# taz.de -- Kritik am System der Jugendhilfe: „Ich dachte, ich bin falsch“ | |
> Sozialwissenschaftlerin Michaela Heinrich-Rohr lebte in einer | |
> Jugendwohngemeinschaft. Heute lehrt sie Soziale Arbeit – und kritisiert | |
> die Jugendhilfe. | |
Bild: Michaela Heinrich-Rohr lebte als Kind in einer Jugendwohngemeinschaft; he… | |
taz: Frau Heinrich-Rohr, Sie sind Careleaver, was bedeutet das? | |
Michaela Heinrich-Rohr: Careleaver sind Menschen, die einen Teil ihres | |
Lebens in einer Pflegefamilie oder einer [1][Einrichtung der Jugendhilfe] | |
verbracht haben und diese auf dem Weg in ein eigenständiges Leben wieder | |
verlassen. Careleaver ist darüber hinaus eine Selbstbezeichnung für die | |
Zeit danach. Auch wenn man wie ich etwas älter ist, darf man sich so | |
nennen. | |
taz: Warum der englische Begriff? | |
Heinrich-Rohr: Die Bewegung kommt aus dem englischsprachigen Raum. | |
Careleaver ist sehr identitätsstiftend und weniger negativ besetzt als der | |
Begriff Heimkind. Das wissen wir sowohl aus der Literatur als auch aus | |
eigenen Erfahrungen. Heimkinder unterliegen einem negativen Stigma. Es gibt | |
den Spruch: „Wenn du nicht lieb bist, kommst du ins Heim.“ Da kann es | |
nichts Gutes sein. | |
taz: Wie kamen Sie in die Jugendhilfe? | |
Heinrich-Rohr: Ich wurde 1981 im Arbeiterviertel Berlin-Neukölln geboren. | |
Meine Eltern waren noch sehr jung. Und beide waren Heimkinder, hier nutze | |
ich dieses Wort, weil die Bedingungen andere waren. Mein Vater kam in den | |
1960er Jahren schon sehr früh in ein katholisches Kinderheim, weil es in | |
seiner Familie schwerste Kindesmisshandlung gab. Und meine Mutter war mit | |
15 Jahren von zu Hause weggelaufen und flüchtete zur Heilsarmee. Beide | |
waren völlig auf sich allein gestellt und hatten keine familiäre | |
Unterstützung. Sie hatten keinen Schul- und Berufsabschluss. Das waren | |
schwere Bedingungen, ein kleines Kind großzuziehen. | |
taz: Besuchten Sie eine Kita? | |
Heinrich-Rohr: Nein, ich ging in keine Kita. Als ich zwei war, zogen wir in | |
eine Souterrainwohnung an einer stark befahrenen Hauptstraße. Vor meinem | |
Kinderzimmerfenster verrichteten Hunde ihr Geschäft. Für mich als Kind war | |
das nicht schlimm. Aber später, wenn ich Freunde mit nach Hause nehmen | |
wollte, wurde das schwierig. Obwohl meine Eltern mir das größte Zimmer | |
gaben und alles versuchten, mir ein besseres Leben zu ermöglichen. | |
taz: Waren Sie ein Einzelkind? | |
Heinrich-Rohr: Ja. Und meine Eltern wollten es mit mir besser machen als | |
ihre Eltern mit ihnen. Aber dafür fehlte ihnen die nötige Unterstützung. So | |
holten sie die alten Geister immer wieder ein. Das prägte unser | |
Familienleben. | |
taz: Können Sie ein Beispiel dafür geben? | |
Heinrich-Rohr: Meine Eltern wurden schwer misshandelt. Ich wurde nicht | |
geschlagen. Aber mir ging es aus anderen Gründen oft sehr schlecht. Sie | |
griffen auf andere Verhaltensweisen zurück, die mir die Entwicklung eines | |
positiven Selbstbildes erschwerten. Ein Problem ist hier das Bild vom Kind. | |
taz: Das Kind ist immer schuld? | |
Heinrich-Rohr: Ja, das Gefühl, dass das Kind mir Böses möchte und mich | |
nicht ernst nimmt. Aus heutiger Sicht denke ich, meine Eltern hatten keinen | |
wirklichen Kontakt zu ihrem eigenen inneren Kind. Und weil ihre | |
traumatischen Erlebnisse ohne professionelle Unterstützung nicht | |
aufgearbeitet wurden, war es ihnen kaum möglich, eine gesunde Beziehung zu | |
mir als Kind aufzubauen. Dies wurde immer problematischer, je älter und | |
autonomiebedürftiger ich geworden bin. | |
taz: Als Sie zur Schule kamen? | |
Heinrich-Rohr: Ich muss sagen, meine Eltern versuchten trotz alledem das | |
Bestmögliche. Meine Mutter war Hauswartin und machte Mietshäuser sauber und | |
ich half hier und da. Als ich in die Vorschule kam, empfahl die Erzieherin, | |
mich auf eine Sprachförderschule zu schicken. Das war für meine Mutter | |
schlimm. Sie war auf einer Sonderschule gewesen und hatte große Angst, dass | |
ich da auch hinmuss. Sie ging mit mir zum Kinder- und | |
Jugendgesundheitsdienst und dort wurde ich getestet. Ergebnis war, dass ich | |
logopädische Unterstützung benötigte. Daraufhin ging meine Mutter mit mir | |
regelmäßig zur Logopädin und das Thema war vom Tisch. | |
taz: Eine starke Leistung Ihrer Mutter. | |
Heinrich-Rohr: Ja. Ich wiederholte die Vorschule, begann viel zu sprechen | |
und kam in die Grundschule. Das war die schönste Zeit meines Lebens. Ich | |
weinte, wenn Ferien waren. Da bekam ich die Anerkennung, die mir damals | |
fehlte. Meine Klassenlehrerin sah mein Potenzial, das spürte ich und ich | |
liebte sie über alles. Ich hatte gute Noten und Ehrgeiz und dann ging ich | |
aufs Gymnasium. Ich wollte unbedingt dort hin. Die Zeit wurde hart. | |
taz: In welcher Weise? | |
Heinrich-Rohr: Zu Hause warfen meine Eltern mir vor, ich hielte mich für | |
was Besseres. Das schmerzte sehr. Und auf dem Gymnasium war ich die, die | |
nicht dazugehörte. Die Mädels gingen reiten und die Jungs riefen: „Na, | |
treffen wir uns nachher auf dem Golfplatz?“ Das war mir so fremd, so fern. | |
Und ich in meiner Souterrainwohnung, das war ganz merkwürdig. Ich bekam am | |
Gymnasium auch hier und da mal unberechtigterweise schlechtere Noten. Heute | |
sage ich, da war klar Klassismus im Spiel. Man hört nicht mehr, dass ich | |
aus Berlin bin. Ich musste meinen ganzen Habitus ändern, um irgendwie | |
dazuzugehören. Ich dachte immer, ich bin falsch. | |
taz: Auch im Unterricht? | |
Heinrich-Rohr: Ja. Eine Situation, die sich mir einprägte, war, als ich in | |
der 9. Klasse ein Referat zum Nationalsozialismus halten sollte. Man hatte | |
mir nie gezeigt, wie das geht. Und in Bibliotheken gingen meine Eltern mit | |
mir nie. Aber ich gab mir große Mühe. Ich lieh mir Bücher aus und erstellte | |
Overhead-Folien für meinen Vortrag. Ich stellte mich vorne hin und | |
präsentierte meine Folien. Ich bekam eine sechs. | |
taz: Und mit welcher Begründung? | |
Heinrich-Rohr: Ich weiß es nicht. Es war still danach. Der Vortrag war | |
vermutlich schlecht, aber keine sechs. Danach traute ich mich bis zum | |
mündlichen Abitur nicht wieder, vor anderen zu sprechen. So war die | |
Gymnasialzeit. Mir ging es schlecht. Die Lehrer ignorierten meine Hilferufe | |
oder erkannten diese nicht. Ich erinnere eine Situation, da brach ich | |
heulend zusammen. Da brachten sie mich ins Erste-Hilfe-Zimmer und das war | |
es. Es gab keine Gespräche. | |
taz: Wann gingen Sie zum Jugendamt? | |
Heinrich-Rohr: Mit 14. Die schwierige Familiengeschichte, die Schule, das | |
hat sich alles verstärkt. Ich ging – unterstützt durch eine Nachbarin und | |
spätere Freundin – zum Jugendamt und sagte: Ich kann nicht mehr. Ich will | |
nicht mehr zu Hause leben. Ich schaffe auch so mein Abitur nicht. Aber die | |
Sozialarbeiterin des Jugendamtes sagte nur: Gut, dass du hier bist, aber du | |
musst mit deinen Eltern kommen. Die müssen das unterschreiben. | |
taz: Wie reagierten Ihre Eltern darauf? | |
Heinrich-Rohr: Gar nicht. Ich wusste, ich konnte meinen Eltern nichts | |
Schlimmeres antun, als mich an das Jugendamt zu wenden. Da gab ich die | |
Sache erst mal auf. Dabei kam die Dame des Jugendamtes damals ihrer | |
Informationspflicht nicht nach. Es ist formal richtig: Eltern müssen den | |
Antrag auf Erziehungshilfe unterschreiben. Aber sie hätte mir sagen müssen, | |
dass ich auch in einen Notdienst hätte gehen können, und mich über andere | |
Beratungsmöglichkeiten aufklären müssen. | |
taz: Sie schafften es nicht, Ihren Eltern davon zu erzählen? | |
Heinrich-Rohr: Das konnte ich nicht. Ich wusste von ihrer Heimgeschichte. | |
Und ich wusste nicht, was passiert. Ich hatte Angst. Meine Eltern waren zu | |
der Zeit unberechenbar. Aber es blieb zu Hause ganz schlimm. Aus diesem | |
Grund ging ich – wieder unterstützt durch meine Nachbarin – mit 15 noch mal | |
hin und holte mir einen Termin. Ich ging nach Hause und sagte meinen | |
Eltern: „Ich war beim Jugendamt, ich will hier nicht mehr leben. Wir haben | |
in zwei Wochen einen Termin.“ Das wurden die schlimmsten zwei Wochen meines | |
Lebens. | |
taz: Ihre Eltern fühlten sich verraten? | |
Heinrich-Rohr: Natürlich. Das riss alle Wunden auf. Es war der größte | |
Verrat, aber wir gingen tatsächlich alle drei zum Jugendamt. Am Ende des | |
Tages unter vielen Tränen meiner Mutter und mir unterschrieben meine Eltern | |
den Antrag [2][und ich zog in eine betreute Wohngemeinschaft]. | |
taz: Wie war es da? | |
Heinrich-Rohr: Das war ebenfalls eine sehr intensive Zeit. Es war eine | |
Wohngemeinschaft für Jugendliche zwischen 15 und 17 Jahren. Die | |
Betreuer*innen kamen nur mittags bis abends. Am Wochenende war keiner | |
da. Sechs junge Menschen in so einer Wohngemeinschaft. Sorry, das kann nur | |
schiefgehen. Und wie es halt immer ist in so einer „Zwangsgemeinschaft“, | |
wurde ich erst mal getestet. Das war nicht schön. Die merkten aber schnell, | |
dass ich mich wehren konnte. | |
taz: Was heißt hier testen? | |
Heinrich-Rohr: Wo sind meine wunden Punkte? Sie warfen draußen mit Steinen | |
nach mir und lachten, beispielsweise. Solche Spielchen. Oder Sachen | |
wegnehmen und so weiter … So etwas kann in einer Wohngruppe, bei fehlender | |
Begleitung und Unterstützung durch pädagogisches Personal, auftreten. Da | |
war eine Mitbewohnerin, Merle*, die mich zum Glück unterstützte. | |
taz: Die Erwachsenen nicht? | |
Heinrich-Rohr: Ich sprach schon mit den Betreuern. Das wurde dann deutlich | |
später bei einem Gruppenabend thematisiert. In Ruhe ließen sie mich aber da | |
schon zuvor. Das hatte ich insbesondere Merle zu verdanken. | |
taz: Wieso sagen Sie „Zwangsgemeinschaft“? | |
Heinrich-Rohr: Die Leute leben nicht freiwillig zusammen. Gefühlt war das | |
für mich die einzige Wohngruppe, in der ich sein konnte. Und ich zog erst | |
zu meinem 18. Geburtstag aus. Ich bekam die Geschichten der anderen mit, | |
sah auch die Verläufe. Man sieht, was für Unrecht ihnen passiert ist und | |
wie auch das Hilfesystem sie leider im Stich lassen kann. Ich hatte | |
verdammt viel Glück. Merle hatte kein Glück. Sie ist heute am Kottbusser | |
Tor und spritzt. Sie war eine tolle junge Frau, bei der das Hilfesystem | |
versagt hat. | |
taz: Was hätte passieren müssen? | |
Heinrich-Rohr: Dass ich später mein Abitur schaffte, verdanke ich nur | |
Christa, der Sozialpädagogin, die ich mit 18, als ich allein wohnte, zur | |
Seite gestellt bekam. Ich verdanke es nicht den Betreuer*innen der | |
Wohngruppe. Ein Betreuer saß nur im Betreuerzimmer und schrieb seine | |
Diplomarbeit. Die andere erzählte mir von ihren eigenen Problemen. Das war | |
eine emotional missbräuchliche Situation. | |
taz: Und Christa hat geholfen? | |
Heinrich-Rohr: Definitiv. Christa kam zweimal die Woche und sah nach dem | |
Rechten. Ihr verdanke ich, dass ich Jugendhilfe bis 21 bekam. Der Kontakt | |
besteht heute noch. Sie ist in meiner Familie Oma Christa. Ich sitze hier | |
mit ein paar akademischen Titeln und muss sagen, nichts in meinem Leben war | |
so herausfordernd wie dieses Abitur. Aber Jugendhilfe endet genau in dieser | |
Phase zwischen 18 und 21. Das Jugendamt muss zwar Hilfe bis 21 gewähren, | |
aber auch noch heute passiert das viel zu selten. | |
t az: Ihren damaligen Mitbewohnern fehlte diese Begleitung ins | |
Erwachsenwerden? | |
Heinrich-Rohr: Ja. Es wird zu selten geschaut, ob ein Bedarf an Jugendhilfe | |
besteht. Das Gesetz sieht vor, dass ein Jugendamt gut begründen muss, wenn | |
es diese Hilfe nicht leistet. Aber in der Praxis ist es andersherum. Und | |
wenn die Hilfe gewährt wird, dann gibt es noch heute zu oft die Situation, | |
dass die jungen Menschen alle drei Monate zum Amt müssen, zitternd, ob die | |
beantragte Hilfe weiter bewilligt wird und ob sie ihre wichtigste | |
Bezugsperson verlieren. Seit Juni 2021 heißt es zwar im Gesetz, dass Hilfe | |
für junge Volljährige gewährleistet werden „muss“. Die Gewährungspraxis… | |
sich aber noch nicht wirklich geändert. | |
taz: Wie half Christa bei Ihrem Abi? | |
Heinrich-Rohr: Sie fragte zum Beispiel, „Na, wann hast du denn deine | |
Klausur, lass uns Vokabeln üben.“ Sie coachte mich. Und konnte sie nicht | |
helfen, organisierte sie, dass jemand anderes es tat. Sie machte das, was | |
Eltern tun. Christa hat für Nachhilfe eine Finanzierung organisiert, | |
manchmal über das Jugendamt, in der Regel aber über Privatpersonen. | |
taz: Wie war der weitere Kontakt zu Ihren Eltern? | |
Heinrich-Rohr: Sie sind beide mit 56 Jahren gestorben. Meine Mutter vor | |
fünf, mein Vater vor neun Jahren. Wir hatten noch ab und an Kontakt. Aber | |
es erschwerten immer wieder destruktive Verhaltensmuster unser Miteinander, | |
sodass ich überlegen musste: Halte ich das jetzt aus, damit ich den Kontakt | |
habe, weil ich meine Eltern liebe, oder muss ich das abbrechen, weil mir | |
der Kontakt nicht gut tut? Wohl wissend, dass sie mir nicht wirklich Böses | |
wollten. | |
taz: Was hatte Ihr Vater im Heim erlebt? | |
Heinrich-Rohr: Ich erfuhr davon nur über meine Mutter. Meine Eltern | |
erlebten beide schwere körperliche und seelische Misshandlungen. Sie in | |
ihrer Herkunftsfamilie und mein Vater sowohl in seiner Herkunftsfamilie als | |
auch im Heim. | |
taz: In den 1960ern war Gewalt gegen Kinder in Familien weit verbreitet. | |
Heinrich-Rohr: Dann können Sie sich vorstellen, was da alles passiert sein | |
muss. Mein Vater wurde in einer Zeit, wo Gewalt in der Familie durchaus | |
auch legitim war, aufgrund von Gewalterfahrungen aus der Familie | |
rausgenommen. | |
taz: Es gab den Spruch: Kinder mit ’nem Willen kriegen was auf die Brillen. | |
Heinrich-Rohr: Ich hab zu Hause gehört: Kinder mit ’nem Willen kriegen | |
Dresche, bis sie Brüllen. | |
taz: Kinder sollten nichts wollen. | |
Heinrich-Rohr: Es gibt ja immer wieder Überforderungssituationen, in die | |
Eltern geraten können. Und wenn ein Mensch dann einfach nicht die Energie | |
und die Ressource hat, alles ganz genau noch mal zu reflektieren, dann ist | |
es nachvollziehbar, auf alte Muster zurückzugreifen. Dann rasten Eltern aus | |
und schreien. Das kann und soll dieses Verhalten nicht rechtfertigen, ist | |
aber ein möglicher Erklärungsansatz. | |
taz: Hätte bei Ihren Eltern Elternarbeit geholfen? | |
Heinrich-Rohr: Ja, Elternarbeit ist eigentlich Teil der Hilfe, Christa | |
hatte einen großen Anteil dran, dass ich mit meinen Eltern auch immer | |
wieder Kontakt hatte. Elternarbeit steht in der Jugendhilfe oft zu wenig im | |
Fokus. Im Gegenteil. Kommen Kinder in Wohngruppen, gehört es in vielen | |
Konzepten dazu, dass sie erst mal teilweise bis zu sechs Wochen keinen | |
Elternkontakt haben dürfen, um „anzukommen“. Das ist meiner Meinung nach | |
nicht bedarfsgerecht. | |
taz: Wie ging es nach dem Abi weiter? Sie studierten Physik? | |
Heinrich-Rohr: Ich hatte Physik-Leistungskurs gehabt und studierte Physik | |
an der TU Berlin. Da gab es damals kaum Frauen. Das war eine intensive | |
Erfahrung. Professoren wünschten Frauen an den Herd, Kommilitonen schauten | |
sich bei Projektarbeiten Pornos an. Die Bedingungen waren so, dass sich | |
Arbeiterkinder nicht wohlfühlten, also ich erst recht nicht. Ich musste das | |
abbrechen. Und weil ich Angst hatte, den BAföG-Anspruch zu verlieren, wenn | |
ich noch mal das falsche Fach wähle, absolvierte ich eine | |
Erzieher*innenausbildung. Der soziale Bereich lag mir schon immer sehr | |
am Herzen. | |
taz: Sie arbeiteten dann ja selbst in einer Jugendwohnung? | |
Heinrich-Rohr: Ja, arbeitete zwei Jahre in einer Wohngruppe für Kinder von | |
sechs bis zehn Jahren, in der immer Erzieher vor Ort sind. Es war | |
lehrreich, die andere Perspektive einnehmen zu können. Diese Zeit hat mich | |
als pädagogische Fachkraft sehr geprägt. Ganz bewusst zu schauen, welche | |
Macht und Handlungsmöglichkeiten bestehen, das Leben von Kindern positiv zu | |
beeinflussen. Ich erlebte aber auch Grenzüberschreitungen von Kolleginnen. | |
taz: Waren die zu streng? | |
Heinrich-Rohr: Einen fünfjährigen Jungen auf dem Boden zu fixieren, sich | |
draufzusetzen und zu lachen: „So, jetzt siehst du mal, wer hier stärker | |
ist.“ Das ist für mich keine pädagogische Arbeit, sondern Gewalt. | |
taz: Sie studierten dann Soziale Arbeit. Konnten Sie Ihre Erfahrungen mit | |
einbringen? | |
Heinrich-Rohr: Ja, sowohl im Rahmen des Studiums als auch in meiner | |
Tätigkeit als Sozialarbeiterin, wissenschaftliche Mitarbeiterin und auch | |
als Professorin. Aber es ist im beruflichen Kontext zwingend nötig, das | |
Erlebte gut verarbeitet zu haben, um die nötige professionelle Distanz | |
wahren zu können. Sonst besteht die Gefahr, die eigenen Probleme auf das | |
Gegenüber zu projizieren. Nach dem Motto: Du brauchst gar nicht zu reden, | |
ich kenne dein Problem. | |
taz: Was muss sich für Careleaver bessern? | |
Heinrich-Rohr: Junge Menschen ziehen im Durchschnitt mit 23,4 Jahren von zu | |
Hause aus. Von Careleavern, die aus zerrütteten Familien kommen, die mit | |
Traumata zu kämpfen haben, wird erwartet, dass sie mit 18 in eine eigene | |
Wohnung ziehen. Das entspricht nicht der Lebensrealität der jungen | |
Menschen. Aus diesem Grund bin ich der Meinung, dass Jugendhilfe bis 25 | |
gewährt werden muss, sofern die betreffenden Personen denken, dass sie dies | |
benötigen. Jugendhilfe kostet viel Geld und dennoch darf sie nicht zu früh | |
abgebrochen werden. Das kann sonst zur Folge haben, dass junge Menschen | |
ohne weitere Unterstützung einen Einbruch in ihrer Bildungsbiografie | |
erleben. Auch wenn das kein Argument sein darf: Das kostet den Staat am | |
Ende auch wieder Geld. | |
taz: Haben Sie Ihre Geschichte schon mal erzählt? | |
Heinrich-Rohr: Ja, ich versuche immer wieder, auf verschiedenen | |
Veranstaltungen pädagogische Fachkräfte und Politik für dieses Thema zu | |
sensibilisieren. Careleaver haben viele Hürden zu meistern. Sie müssen | |
sich mit Fragen auseinandersetzen, die anderen nicht in den Sinn kämen. | |
Beispielsweise, wo verbringe ich mein erstes Weihnachten nach der | |
Jugendhilfe? Wie beantrage ich BAföG, ohne die Eltern kontaktieren zu | |
müssen? Oder bei der Beantragung von Bürgergeld kann es passieren, dass die | |
Sachbearbeiterin sagt: Zieh doch zurück zu den Eltern. | |
taz: Was kann man da tun? | |
Heinrich-Rohr: Der Verein der Careleaver fordert die Einführung eines | |
eigenen Rechtsstatus, „Leaving Care“, der klarstellt, dass sie keinen oder | |
einen belastenden Kontakt zu ihren Eltern haben und nicht zur | |
Kontaktaufnahme gezwungen werden dürfen. Kinder und Jugendliche, die unter | |
schwierigen Rahmenbedingungen aufwachsen, sollten nicht darauf angewiesen | |
sein, das Glück zu haben, einer Person wie Christa zu begegnen, um ihr | |
volles Potenzial entfalten zu können. Ihr Weg zu einem erfüllten Leben darf | |
nicht vom Zufall bestimmt werden. | |
* Name geändert | |
4 Oct 2024 | |
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