder geistigen
Gebrechen eingestellt werden. Nur vier Personen wurden wegen Beihilfe zum
Mord angeklagt.
Eine von ihnen namens Helma M., die als Funkerin in der Kommandantur des
Konzentrationslagers Auschwitz gearbeitet hatte, erkrankte. Ihr Prozess
platzte.
Der frühere Wachmann Ernst T. verstarb wenige Tage vor dem geplanten
Prozessauftakt in Hanau. Blieben zwei SS-Männer: Hubert Z. und Reinhold
Hanning.
Das Landgericht Neubrandenburg musste vom Oberlandesgericht Rostock erst
dazu gezwungen werden, das Hauptverfahren gegen den früheren
SS-Rottenführer Hubert Z. zu eröffnen. Die Richter verschleppten danach den
Prozess in dem Bestreben, das Verfahren einzustellen. Sie wurden abgelöst.
Doch inzwischen war Hubert Z. an Demenz erkrankt. Der Prozess musste wegen
der Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten eingestellt werden.
## Enorme Belastung für Überlebende
Blieb ein einziger SS-Mann von ursprünglich 50: Der Prozess gegen Reinhold
Hanning begann im Frühjahr 2016 vor dem Landgericht Detmold. Die Anklage
lautete auf Beihilfe zum Mord in mindestens 170.000 Fällen. Hanning erhielt
eine Haftstrafe von fünf Jahren.
Das Hanning-Verfahren war eines von zweien zum Tatkomplex Auschwitz nach
2011. 2015 war in Lüneburg der 93-jährige [5][Oskar Gröning zu vier Jahren]
verurteilt worden, gegen den bereits in den 1970er Jahren ergebnislos
ermittelt worden war. Der Bundesgerichtshof bestätigte später das Urteil.
Gröning hatte als eine Art Kassenwart das gestohlene Eigentum der
Ermordeten verwaltet und auch an der Rampe Dienst getan, wo die Opfer in
das Lager geschleust wurden.
Andere Prozesse richteten sich gegen Beschuldigte aus den KZ Stutthof und
Sachsenhausen. Insgesamt kam es so nach dem Demjanjuk-Prozess zu fünf
Verfahren gegen ehemalige KZ-Schergen, die auch mit einem Urteil endeten.
Dutzende weitere Ermittlungen verliefen im Sand. Die Liste der
Staatsanwaltschaften, die ihre Ermittlungen einstellen mussten, ist lang,
unendlich lang. Sie reicht von Kiel bis München.
Thomas Walther kann sich gut an die Prozesse erinnern, denn er ist dabei
gewesen. Er war da nicht länger Ermittler in Ludwigsburg. Nach seiner
Pensionierung arbeitete der Rechtsanwalt nun als Vertreter der Überlebenden
und ihrer Nachfahren, die als Nebenkläger vor Gericht auftraten. „Die
Belastung der Nebenkläger war enorm“, erinnert sich Walther. „Es gab
Überlebende, die gesagt haben, dass es ihnen wichtig sei, den Angeklagten
verurteilt zu sehen. Anderen war es wichtiger, dass sie vor der deutschen
Justiz aussagen konnten, was ihnen und ihren Familien angetan worden war.“
## „Solange meine Kräfte noch reichen, werde ich darüber sprechen“
Justin Sonder hatte die Verfolgung der Juden in Chemnitz überlebt. Er war
von der Gestapo nach Auschwitz deportiert worden und hatte auch das KZ
überlebt. Befreit wurde Sonder [6][auf einem Todesmarsch] in der Oberpfalz
von der US-Armee. Sonder war Nebenkläger im Verfahren gegen Reinhold
Hanning. „Es ist noch nicht zu spät. Es spricht aus meinem Herzen, dass ein
solches Verfahren durchgeführt wird“, sagte er am Tag vor seiner
Zeugenaussage in Detmold der taz. Ihm gehe es nicht darum, den Angeklagten
im Gefängnis zu sehen, ihm gehe es nicht um Rache. „Ich will erreichen,
dass diese schweren Verbrechen noch einmal aufgearbeitet werden“, sagte er
2015.
Zwanzig Jahre lang hatte Sonder nach dem Krieg geschwiegen. In Detmold
berichtete er von den Gestapo-Männern, die ihn mit gezogener Pistole
anhielten und in den Zug nach Auschwitz zwangen. Er erzählte von der
Selektion im Lager, von einer Knieoperation durch die SS ohne Betäubung.
„Solange meine Kräfte noch reichen, werde ich darüber sprechen“, sagte er.
Justin Sonder ist 2020 in Chemnitz verstorben. Nicht nur die Täter sterben,
sondern auch die letzten Überlebenden.
Die vor Gericht gebrachten Täter reagierten unterschiedlich auf die ihnen
gemachten Vorwürfe. Es gab Männer wie Iwan Demjanjuk, aber auch den 2022
verurteilten SS-Wachmann von Sachsenhausen Josef Schütz, die leugneten,
überhaupt jemals in einem KZ gewesen zu sein, obwohl alle Dokumente das
Gegenteil bewiesen. Wieder andere Angeklagte gaben zwar zu, dass sie Dienst
in einem Lager getan hätten, sie hätten dabei aber niemanden etwas zuleide
getan und seien deshalb unschuldig. Und es gab Ausnahmen, Menschen wie
Oskar Gröning, die sich für ihr Handeln entschuldigten – aber juristisch
dennoch keine Schuld bei sich erkennen mochten. Aber mehr als das nicht zu
Leugnende zuzugeben, das tat keiner der Täter.
„Die Verdrängung führt ein strenges Regime“, sagt Thomas Walther. „Das …
so weit, dass sich die Täter gar nicht mehr daran erinnern können, im KZ
gewesen zu sein. Dann wird eine alternative Geschichte erfunden.“ Im Fall
von Oskar Gröning sei das anders gewesen. „Der hat in seinem
Briefmarkenklub, als jemand den Holocaust leugnete, auf den Tisch gehauen
und gesagt: ‚Das war schon alles so. Ich war selbst dabei.‘ “
Walther ist heute 81 Jahre alt. Er wird bald seine Zulassung als
Rechtsanwalt zurückgeben. Für seine Arbeit hat er das Bundesverdienstkreuz
erhalten. „Ich bin in erster Linie dankbar dafür, dass ich die Gelegenheit
hatte, zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen zu sein“, sagt Walther. Es
sei kein glänzender Sieg, wie die bundesdeutsche Justiz mit den
NS-Verbrechen umgegangen ist. Aber: „Das Thema ist [7][nun abgeschlossen].“
29 Dec 2024
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## AUTOREN
Klaus Hillenbrand
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