# taz.de -- Ehrenamtliche über Seenotrettung: „Wenn ein Boot untergeht, ist … | |
> Seit zehn Jahren hilft das Alarm-Phone Migrant*innen in Seenot. | |
> Staatliche Rettungsstellen würden die Zusammenarbeit verweigern, klagt | |
> Britta Rabe. | |
Bild: Ein Mann liegt erschöpft im Sand, nachdem er Gran Canaria in einem Boot … | |
taz: Frau Rabe, seit 10 Jahren unterstützt das Alarm-Phone Migrant:innen | |
in Seenot, in dem sie die Koordinaten an die Küstenwache weiterleitet. Was | |
hat sich seither verändert? | |
Britta Rabe: Wir haben als Netzwerk bereits in einer Zeit angefangen, in | |
der sich die Küstenwachen die Verantwortung für Migrant:innen in Seenot | |
gegenseitig zugeschoben haben. Es gab schon damals eine systematische | |
Verantwortungslosigkeit, die sich unter anderem in den beiden großen | |
Katastrophen [1][im Oktober 2013 vor Lampedusa] niederschlug, bei denen | |
mehr als 500 Menschen starben. Die Lage hat sich seitdem immens verschärft. | |
taz: Inwiefern? | |
Rabe: Die Küstenwachen haben sich zurückgezogen. 2016 wurde die libysche | |
Such- und Rettungszone eingerichtet. Ein großes Gebiet wird seither von | |
staatlichen Rettungsakteuren nicht mehr abgedeckt. Ähnlich ist es in der | |
Straße von Gibraltar. Die spanische Guardia Civil und die staatlichen | |
Seenotretter haben sich zugunsten der marokkanischen Küstenwache | |
zurückgezogen. | |
taz: Warum ist das ein Problem? | |
Rabe: Eine Folge sind die so genannten Pullbacks: Die Küstenwachen von | |
Drittstaaten werden von Europa als Türsteher missbraucht, um die Menschen | |
aufzuhalten, sie stoppen sie auf See und bringen sie zurück. Aber auch etwa | |
die griechische Küstenwache unternimmt regelmäßige Pushbacks in die Türkei. | |
Wenn Boote untergehen, sind die Küstenwachen dagegen oft nicht erreichbar, | |
nicht zur Stelle. | |
taz: Die Zahl der Ankünfte ging jahrelang trotzdem weiter nach oben. Warum? | |
Rabe: Was wir auch sehen: Egal, was sich die Regierungen ausdenken, suchen | |
die Menschen immer für sich neue Lösungen. Sie umgehen die Verschärfungen | |
durch neue Routen, auch wenn sie dafür teils sehr viel Geld zahlen oder in | |
schlechtere Boote steigen müssen. | |
taz: Wohin führen die neuen Routen? | |
Rabe: Die Route über Tanger nach Gibraltar etwa ist heute kaum noch | |
genutzt. Das ist eine Folge der vielen Razzien in und Abschiebungen aus | |
Nord-Marokko. Viele Menschen fahren stattdessen heute weiter im Süden los – | |
etwa im Senegal. So ist die Route zu den Kanarischen Inseln heute wieder | |
stärker frequentiert. Die griechische Küstenwache geht heute bei Pushbacks | |
viel brutaler vor als früher. Deshalb fahren Menschen heute häufig von der | |
Türkei aus direkt nach Italien – eine viel längere und gefährlichere | |
Strecke. | |
taz: Das Alarm-Phone will Druck auf die staatlichen Rettungsstellen | |
ausüben. Funktioniert das? | |
Rabe: Wir haben anfangs gute Erfahrungen gemacht, vor allem mit der | |
italienischen Küstenwache, sie war sehr kooperativ. Das hat sich etwa 2018 | |
geändert. Plötzlich hieß es: Es wird nicht mit den NGOs geredet. Es hieß, | |
wir arbeiteten mit „Schleppern“ zusammen, die Begründungen waren aber sehr | |
unkonkret. Heute sind die Behörden für uns kaum noch erreichbar. | |
taz: Die Notrufe sind nur möglich, weil die Menschen in den Booten von | |
Schleppern Satellitentelefone bekommen. Warum tun die das, während sie | |
gleichzeitig nicht einmal Rettungswesten ausgeben? | |
Rabe: Die Schlepper bieten einen Trip an und die Menschen sollen ja | |
ankommen, dazu gehört also ein Thuraya-Satellitentelefon. Rettungswesten | |
sind vor Abfahrt zu auffällig und Migration nach Europa ist ja hoch | |
kriminalisiert. Oft berichten Menschen, sie hätten wenig oder keine | |
Lebensmittel. Sie haben aber – wenigstens bei Abfahrt aus Libyen und | |
einigen anderen Orten – meist ein Thuraya. Viele wissen allerdings nicht, | |
dass das auch ein GPS-Gerät ist und wie es funktioniert. | |
taz: Können Sie ihnen das dann erklären? | |
Rabe: Ja, aber es dauert oft sehr lange, am Telefon zu erklären, wie die | |
Geodaten zu finden sind und uns die zu übermitteln. Wir laden auch das | |
Telefonguthaben auf, das ist wahnsinnig teuer. Man braucht etwa zehn | |
Einheiten für zwei, drei kurze Gespräche. Ein Gespräch kostet dann schnell | |
rund zehn Dollar. | |
taz: Wie bezahlen Sie das? | |
Rabe: Alles aus privaten Spenden, viel Geld geht in unsere Telefonkosten. | |
Insgesamt haben wir Ausgaben von etwa 150.000 Euro im Jahr, obwohl wir alle | |
unbezahlt arbeiten. | |
taz: Zur Unterstützung von Menschen in Seenot ist inzwischen die Suche nach | |
Vermissten gekommen. Wie muss man sich das vorstellen? | |
Rabe: Unser Netzwerk besteht aus rund 300 Menschen. Viele machen | |
Notruf-Schichten. Andere, etwa in Marokko, gehen in Hospitäler, | |
Leichenhallen und Polizeistationen, um Festgenommene und Überlebende zu | |
suchen, und machen Aufklärungsarbeit. Wir erhalten auch viele Anrufe von | |
Angehörigen, die Personen vermissen, die ein Boot nach Europa genommen | |
haben. | |
taz: Was tun Sie dann? | |
Rabe: Die offiziellen Stellen geben kaum mehr Informationen heraus, Infos | |
bekommen wir nur noch über informelle Kontakte. Mit den Vermissten ist es | |
noch schwieriger. Oft bleiben Schiffsunglücke unbemerkt, weil keine Leichen | |
gefunden werden. Die „silent shipwrecks“ tauchen in keiner Statistik auf, | |
die UN zählt nur Unglücke, die von Überlebenden bezeugt werden. Die Arbeit | |
mit Angehörigen und Hinterbliebenen machen wir, weil staatlichen Stellen | |
keine Unterstützung anbieten. | |
taz: Ihr erklärtes Ziel ist, Aufmerksamkeit auf die Lage im Mittelmeer zu | |
lenken. Inwieweit ist das heute noch möglich? | |
Rabe: Man dringt insgesamt mit dem Thema viel weniger durch als vor einigen | |
Jahren. Die öffentliche Aufmerksamkeit hat abgenommen und damit auch die | |
Möglichkeit, den Tod auf See zu skandalisieren. Bei großen Schiffsunglücken | |
lässt sich noch Aufmerksamkeit generieren, ansonsten ist das schwierig. Es | |
gibt weiter große Recherchen, etwa über Verbrechen, in die [2][Frontex | |
verwickelt ist]. Aber die Skandalisierung von Menschenrechtsverbrechen | |
läuft mehr und mehr ins Leere und wir müssen nach Strategien suchen, damit | |
umzugehen. | |
7 Nov 2024 | |
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## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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