# taz.de -- Flüchtlingsunterbringung in Bulgarien: „Sehr viele schlafen im P… | |
> Mehr Abschiebungen nach Bulgarien und andere Schengen-Länder? | |
> Flüchtlingshelfer Stephan Reichel hat vor Ort mit Betroffenen gesprochen. | |
> Und war entsetzt. | |
Bild: In Bulgarien landen Geflüchtete oft im Gefängnis oder werden sich selbs… | |
taz: Der Mann, der in Solingen im August das Messerattentat beging, | |
[1][hätte eigentlich letztes Jahr nach Bulgarien abgeschoben werden | |
sollen]. CDU-Chef Friedrich Merz fordert deshalb, konsequenter nach | |
Bulgarien und in andere Schengen-Staaten abzuschieben. Und er ist damit | |
nicht allein. Haben Sie dafür Verständnis? | |
Stephan Reichel: Nein, überhaupt nicht. Eine solche Forderung kann nur von | |
jemandem kommen, der nichts mit Flüchtlingen zu tun hat und nicht in der | |
Materie ist. Politiker, die sich auskennen – und die gibt es auch in der | |
CDU –, wissen, wie problematisch solche Abschiebungen sind. | |
taz: Die Ampel hat gerade massive Verschärfungen für die sogenannten | |
Dublin-Fälle beschlossen, in denen eigentlich ein anderer EU-Staat für das | |
Asylverfahren zuständig wäre. Sie waren Anfang September für zehn Tage | |
selber in Bulgarien. Warum? | |
Reichel: Wir sind dort als eine Gruppe von Helfern und Experten aus dem | |
Bereich des Kirchenasyls hingefahren, um uns ein Bild von der Situation zu | |
verschaffen. Wir wollten möglichst objektiv feststellen, ob die vielen | |
Berichte stimmen, die wir ja fast täglich von Flüchtlingen vor allem aus | |
Syrien und Afghanistan bekommen. Ob sie dort tatsächlich zum Teil | |
unmenschlich behandelt werden, ob die Zustände in den Lagern und | |
Gefängnissen so katastrophal sind, wie sie es uns schildern. | |
taz: Und? Stimmen die Berichte? | |
Reichel: Wir haben mit Behördenvertreterinnen gesprochen, mit Anwälten, mit | |
Helferinnen der wenigen Nichtregierungsorganisationen im Land und natürlich | |
auch mit vielen Flüchtlingen. Wir waren in Harmanli, dem größten | |
Flüchtlingslager, aber zum Beispiel auch an der Grenze. Die Berichte | |
stimmen. Davon bin ich nach der Reise überzeugter denn je. | |
taz: Was haben Sie denn dort für Zustände vorgefunden? | |
Reichel: Die Zustände sind katastrophal. In Harmanli gibt es zwar gerade | |
einen ganz neuen, engagierten Leiter, der versucht, die Situation zu | |
verbessern. Aber ohne Geld sind ihm natürlich auch die Hände gebunden. Ich | |
glaube, ihm stehen 3,02 Euro pro Tag und Flüchtling zur Verfügung. Da gibt | |
es nicht viel Spielraum. | |
taz: Was erwartet einen Flüchtling, der von Deutschland nach Bulgarien | |
abgeschoben wird? | |
Reichel: Zunächst einmal darf man nicht vergessen, dass diese Menschen | |
immer mit einer Vorgeschichte zurückkommen. Sie haben fast alle die | |
Erfahrung von Pushbacks, Verhaftungen, schweren Schlägen, Gefängnis und | |
Lager gemacht – was sie schon einmal belastet. Bei den Rückkehrern gibt es | |
dann zunächst die relativ kleine Gruppe derer, die bereits in Bulgarien | |
abgelehnt worden waren. Die kommen direkt in ein spezielles | |
Abschiebegefängnis. Je nach Herkunftsland werden sie dann gleich | |
abgeschoben oder bleiben bis zu 18 Monate in dem Gefängnis, in Einzelfällen | |
sogar noch länger. | |
taz: Und was ist mit denen, die nicht abgelehnt wurden? | |
Reichel: Die anderen Flüchtlinge, etwa die Syrer, genießen internationalen | |
Schutz, sind in Bulgarien ohnehin schon registriert und werden nach ihrer | |
Ankunft am Flughafen einfach weggeschickt. So landen sie dann entweder auf | |
der Straße oder kommen – wenn sie Glück haben – bei irgendwelchen privaten | |
Kontakten unter. Die meisten von ihnen können überhaupt nur deshalb | |
überleben, weil sie noch Familienangehörige in Deutschland oder anderswo | |
haben, die ihnen, soweit irgendwie möglich, etwas Geld schicken. Sehr viele | |
schlafen im Park. Bei der großen alten Moschee mitten in Sofia ist ein | |
Park, der nachts voll ist mit Flüchtlingen. | |
taz: Können diese Menschen denn arbeiten? | |
Reichel: Legale Arbeitsmöglichkeiten gibt es kaum. Dazu braucht man zum | |
Beispiel einen festen Wohnsitz. Wer jung und tüchtig ist, kann sich | |
vielleicht als Tagelöhner auf dem Schwarzmarkt durchschlagen. | |
taz: Sie sprachen von den Vorerfahrungen dieser Rückkehrer. Was haben die | |
Menschen denn klassischerweise bei ihrer ursprünglichen Flucht bereits | |
durchgemacht? | |
Reichel: Die wohl eindrucksvollste Begegnung auf unserer Reise war die mit | |
einem Mann, einem Iraner, der nichts anderes macht, als die Wälder an der | |
Grenze in der Nähe von Harmanli abzufahren, auf der Suche nach | |
Flüchtlingen, die sich dort verlaufen haben, die halb verhungert sind oder | |
die durch schwere Schläge der Schlepper oder der Polizei verletzt | |
liegengeblieben sind. Er hat uns erzählt, dass er allein letztes Jahr 57 | |
Leichen aus dem Wald geborgen hat. Und das ist nur ein ganz kleiner | |
Abschnitt der gesamten fast 1.000 Kilometer langen bulgarischen Südgrenze. | |
taz: Es gibt also Gewalt an der Grenze? | |
Reichel: … ja, die Leute müssen sich ausziehen, werden geschlagen, | |
ausgeraubt, teilweise sogar angeschossen. | |
taz: Warum? | |
Reichel: Ich denke, dass die Gewalt fast schon zum Selbstzweck wird. Wenn | |
Polizisten einmal angefangen haben zu prügeln, dann tun sie es, bis ihnen | |
ganz klar Einhalt geboten wird. Die Behörden in Sofia dulden die Gewalt | |
jedoch: Je brutaler es an der Grenze zugeht, desto größer ist die erhoffte | |
Abschreckung. Jetzt fangen sie sogar wieder an, Wachtürme zu bauen, während | |
da immer noch die alten Wachtürme aus der kommunistischen Zeit rumstehen. | |
Genau an dieser Grenze sind hunderte DDR-Bürger erschossen worden, die | |
versucht haben, den Bulgarien-Urlaub für eine Flucht in die Türkei zu | |
nutzen. | |
taz: Bulgarien will also offenbar Flüchtlinge draußen halten. Wie | |
bereitwillig nimmt das Land denn dann Flüchtlinge zurück, für deren | |
Asylantrag es eigentlich zuständig wäre? Es gibt ja Länder, die sich | |
schlicht weigern. | |
Reichel: Ja, jeder macht das, wie er will. Bulgarien scheint heilfroh zu | |
sein, dass es zu Schengen gehört, und will jetzt wohl alles richtig machen, | |
auch wenn es das Land belastet. | |
taz: Flüchtlinge, die an der Grenze aufgegriffen worden sind, kommen | |
zunächst fast alle für einige Wochen ins Gefängnis. Wie passt das damit | |
zusammen, dass die Bulgaren, wie Sie sagen, „alles richtig machen“ wollen? | |
Reichel: Richtig machen heißt in diesem Fall: richtig im Sinne des | |
Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Und das BAMF argumentiert | |
ja noch immer, dass das alles im Rahmen normaler polizeilicher Gewalt sei. | |
Und wenn Deutschland das in Ordnung findet, finden die entsprechenden | |
Behörden in Bulgarien das natürlich erst recht in Ordnung. Die Gewalt an | |
der Grenze setzt sich in den Gefängnissen fort, insbesondere in Butsmansi | |
bei Sofia. In Ljubamets, nahe der türkischen Grenze, einem Gefängnis, das | |
wir von außen gesehen haben, sind schwere Misshandlungen an der | |
Tagesordnung. Da gibt’s einen Container ohne Videoüberwachung, in dem die | |
Flüchtlinge verprügelt werden, auch Frauen und Kinder. | |
taz: Sind das spezielle Gefängnisse für Flüchtlinge? | |
Reichel: Inzwischen ja. Aber unter den Flüchtlingen gibt es auch manchmal | |
Schwerkriminelle. Mir haben Flüchtlinge von einem afghanischen Mörder | |
erzählt, der mit ihnen in einer Zelle war und dort Angst und Schrecken | |
verbreitet haben muss. Und im Flüchtlingslager Harmanli gibt es den | |
berüchtigten Block 11, in dem besonders viele gewaltbereite Flüchtlinge | |
untergebracht sind – Menschen, die zum Teil in ihrem Leben nichts anderes | |
als Krieg und Gewalt kennengelernt haben. Dort kommt es immer wieder auch | |
zu Messerstechereien. | |
taz: Da hören wir doch gleich Herrn Merz einwenden: Sollen die doch ihre | |
Messerstechereien besser in Bulgarien austragen als auf unseren | |
Stadtfesten. | |
Reichel: Aber das wäre sehr zynisch. Und mehr als 95 Prozent der Syrer sind | |
sicher keine Kriminellen. Im Gegenteil: Oft sind sie die Leidtragenden, | |
weil sie mit solchen Typen zusammenleben müssen. Ich habe auch ein paar von | |
denen kennengelernt. Aus dem Bauch heraus sagt man dann natürlich: Die | |
sollten eigentlich nicht nur in Bulgarien, sondern gleich in ihren | |
Herkunftsländern bleiben, und dort am besten im Knast. Aber juristisch geht | |
das so nicht. Verbrecher müssen bestraft werden, keine Frage. Aber dafür | |
gibt es das Strafrecht, nicht das Asylrecht. | |
taz: Inwieweit ist Bulgarien ein Einzel- oder zumindest Extremfall? | |
Rumänien, Ungarn, Polen, selbst die baltischen Staaten pflegen ja auch | |
einen robusten Umgang mit Flüchtlingen. | |
Reichel: In Grundzügen ist die Situation vergleichbar. In Lettland und | |
Litauen sind zumindest die Bedingungen in den Gefängnissen deutlich besser. | |
Und in Rumänien soll es nicht mehr so schwere Gewaltexzesse geben wie | |
früher. Was die Rücknahmen angeht, ist die Situation im Süden eine ganz | |
andere. Italien nimmt gar keine Flüchtlinge mehr zurück und begründet das | |
mit einem nationalen Notstand. Dabei liegt die Zahl der Flüchtlinge, die | |
jährlich dort ankommen, unter 140.000. Das ist kein nationaler Notstand. | |
taz: Na ja, auch da könnte man noch mal auf Friedrich Merz Bezug nehmen, | |
der den nationalen Notstand sogar in Deutschland sieht, und damit die | |
geforderte Zurückweisung von Flüchtlingen direkt an der Grenze begründet. | |
Reichel: Das ist natürlich völlig absurd. Es gibt keinen nationalen | |
Notstand bei uns, und ich denke, das weiß Herr Merz genau. Ich wundere | |
mich, dass eine Volkspartei einen Spitzenkandidaten haben kann, der so | |
offensichtlich völlig faktenfern argumentiert. | |
taz: Nach Artikel 17 des Dublin-Abkommens kann jeder Staat auch den | |
Selbsteintritt ins Asylverfahren erklären, wenn die Abschiebung aus | |
humanitären Gründen nicht infrage kommt. Nach allem, was man von Ihnen | |
hört, ist das in Bulgarien eigentlich immer der Fall. Darf Deutschland dann | |
überhaupt nach Bulgarien abschieben? | |
Reichel: Juristisch gesehen ist das nur eine Kann-Regel. Aber es liegt | |
natürlich nahe, dass ein Rechtsstaat, der Deutschland immer noch sein | |
sollte, diese Konsequenz zieht. | |
taz: Sie haben Bundesinnenministerin Nancy Faeser schon vor einem Jahr | |
angeschrieben und auf die Situation aufmerksam gemacht. Wie hat sie | |
reagiert? | |
Reichel: Sie hat geantwortet, dass sie davon nichts wisse und ihr keine | |
entsprechenden Berichte vorlägen. Das ist auch regelmäßig die Argumentation | |
des BAMF. Dabei sind da schon allein die über 400 Berichte von Betroffenen, | |
die ich selbst dem BAMF vorgelegt habe. Und die sind glaubwürdig; für viele | |
von ihnen würden wir jederzeit eine eidesstattliche Erklärung bekommen. | |
30 Oct 2024 | |
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## AUTOREN | |
Dominik Baur | |
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