| # taz.de -- Osteuropa-Experte über Westbalkan: „Die EU setzt Doppelstandards… | |
| > Osteuropa-Experte Ulf Brunnbauer über die Lage im Westbalkan und den | |
| > EU-Beitrittsprozess. Deutschland hat besonderes Interesse an Serbien. | |
| Bild: Westbalkankonferenz in Berlin: Familienerweiterung mit Hindernissen | |
| taz: Herr Brunnbauer, wie ist die Lage im Westbalkan? | |
| Ulf Brunnbauer: Ich habe den Eindruck, dass die Fortschritte der letzten | |
| Jahre wieder rückgängig gemacht werden. Je nach politischer Orientierung | |
| der einzelnen Regierungen findet ein steter Abbau demokratischer | |
| Institutionen statt. Im Westbalkan gehen viele davon aus, dass niemand den | |
| EU-Beitrittsprozess in Brüssel noch ernst nimmt. Eine düstere Situation. | |
| taz: Hat sich seit Beginn des Berliner Prozesses was getan? | |
| Brunnbauer: Durch den Kongress und andere Gesprächsformate gibt es viele | |
| Plattformen für diplomatischen Austausch. Aber das große Problem ist die | |
| Frage der EU-Mitgliedschaft. [1][Der Berliner Prozess hat den Beitritt | |
| leider nicht beschleunigt.] Das war das, was sich die Länder in der Region | |
| erhofft haben. | |
| taz: Wie wird im Westbalkan darauf geblickt? | |
| Brunnbauer: In der Presse der jeweiligen Länder wird das Treffen als | |
| Pflichtübung wahrgenommen. Er ist eine Chance, um etwas internationale | |
| Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Mehr nicht. An eine Mitgliedschaft bis | |
| 2030 glaubt niemand. | |
| taz: Am Montag gibt es eine Abschlusserklärung von Kanzler Olaf Scholz. Was | |
| erwarten Sie davon? | |
| Brunnbauer: Spätestens in einem Monat wird sie vergessen sein. Aber das | |
| wäre nicht die erste Abschlusserklärung, die ein solches Schicksal | |
| erleidet. | |
| taz: Was gibt es denn für gravierende Probleme in der Region? | |
| Brunnbauer: Die Länder sind nach wie vor von enormer Abwanderung betroffen. | |
| Die gut ausgebildeten jungen Arbeitskräfte verlassen das Land. Der ewige | |
| Beitrittsprozess sorgt für Stillstand. Er dient einigen politischen Führern | |
| vor Ort als gute Ausrede dafür, notwendige Reformen zu unterlassen. Daher | |
| ist die Zustimmung zu einem EU-Beitritt zuweilen nicht mehr enthusiastisch. | |
| Manche haben die Hoffnung aufgegeben. | |
| taz: Woran liegt das? | |
| Brunnbauer: Die EU setzt Doppelstandards. So sehen es die Leute vor Ort. | |
| Einerseits nehmen sie wahr, dass es Länder wie Ungarn gibt, die ständig | |
| europäisches Recht verletzen. Dort herrscht keine funktionierende | |
| Demokratie mehr. Die Leute fragen sich: Warum gibt es für mein Land so eine | |
| hohe Erwartungshaltung, wenn selbst EU-Mitglieder Demokratieabbau | |
| betreiben? | |
| taz: Auf dem Gipfel 2022 hat Kanzler Scholz bekräftigt, dass die Staaten | |
| des Westbalkans so schnell wie möglich der EU beitreten sollen. Gilt das | |
| noch? | |
| Brunnbauer: Offiziell schon, aber ich sehe jetzt nicht den politischen | |
| Willen, vielleicht am ehesten noch in der EU-Kommission. | |
| taz: Warum fehlt der politische Wille? | |
| Brunnbauer: Nach der russischen Invasion in der Ukraine ist die Region | |
| stärker ins Zentrum gerückt. Deutschland wollte verhindern, dass der | |
| Westbalkan zu einem schwarzen Loch wird, wo Russland seinen Einfluss | |
| ausbauen kann. Doch der Elan ist weg. Ich glaube nicht, dass alle | |
| EU-Mitgliedstaaten ein wirkliches Interesse an einer zügigen Umsetzung der | |
| Beitritte haben. | |
| taz: Für den Beitritt gelten die Kopenhagener Kriterien. Dazu gehören | |
| institutionelle Stabilität und eine demokratische Rechtsordnung. Erfüllt | |
| ein Land im Westbalkan diese Kriterien? | |
| Brunnbauer: Nein, aber das haben Bulgarien und Rumänien 2007 auch nicht | |
| getan. Dennoch war es wichtig, sie aufzunehmen. Damals wären die negativen | |
| politischen Folgen für die EU größer gewesen, wenn man sie nicht | |
| aufgenommen hätte. | |
| taz: Plädieren Sie für die Aufnahme weiterer Länder aus dem Westbalkan, die | |
| EU-Standards nicht erfüllen? | |
| Brunnbauer: Man müsste etwas Fantasie für neue Beitrittsmodelle entwickeln. | |
| Aktuell gibt es nicht viel politische Energie dafür, wie die EU sich im | |
| Inneren ändern könnte, um wieder aufnahmefähig zu werden. | |
| taz: Ist die Aussicht auf einen Beitritt überhaupt noch ein Anreiz für | |
| Reformen? | |
| Brunnbauer: Das ist schwer zu sagen, weil die sechs Länder recht | |
| unterschiedlich sind. Zumindest die theoretische Option einer | |
| Mitgliedschaft motiviert immer noch. Es ist aber offenkundig nicht | |
| ausreichend, um etablierte undemokratische oder korrupte Praktiken zu | |
| beenden. Wir haben es hier mit Augenwischerei zu tun. Es gibt diese | |
| Perspektive, aber das reicht nicht, um wirklich etwas zu verändern. | |
| taz: Das Freihandelsabkommen CEFTA war Thema des Gipfels. Welche Rolle | |
| spielt es für die Region? | |
| Brunnbauer: Die Forderung nach regionaler Integration und einer Verstärkung | |
| des Handels zwischen den Ländern ist sinnvoll. Zu hoffen ist, dass sich vor | |
| allem die bilateralen politischen Beziehungen verbessern. Aber einen | |
| wirklichen Fortschritt kann man davon nicht erwarten. Dazu sind die | |
| Ökonomien einfach zu gleich. | |
| taz: Was bedeutet das? | |
| Brunnbauer: Es gibt kaum etwas, womit die Westbalkanstaaten untereinander | |
| handeln können, weil sie so wenig produzieren. Für das, was sie exportieren | |
| können, gibt es kaum Märkte in den anderen CEFTA-Ländern. Die wenigsten | |
| Branchen sind konkurrenzfähig genug, um innerhalb der EU oder des | |
| Weltmarkts zu bestehen. Das wird CEFTA nicht ändern. | |
| taz: Wie kann man den Handel der Länder stärken, wenn nicht durch CEFTA? | |
| Brunnbauer: Besser wäre es, den Ländern einen Zugang zum EU-Binnenmarkt zu | |
| ermöglichen. Das könnte man vor einer Vollmitgliedschaft in den politischen | |
| Strukturen der EU durchsetzen. | |
| taz: Also braucht es neue Beitrittsmodelle? | |
| Brunnbauer: Es gibt Befürworter von so einem graduellen Beitrittsprozess. | |
| Wo der EU-Beitritt eines Landes nicht alle Rechte und Pflichten umfasst, | |
| sondern erst den Zugang zum Binnenmarkt regelt. | |
| taz: Wie realistisch ist so eine graduelle Integration? | |
| Brunnbauer: Das Problem ist, dass alle Ökonomien im Westbalkan eher klein | |
| und unattraktiv sind. Außerdem existieren aufgrund des starken staatlichen | |
| Einflusses keine funktionalen Marktwirtschaften. | |
| taz: Können Sie ein Beispiel nennen? | |
| Brunnbauer: Serbien ist sicherlich der markanteste Fall. Es ist das Land, | |
| das mittlerweile im Westbalkan am autoritärsten ist. Es herrscht keine | |
| Demokratie mehr. Die Wirtschaft ist korrumpiert. | |
| taz: Deutschland scheint das nicht zu stören. Beide Länder haben kürzlich | |
| eine strategische Partnerschaft geschlossen. Was halten Sie von dem | |
| deutschen Lithium-Deal? | |
| Brunnbauer: Naja, was soll man dazu sagen? Es ist an Zynismus kaum zu | |
| überbieten. [2][Serbien soll in Zukunft die Lithium-Abbaustelle] für ganz | |
| Europa werden. Demokratische Defizite waren plötzlich vergessen. Kürzlich | |
| kam der deutsche Bundeskanzler und schüttelte herzlich die Hand des | |
| serbischen Präsidenten. Abgesehen [3][von den massiven Umweltproblemen, | |
| sind das fatale Abhängigkeiten,] die durch den Lithiumabbau entstehen | |
| werden. Olaf Scholz verlagert die negativen Folgen der Klimatransformation | |
| in semi-autokratische Länder. Das erinnert an deutsche Öl-Deals mit Ländern | |
| wie Saudi-Arabien. | |
| taz: Hat Deutschland Bedingungen für die Zusammenarbeit genannt? | |
| Brunnbauer: Auf dem Papier schon. Aber der Deal wurde so schnell | |
| geschlossen, dass der Handel nicht einmal als Hebel für das Einfordern von | |
| bestimmten Reformen in Serbien taugt. Ich finde, das ist ein fatales Signal | |
| an die serbische Zivilgesellschaft, die seit Jahren gegen Bergbauprojekte, | |
| die zu massiven Umweltschäden führten, kämpft. Aus deren Perspektive fällt | |
| ihnen Deutschland jetzt in den Rücken. Extraktionsindustrien führen in der | |
| Regel immer nur zur weiteren [4][Verstärkung korrupter Systeme.] | |
| taz: Wie wird sich der Westbalkan entwickeln? | |
| Brunnbauer: Ich bin mittlerweile sehr pessimistisch. Meine Befürchtung ist, | |
| dass in ein paar Jahren kaum noch jemand in diesen Ländern leben wird. Dann | |
| existiert nur noch eine politische Elite, die sich selbst und ein paar alte | |
| Leute, die nicht auswandern konnten, regiert. | |
| taz: Wie soll es nach dem Gipfeltreffen weitergehen? | |
| Brunnbauer: Ich denke, dass eine Big-Bang-Lösung das Beste für den | |
| Westbalkan wäre. | |
| taz: Was meinen Sie damit? | |
| Brunnbauer: Eine rasche und zeitgleiche Aufnahme aller sechs Länder in die | |
| EU. Durch zeitlich gestaffelte Beitritte würde man eher noch mehr Probleme | |
| schaffen als Lösungen. Gleichzeitig muss klar sein, dass die Länder, | |
| vornehmlich Serbien, erst ihre bilateralen Konflikte lösen. | |
| taz: Inwiefern? | |
| Brunnbauer: Die [5][Anerkennung des Kosovo] sollte eine klare Bedingung für | |
| Serbiens EU-Beitritt sein. Sonst muss man den Prozess abbrechen. Die EU | |
| sollte aufhören, die korrupten Eliten durch europäische Fördergelder zu | |
| finanzieren. | |
| taz: Welches Signal sollte Deutschland senden? | |
| Brunnbauer: Berlin muss bereit für eine rasche Aufnahme der | |
| Westbalkanstaaten sein. In den letzten Jahren ist es schwer geworden, dafür | |
| eine Mehrheit zu finden. Vor allem, weil der allgemeine Rechtsruck in der | |
| EU Reformen verhindert. | |
| 14 Oct 2024 | |
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| Stella Lueneberg | |
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