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# taz.de -- Psychiater über Haasenburg-Heime: „Das Kindeswohl war gefährdet…
> Karl Heinz Brisch hat ehemalige Kinder der Haasenburg-Heime untersucht.
> Das Urteil, wonach die Schließung rechtswidrig war, sei eine Katastrophe.
Bild: „Haus Babenberg“, Kinder- und Jugenheim der Haasenburg GmbH in Jesser…
taz: Herr Brisch, was sagen Sie dazu, dass die [1][Brandenburger Gerichte
die Schließung der Haasenburg Heime] von 2013 als rechtswidrig werten?
Karl Heinz Brisch: Ich bin erschüttert. Wir haben viele, die dort in
pädagogischer Betreuung waren, untersucht. Es waren schwer traumatisierte
Kinder und Jugendliche, die durch die Maßnahmen, die in der Haasenburg mit
ihnen durchgeführt wurden, zusätzlich traumatisiert wurden.
taz: Was für Maßnahmen?
Brisch: Die Kinder hatten schon Gewalt, Misshandlung, Vernachlässigung und
Missbrauch erlebt. Die „Gewalt“, die sie dort durch
Anti-Aggressionsmaßnahmen, Fixierung, Isolation und dergleichen erlebten,
hat sie erneut schwer traumatisiert. Deswegen reagierten die Kinder zum
Teil extrem heftig, bis hin, dass sie suizidal wurden.
taz: In welchem Rahmen untersuchten Sie?
Brisch: Unser Projekt am Münchner Uni-Klinikum hieß „Freedom“. Wir boten
den Kindern aus ganz Deutschland nach der Schließung eine Anlaufstelle, wo
sie über das in der Haasenburg Erlebte sprechen konnten. Aber uns
interessierte auch, welche Geschichte sie mitgebracht hatten. Das Gericht
schreibt im Urteil, die Kinder seien „nur verhaltensauffällig“ gewesen. Das
ist ein gewaltiger Irrtum. Diese Kinder waren psychisch krank und hätten
intensive Therapie gebraucht. Hätte jemand mit ihnen eine eingehende
psychisch-psychiatrische Diagnostik gemacht, wäre er auch zu diesem
Ergebnis gekommen. Nur durch pädagogische Maßnahmen werden diese Kinder
nicht gesund. Und sind diese auch noch von Zwang und Gewalt geprägt, werden
diese Kinder erneut traumatisiert, und dadurch geht es ihnen anschließend
noch schlechter.
taz: [2][Das Gericht zitiert einen Psychiater aus Rostock]. Demnach war die
dortige Verhaltenstherapie angemessen.
Brisch: Die von uns untersuchten Jugendlichen waren vielfach traumatisiert,
sie litten unter chronifizierten psychischen Störungen infolge ihrer
schrecklichen Erfahrungen. Das konnten wir nachweisen. Arbeitet man bei
ihnen verhaltenstherapeutisch, dann müssen die Maßnahmen auch darauf
abzielen, diese Erkrankungen zu behandeln. Aber es ging dort gar nicht
darum. Es ging um extrem demütigende Zwangsmaßnahmen, und dies in einem
Ausmaß, das die Kinder regelmäßig erneut extrem gestresst hat, so dass dies
ihre Verhaltensweisen verschlimmerte und zu Eskalationen führte. Ein
Teufelskreis!
taz: Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie,
Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) hatte 2013 die
Haasenburg-Schließung begrüßt und sich von den Zwangsmaßnahmen als Teil von
Therapie distanziert.
Brisch: Das war ein starkes Votum. Die Frage ist, warum das im Urteil nicht
auftaucht. Die Fachgesellschaft gab ein eindeutiges Votum und plädierte
gegen diese Therapieform für diese Kinder.
taz: Wie haben Sie untersucht?
Brisch: Wir führten Interviews wie das Bindungs-Interview durch, wandten
Trauma-Fragebögen an und hörten uns mit viel Zeit ihre extrem belastenden
Lebensgeschichten an. Und wir vermittelten in Therapien. Das waren
spezifische Traumabehandlungen.
taz: Ehemalige sagen, sie hätten [3][durch die Haasenburg jegliches
Vertrauen in Therapien] verloren.
Brisch: Das war so. Sie waren auch bei uns anfangs im Gespräch hochgradig
skeptisch. Aber nach vielleicht einer halben Stunde größten Misstrauens
fingen sie ganz vorsichtig an, mehr zu erzählen. Man konnte mit großer
Feinfühligkeit mit diesen Kindern ins Gespräch kommen. Dazu brauchte es
aber psychotherapeutisches Knowhow und nicht ein pädagogisches
Gewaltkonzept, das mit Regeln, Grenzen, Reaktion und Gegenreaktion die
Jugendlichen zutiefst demütigt und gefügig machen will. Auf diese Weise
wurde ihre Würde immer wieder verletzt.
taz: Keine Konfrontativpädagogik.
Brisch: Genau. Diese Kinder waren durchaus psychotherapie-fähig, wenn man
weiß, wie man mit diesen vielfältig traumatisierten Kindern umgeht. Wir
boten ihnen an, dass wir mit ihnen zusammen überlegen, welche Behandlung
für sie passen könnte. So kamen einige von ihnen auf einen
Psychotherapieweg, ganz ohne Zwangsmaßnahmen. Das Urteil baut darauf auf,
dass diese Heime ‚systemrelevant‘ wären. Motto: Wohin sollen wir sonst mit
diesen Kindern? Aber nachdem die Heime schlossen, ging Deutschland nicht
unter. Diese Kinder nahmen unsere Republik nach der Heimschließung nicht
auseinander. Jedenfalls wurde nichts davon berichtet.
taz: War die Schließung wichtig für die Betroffenen?
Brisch: Absolut! Die Betroffenen erlebten sehr wohl, wie sehr der Umgang
mit ihnen dort ihre psychische Situation Tag für Tag verschlechterte.
taz: Das Gericht bewertet nur die letzten neun Monate. Alles davor sei
nicht relevant.
Brisch: Das ist in psychischer Hinsicht für die Betroffenen eine
Katastrophe. Sie können diese Unterscheidung nicht machen, weil sie
abgespeichert haben, was sie auch in früheren Zeiten in der Haasenburg an
Traumatischem erlebten. Sie vertrauen nicht im Geringsten, dass zum Schluss
alles auf einmal ganz anders ablief.
taz: Belastet es die Opfer, wenn anderen dasselbe widerfährt?
Brisch: Ja. Die Vorstellung allein, dass die Haasenburg-Heime jetzt ähnlich
oder mit kleinen Modifikationen weiter bestehen bleiben könnten, ist für
die Opfer erneut sehr triggernd. Das macht den Betroffenen extremen Stress.
Sie identifizieren sich mit den Jugendlichen, die vielleicht in Zukunft
dort behandelt werden und leiden mit. Das Gericht schreibt, das Kindeswohl
war in der Haasenburg nicht gefährdet. Ich sage, das war sehr wohl der
Fall, weil dort Kinder, die schwer psychisch krank waren, zu ihrem Schaden
mit Anti-Aggressionsmaßnahmen behandelt wurden, die sie erneut und
zusätzlich traumatisiert haben.
taz: Das soll nur zur Abwehr von Gefährdung passiert sein.
Brisch: Dem widersprechen die Aussagen der Jugendlichen. Diese Maßnahmen
wurden sehr wohl im Sinne von Strafandrohung, gefügig machen und
dergleichen eingesetzt. Kinder brauchen Regeln und Strukturen, das ist
keine Frage. Aber es ist eine ganz andere Geschichte, wenn es um Isolation,
körperliche Zwangsmaßnahmen, Fixierung und dergleichen geht, die dort lange
Zeit durchgeführt wurden. Und dann auch noch bei einer psychischen
Vorschädigung der Kinder. Die Kinder werden nicht so geboren. Es gibt keine
genetische Konstellation dafür. Sondern Kinder werden so durch Erfahrung.
Erleben Kinder schon früh Gewalt, Vernachlässigung und dergleichen,
entwickeln sich ihre Gehirne nicht normal. Das ist wie in der somatischen
Medizin. Man kann Menschen mit einem Medikament, auf das sie allergisch
reagieren, sogar umbringen.
taz: Nun wurde das Urteil rechtskräftig. Was kann man tun?
Brisch: Es ist entsetzlich! Da gab es eine Untersuchungskommission, die hat
ja wirklich lange ermittelt, und sich das sehr genau angeschaut. Und dann
kommen die Jugendlichen zehn Jahre später in diesem Gerichtsverfahren nicht
einmal zu Wort, tauchen als Stimme gar nicht auf.
taz: Was also tun?
Brisch: Diese Kinder brauchen alle intensive Therapie. Es ist ein
Riesendilemma, dass die Kinder- und Jugendpsychiatrie vielfach wenig
hilfreiche Konzepte für diese Kinder anbietet. Deshalb verlegen die Ärzte
diese Kinder gerne in pädagogischen Einrichtungen – nach dem Motto, ‚das
ist alles nur ein Verhaltensproblem‘ – und entziehen sich ihrer
Therapie-Aufgabe und Verantwortung. Aber es gibt traumaspezifische
Behandlungskonzepte. Die müssten sich mehr Kliniken zu eigen machen.
taz: Wie sähe die Therapie aus?
Brisch: Dafür brauchen wir beziehungsintensive Konzepte, mit
Mitarbeitenden, die bestens geschult sind die wissen, wie man mit schwer
traumatisierten Kindern umgeht. Man braucht ein bindungs- und
beziehungsorientiertes Konzept, wo jedes Kind eine Bezugsperson hat, die um
das Vertrauen und die Beziehung mit dem Kind ringt.
Das ist immer wieder schwierig. Und natürlich haben diese Kinder ihre
Ausraster, weil sie mit ihren Affekten noch nicht gut umgehen können. Aber
wenn sie dann – möglichst in der Beziehung – koreguliert werden, so dass
jemand Vertrautes da ist, wo möglich sogar auch in einem gepolsterten Raum,
wo sie toben können, dann entwickeln sich diese Kinder und lernen bessere
Affektregulation. Dabei sollten sie immer von einer vertrauten Person
begleitet und nicht alleine gelassen, schon gar nicht isoliert werden!
taz: Gibt es die Angebote schon?
Brisch: Wir sammelten an der Ludwigs-Maximilian-Universität in München
Erfahrungen mit einem Therapiekonzept namens „MOSES“. Die Kinder waren
etwas jünger, sechs bis 13 Jahre. Wir bieten ihnen Spieltherapie, Musik,
Kunst, Bewegungstherapie, verschiedene Therapieformen in großer Intensität
an. Hinzu kommt eine traumaspezifische Therapie, in der sie dann ihre
verletzenden Erfahrungen verarbeiten können. Und das gelingt, das ist
möglich. Die Kinder werden mit der Zeit ruhiger und haben weniger von
diesen affektiven Ausbrüchen. Nur müssten sich mehr Kinder- und
Jugendpsychiatrien solche traumaspezifischen Behandlungskonzepte zu eigen
machen. Da fehlt es.
taz: Und Traumatherapie kann die frühe Schädigung heilen?
Brisch: Ja oder zu mindestens sehr entscheidend verbessern. Wir haben im
Rahmen einer Studie bildgebende Untersuchungen von den Gehirnen der Kinder
gemacht. Und darin sieht man, wie im Gehirn neue Netzwerke entstehen, wenn
wir ihre Gehirnbefunde vor und nach der Behandlung miteinander vergleichen.
Wir haben bei diesen Kindern nach und nach viele Psycho-Medikamente
abgesetzt und haben sie ohne diese Medikamente behandelt, eben mit neuen
Beziehungserfahrungen. Und wir konnten zeigen, dass dies geht und
funktioniert. Und dass die Kinder, was ihre neuronale Entwicklung angeht,
auch nachreifen, nicht nur auf der Verhaltensebene. Die Netzwerkdichten im
Gehirn der Kinder waren am Ende der Therapie teilweise mit denen gesunder,
gleichaltriger Kinder vergleichbar. Das ist sehr aufregend und spannend,
denn es erklärt uns, warum sich diese Kinder im Laufe der Therapie in
Gruppen zunehmend angemessener verhalten konnten, nämlich durch diese neu
entstandenen Vernetzungen im Gehirn.
31 Jul 2024
## LINKS
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## AUTOREN
Kaija Kutter
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