# taz.de -- Buch über neue Protestbewegungen: Mit Schirm und ohne Kopftuch | |
> Der Soziologe Tareq Sydiq untersucht in „Die neue Protestkultur“ das | |
> Potenzial diverser aktueller Bewegungen. Nicht alle davon dienen der | |
> Demokratie. | |
Bild: Luisa Neubauer, eine der Mitorganisatorinnen von Fridays for Future währ… | |
Frauen, die ihre Kopftücher verbrennen, Aktivist*innen, die sich zu | |
„Spaziergängen“ verabreden, Oppositionelle, die im Krieg zu | |
Katastrophenhelfer*innen werden und Rechtsextreme, die linke | |
Strategien kopieren: In „Die neue Protestkultur“ untersucht der | |
Protestforscher Tareq Sydiq beispielhaft vier aktuelle | |
[1][Protestbewegungen in Iran], Hongkong, Sudan und Deutschland. Dabei | |
treibt ihn weniger die Frage um, wie „neu“ diese Proteste sind, insofern | |
ist der Buchtitel etwas irreführend. | |
Sydiq, der am Marburger Zentrum für Konfliktforschung arbeitet, will eher | |
erkunden, was Protest braucht, um erfolgreich zu sein. Eingangs stellt er | |
fest, „wie unwahrscheinlich der Erfolg von Protesten, sozialen Bewegungen | |
und Revolutionen eigentlich ist“ – sind doch Staaten nicht dazu | |
verpflichtet, auf Proteste zu reagieren. Umso beachtlicher, wie viele | |
Proteste dennoch erfolgreich seien, findet Sydiq – und führt eine Reihe | |
historischer Erfolge an: Vom March on Washington bis zur | |
[2][versehentlichen Öffnung der Berliner Mauer] „unverzüglich, sofort“ | |
unter dem Druck der ungeduldigen Menge. | |
Erfolg hat in Sydiqs Augen, wer klassisch eine Menge Menschen auf die | |
Straße bringt, wer ikonische Bilder generiert, die Machthaber*innen | |
beunruhigen, wie der „Tank Man“, der sich 1989 auf dem Pekinger | |
Tian’anmen-Platz auf einen Panzer setzte – und wer es schafft, jenseits der | |
Straße eine soziale Bewegung aufzubauen, die in Lobbygruppen, NGOs und | |
Parlamente hineinwirkt (hier nennt er die deutsche Klimaschutzbewegung). | |
Langfristigen Erfolg können seiner Ansicht nach nur gewaltfreie Proteste | |
haben. | |
Radikalität sei in einer Demokratie nicht erfolgreich, weil sie keine | |
breite Basis in der Bevölkerung erlangen könne. Hat man zwar alles schon | |
mal gehört, aber interessant wird es, wo Sydiq den direkten Vergleich zu | |
Protestbedingungen in autoritären Staaten zieht. In Iran werde „von oben“ | |
mobilisiert, „von unten“ seien moderater ziviler Ungehorsam und wütender | |
öffentlicher Protest gleich lebensgefährlich. Der größte Erfolg der | |
„Kopftuchproteste“ bestehe darin, die brüchige Legitimität der Regierung | |
sichtbar gemacht zu haben – eine Basis für künftige Protestwellen. | |
Sydiq befasst sich auch eingehend mit Hongkongs Demokratiebewegung, die | |
durch dezentrale Organisation und den Einsatz smarter Technologien immer | |
wieder den chinesischen Staat herausfordern konnte – um am Ende doch | |
niedergeschlagen zu werden. | |
## Aufstieg der Neuen Rechten nach italienischem Vorbild | |
Keinesfalls müssen Proteste immer demokratischen Zwecken dienen, wie der | |
Politologe in seinem Kapitel über soziale Bewegungen in Deutschland | |
hervorhebt. Lesenswert ist seine Analyse des Aufstiegs der Neuen Rechten, | |
die Antonio Gramscis Strategie der „kulturellen Hegemonie“ beherzigend, | |
sich erst im zivilgesellschaftlichen Raum etablierte, bevor sie in die | |
Parlamente strebte. | |
Auch dies wieder nach italienischem Vorbild: Sydiq beschreibt, wie die | |
neofaschistische CasaPound-Bewegung erst Häuser besetzte und dann durch | |
eine Doppelstrategie aus sozialer Arbeit und gezielter Normalisierung | |
rechtsextremer Diskurse [3][Ministerpräsidentin Meloni den Boden | |
bereitete]. Trotzdem vertritt der Autor die These, dass friedlicher Protest | |
auch dann erlaubt sein muss, wenn er die Grundrechte anderer abbauen will – | |
die Demokratie müsse das aushalten. Es wäre interessant gewesen zu | |
erfahren, wo genau Sadiq die Linie zieht. | |
Anhand der gescheiterten Revolutionsversuche in Sudan versucht Sadiq den | |
Unterschied zwischen einer „revolutionären Situation“ und einem | |
„revolutionären Ausgang“ zu erklären. Aber die Analyse überzeugt nicht | |
recht; zu komplex ist die Lage in dem ostafrikanischen Land, um sie mit | |
Plattitüden wie „Eine Revolution ist ein Marathon, kein Sprint“ zu fassen. | |
„Die neue Protestkultur“ bietet keine harten Politanalysen oder sportlichen | |
Thesen, aber einen gut lesbaren Ritt durch aktuelle Protestphänomene | |
unserer Zeit mit einigen überraschenden Einsichten. | |
22 Nov 2024 | |
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## AUTOREN | |
Nina Apin | |
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