# taz.de -- Philosoph über Wert der Natur: „Trigger-Punkte gibt es auch beim… | |
> Der Verlust der Biodiversität hat auch ökonomische Folgen. Warum sich | |
> diese nicht seriös schätzen lassen, erklärt der Sozialphilosoph Andreas | |
> Hetzel. | |
Bild: Wem gehört die Natur, was ist sie wert? Das sollte für Umweltschutz nic… | |
taz: Herr Hetzel, der Ökonom Partha Dasgupta schätzt, dass die Zerstörung | |
der Artenvielfalt einen jährlichen ökonomischen Schaden von 4 bis 6 | |
Billionen US-Dollar verursacht. Diese Zahl stammt aus seinem Anfang 2021 | |
vorgelegten und [1][viel beachteten Report]. Gilt diese Zahl noch? | |
Andreas Hetzel: Diese Zahl damals zu veröffentlichen, war strategisch | |
richtig. Sie sollte Entscheider*innen wie Politiker*innen, die | |
hauptsächlich in ökonomischen Kategorien denken, für die Folgekosten | |
sensibilisieren, die durch das menschengemachte Artensterben für diese und | |
künftige Generationen entstehen. Denn den 4 bis 6 Billionen standen damals | |
nur 78 bis 143 Milliarden US-Dollar gegenüber, die für den Schutz der | |
Artenvielfalt aufgewendet wurden – also lediglich 0,1 Prozent der globalen | |
Wirtschaftsleistung. | |
taz: Aber ist die Zahl auch richtig? | |
Hetzel: Dasgupta wollte in Anlehnung an den [2][2006 erschienen | |
Stern-Report], der erstmals die wirtschaftlichen Folgen des globalen | |
Klimawandels abschätzte, die ökonomischen Folgen des Artensterbens | |
aufzeigen. Aber ob man diese verlässlich messen kann, da bin ich skeptisch. | |
taz: Warum? | |
Hetzel: Der Ansatz zur Berechnung des Schadens durch die Zerstörung der | |
Artenvielfalt baut auf dem Versuch auf, den Nutzen von sogenannten | |
Ökosystemdienstleistungen zu messen. Ein klassisches Beispiel wäre dabei | |
die Bestäuberleistung von Bienen. Diese ist für die Landwirtschaft extrem | |
nützlich. Doch wie groß der ökonomische Nutzen von Bienen und anderen | |
bestäubenden Insekten wirklich ist, lässt sich nicht genau bestimmen. Dafür | |
gibt es selbst bei diesem einfachen Beispiel zu viele Unsicherheiten und | |
Unbestimmbarkeiten. | |
taz: Was für welche? | |
Hetzel: Wie alle anderen Arten von Pflanzen und Tieren erfüllen Bienen | |
innerhalb ihres Ökosystems nicht nur eine einzelne Funktion. Ein | |
Bienensterben wird also noch ganz andere Folgen haben als den Zusammenbruch | |
der Pflanzenbestäubung, Folgen, die wir gar nicht abschätzen können. Und | |
dabei sprechen wir nur über eine kleine Gruppe von Organismen und nicht | |
über Artenvielfalt an sich. Das macht es noch mal extrem viel komplexer, | |
den Schaden des Artensterbens insgesamt zu beziffern. Allein schon ein | |
normaler mitteleuropäischer Wald besteht nicht nur aus ein paar Baum- und | |
Vogelarten. Das ist ein extrem differenziertes Netzwerk Zehntausender | |
Arten, die in komplexer Weise miteinander interagieren. | |
taz: Ist es nur die Vielzahl der Arten, die die Nutzenabschätzung etwa des | |
Waldes so schwer macht? | |
Hetzel: Eine Nutzenabschätzung ist allein schon schwierig, weil die Bäume | |
des Waldes nicht nur Sauerstoff produzieren und Kohlendioxid speichern. Sie | |
schützen zum Beispiel auch vor Erosion und sorgen für ein bestimmtes | |
Mikroklima. Deswegen sagen Biolog*innen auch, dass der Verlust von | |
Artenvielfalt durchaus auch für unseren materiellen Wohlstand einen Preis | |
haben wird, doch lässt sich dieser nicht seriös beziffern. | |
taz: In der Klimaforschung spricht man von Trigger-Punkten, bei denen etwas | |
in Gang gesetzt wird, das später nicht mehr umkehrbar ist. Besteht diese | |
Gefahr auch bei der Biodiversität? | |
Hetzel: Solche Trigger-Punkte gibt es auch beim [3][Artensterben]. Dies ist | |
ein weiterer Grund, warum sich der Schaden hier kaum beziffern lässt. | |
Schließlich haben wir nur ein sehr unvollständiges Wissen dazu, welche Art | |
in welchem Ökosystem welche Funktion erfüllt. Vermutlich werden wir dies | |
nie vollständig verstehen. Wie können wir dann voraussagen, was passiert, | |
wenn eine bestimmte Art ausstirbt? | |
taz: In der Ökonomie unterscheidet man deswegen zwischen einem Risiko, das | |
kalkulierbar ist, und einer Unsicherheit, die unberechenbar ist … | |
Hetzel: Genau. In der Soziologie spricht man auch von subjektivem und | |
objektivem Nichtwissen. Subjektives Nichtwissen ist Wissen, das man noch | |
nicht hat, aber prinzipiell erlangen kann. Objektives Nichtwissen ist der | |
Natur einer Sache geschuldet und verdeutlicht uns die Grenzen der | |
Leistungsfähigkeit unserer wissenschaftlichen Methoden. Und von diesem | |
objektiven Nichtwissen gibt es beim Thema Biodiversität und | |
Ökosystemdienstleistung zu viel, um deren Nutzen seriös bemessen zu können. | |
taz: Gibt man der Natur einen Preis, stellt sich auch die Frage, wem sie | |
gehört. Ist das auch ein moralisches Argument gegen ihre Inwertsetzung? | |
Hetzel: Viele ökologischen Probleme der Neuzeit haben ihre Wurzel darin, | |
dass es zu Beginn des Kapitalismus zu einem Landraub kam. Almende, also | |
Landflächen, die die Menschen ursprünglich gemeinschaftlich nutzten, wurden | |
in Privateigentum umgewandelt. Diesen Prozess beschrieb bereits Karl Marx | |
als „sogenannte ursprüngliche Akkumulation“. Land wird hier nicht mehr als | |
Lebensgemeinschaft begriffen, sondern als Ressource. In Bezug auf die | |
Artenvielfalt ist diese Verwandlung von Natur in Sachbesitz ein Problem, | |
weil sich dadurch niemand mehr verpflichtet fühlt, mit der Natur sorgsam | |
umzugehen. | |
taz: Marx schrieb [4][„Das Kapital“] vor 150 Jahren. Gibt es das Problem | |
heute noch? | |
Hetzel: Es gibt weiterhin starke Tendenzen, aus der Natur eine Ware zu | |
machen. Das ist vor allem ein Problem im Globalen Süden. Große Konzerne | |
wollen sich Monopole auf Trinkwasser sichern, um sich weiter zu bereichern, | |
oder melden Patente auf Heilpflanzen beziehungsweise deren Genome an, die | |
Indigene seit Jahrhunderten nutzen. Statt die Natur weiter zur Ware zu | |
machen, sollten wir deshalb akzeptieren lernen, dass die Natur vor allem | |
sich selbst gehört und wir nicht alles besitzen und als eine ökonomische | |
Ressource verwenden können. So schützen wir die Biodiversität und letztlich | |
auch unsere eigene Lebensgrundlage. | |
28 Nov 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Report-zum-Wert-der-Biodiversitaet/!5745174 | |
[2] https://webarchive.nationalarchives.gov.uk/ukgwa/+/http://www.hm-treasury.g… | |
[3] /WWF-Report-zum-Artensterben/!6041972 | |
[4] /Was-Karl-Marx-und-Twilight-verbindet/!6047015 | |
## AUTOREN | |
Simon Poelchau | |
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