| # taz.de -- Konstituierung des Thüringer Landtags: Eskalation vorprogrammiert | |
| > Die AfD Thüringen als stärkste Kraft wird wohl für Tumulte sorgen. Schon | |
| > die Wahl zur Landtagspräsidentin dürfte ein Drahtseilakt werden. | |
| Bild: Der Rechtsextreme Björn Höcke setzt auf maximalen Konfrontationskurs | |
| Leipzig/Berlin taz | Der Thüringer Landtag ist bekannt für juristische | |
| Winkelzüge. Und die beginnen nun schon vor dem ersten Treffen des neu | |
| gewählten Thüringer Landtags am kommenden Donnerstag. Eine der Aufgaben der | |
| 88 Abgeordneten an diesem Tag: Das Parlament muss eine*n Präsident*in | |
| wählen. Klingt simpel, dürfte aber höchst umstritten ablaufen. Denn [1][das | |
| Vorschlagsrecht für das Amt hat die stärkste Fraktion] – die AfD. | |
| Schon vorab kündigten die anderen Parteien an, nicht für deren | |
| Kandidat*innen zu stimmen. Sie wollen die Geschäftsordnung ändern, um | |
| eine Blockade der AfD zu verhindern. Denn die extrem rechte | |
| Landtagsfraktion unter Vorsitz Björn Höckes setzt auf maximalen | |
| Konfrontationskurs: Sie will Wiebke Muhsal zur Landtagspräsidentin | |
| vorschlagen. Die 38-Jährige ist fester Teil Höckes inneren Zirkels und | |
| berüchtigt für ihr Eskalationspotential. | |
| Im Plenarsaal erschien sie zu einer Debatte zu einem Kindergartengesetz mal | |
| in Vollverschleierung, um gegen den Islam zu hetzen. Bekannt ist sie | |
| außerdem für Antifeminismus, Queer- und Transfeindlichkeit. Zudem ist | |
| Muhsal rechtskräftig verurteilt – weil sie den Thüringer Landtag in ihrer | |
| letzten Legislatur um 6.500 Euro betrogen hat. Sie musste 8.000 Euro Strafe | |
| zahlen. | |
| Muhsal dürfte trotz geheimer Abstimmung selbst für wankelmütige | |
| CDU-Abgeordnete oder wackelige BSWler nicht wählbar sein. Mit der | |
| Nominierung der verurteilten Betrügerin Muhsal werde deutlich, „wie sehr | |
| die AfD das Parlament verachtet“, sagt Christian Schaft, | |
| Fraktionsvorsitzender der Linken. Ähnlich äußerte sich auch der | |
| Fraktionsvorsitzende der SPD, Lutz Liebscher: Das sie dem Landtag vorstehen | |
| wolle, sei „ungeheuerlich“, sagte er der taz. | |
| Das Amt des Landtagspräsidenten ist ein hohes und repräsentatives Amt. | |
| Diejenigen Parlamentarier*innen, die es ausüben, verfügen meist über einen | |
| guten Ruf auch über Parteigrenzen hinweg. Das ist wichtig, weil sie eine | |
| übergeordnete Funktion einnehmen: Sie repräsentieren nicht nur offiziell | |
| den Landtag, sondern sollen für den möglichst reibungslosen Ablauf | |
| demokratischer Prozesse und die Einhaltung von Regeln auch während der | |
| Plenardebatten sorgen. | |
| ## „Wir haben einen Plan.“ | |
| Dass mit parlamentarischen Taschenspielertricks und Winkelzügen der AfD zu | |
| rechnen ist, daran erinnert nicht zuletzt die Thüringer Regierungskrise | |
| 2020. Damals wählte die AfD überraschend [2][den FDP-Kandidaten Thomas | |
| Kemmerich zum Kurzzeit-Ministerpräsidenten] und ließ ihren eigenen | |
| Kandidaten vorsätzlich durchfallen. | |
| Was die Partei diesmal tun will, ist noch unklar: Auf Anfrage wollte Stefan | |
| Möller, Landessprecher der AfD Thüringen und Fraktionsmitglied, nicht | |
| verraten, mit welcher Strategie die extrem rechte Partei in die Sitzung | |
| geht: „Da wäre ich ja mit dem Klammerbeutel gepudert, wenn ich das jetzt | |
| mit Ihnen debattieren würde“, sagte er der taz am Telefon. | |
| Konfrontativ finde er weder das Beharren auf das alleinige Vorschlagsrecht | |
| der AfD noch die Nominierung der AfD-Politikerin Muhsal: „Konfrontativ sind | |
| die anderen“, so Möller, „wir müssen jetzt taktisch mit der Situation | |
| klarkommen. Und wir haben einen Plan.“ | |
| Doch auch die anderen Parteien planen bereits. „Jeder Bestrebung, ein | |
| Verfassungsorgan auf offener Bühne vorzuführen, werden wir entschlossen | |
| entgegentreten“, sagte Andreas Bühl, parlamentarischer Geschäftsführer der | |
| CDU. Darum wollen CDU und BSW vor der Wahl des*der | |
| Landtagspräsident*in die Geschäftsordnung ändern. Dem Vorschlag nach | |
| dürften dann von Anfang an alle Fraktionen Kandidat*innen vorschlagen – | |
| nicht nur die AfD. | |
| Damit der Antrag durchgeht, braucht es eine einfache Mehrheit. Wenn Linke | |
| und SPD auch dafür stimmen, wird die Geschäftsordnung geändert. Der AfD | |
| zufolge aber könne der Landtag die Geschäftsordnung erst angehen, nachdem | |
| ein*e Landtagspräsident*in gewählt sei. Die rechtsextreme Partei wird | |
| voraussichtlich versuchen, den Antrag zu übergehen. | |
| ## Unklare Formulierung in der Geschäftsordnung | |
| Zugute kommt der AfD eine Unsicherheit, die sich aus der aktuellen | |
| Geschäftsordnung ergibt. Bislang ist dort unklar formuliert, wie lange die | |
| AfD allein das Vorschlagsrecht innehat. So steht unter Paragraf 2 der | |
| Geschäftsordnung: Sollte die Mehrheit der Abgeordneten in geheimen Wahlen | |
| zweimal nicht für den Vorschlag stimmen, „können für weitere Wahlgänge ne… | |
| Bewerberinnen beziehungsweise Bewerber vorgeschlagen werden“. Doch wer die | |
| weiteren Vorschläge machen darf, das regelt die Verordnung nicht. | |
| Dass es zu dieser Situation kommen könnte, davor hatte den bisherigen | |
| Landtag eigentlich schon das [3][Thüringen-Projekt des Verfassungsblogs] | |
| gewarnt. Die Jurist*innen rieten [4][in einem Policy Paper] dazu, | |
| vorsorglich die Geschäftsordnung zu ändern. Ihr Vorschlag: | |
| Unmissverständlich festzuschreiben, dass alle Fraktionen Kandidat*innen | |
| aufstellen können, wenn der Vorschlag der stärksten Fraktion nicht die | |
| erforderliche Mehrheit erhält. Der alte Landtag ist der Empfehlung | |
| allerdings nicht nachgekommen. | |
| So bleibt es also Auslegungssache. Der wissenschaftliche Dienst des | |
| Thüringer Landtags geht nach Auslegung der [5][geltenden Geschäftsordnung] | |
| davon aus, dass nach zwei durchgefallenen Kandidat*innen der AfD auch | |
| die übrigen Fraktionen Vorschläge machen können. Die AfD hingegen hat | |
| bereits mitgeteilt, dass sie, wenig überraschend, anderer Rechtsauffassung | |
| ist. Sie sieht das alleinige Vorschlagsrecht bei sich selbst. | |
| ## Der AfD-Alterspräsident legt die Geschäftsordnung aus | |
| Welche Ansicht sich am Donnerstag durchsetzen wird? Das hängt auch vom | |
| Alterspräsidenten ab, der die erste Sitzung leitet und in ihr die | |
| Geschäftsordnung auslegt. In Thüringen ist das: der AfD-Abgeordnete Jürgen | |
| Treutler mit seinen 73 Jahren. | |
| Treutler wurde im für die AfD sicheren Wahlkreis Sonneberg I direkt | |
| gewählt. Pikant dabei: Ursprünglich hatte die Partei hier einen anderen und | |
| deutlich jüngeren Kandidat aufgestellt. Der allerdings [6][zog überraschend | |
| zurück]. Sein Kreissprecher gab „persönlich-strategische Gründe“ an. Die | |
| Kreis-AfD wählte [7][den 73-Jährigen Treutler nach] – mit besten Aussichten | |
| auf die Alterspräsidentschaft. | |
| ## Auch ein Alterspräsident ist abwählbar | |
| Was also, wenn sich der AfD-Alterspräsident bei der Änderung der | |
| Geschäftsordnung querstellt oder sich weigert, andere Vorschläge für die | |
| Wahl zur Landtagspräsident*in als jene aus der AfD zuzulassen?„Der | |
| Landtag kann mehrheitlich das Gegenteil feststellen“, sagt die Juristin | |
| Juliane Talg vom Thüringen-Projekt. Die Auslegungshoheit über die | |
| Geschäftsordnung liege am Ende beim Landtag selbst. | |
| Ebenso hält Talg auch den Alterspräsidenten für abwählbar – auch, wenn das | |
| so nicht explizit in der Geschäftsordnung ausformuliert sei, weil eine | |
| solche Situation eben noch nie vorgekommen sei. „Es gibt zwar klare | |
| Regelungen, was den Wahlvorgang angeht, aber aufgrund kleiner | |
| Unsicherheiten kann die AfD darauf herumreiten und den Fall vor das | |
| Verfassungsgericht ziehen“, befürchtet sie.Sie hält es für wahrscheinlich, | |
| dass die AfD auf ihrer Position beharrt, auch wenn sie rechtlich schwer zu | |
| vertreten sei. „Sie werden das Argument vorbringen: Wir sind die stärkste | |
| Fraktion, das Volk will das so. Wenn ihr nicht mitmacht, stellen wir uns | |
| quer. Dann können sie eskalieren“, sagt Talg. Der Wahlvorgang und der Bruch | |
| mit den bisherigen parlamentarischen Gepflogenheiten, um zu verhindern, | |
| dass eine Rechtsextremistin Parlamentspräsidentin wird, biete Stoff für die | |
| autoritär-populistische Erzählung der AfD. | |
| ## Das Risiko einer AfD-Landtagspräsidentin | |
| Dass es eine Eskalation geben wird, ist also so gut wie sicher. Noch größer | |
| als das Risiko eines öffentlichkeitswirksamen Opfergangs der AfD dürfte | |
| indes eine AfD-Landtagspräsidentin sein. Das skizzierte der Staatsrechtler | |
| und Chefredakteur des Verfassungsblogs, Maximilian Steinbeis, bereits in | |
| seinem Buch [8][„Die verwundbare Demokratie“]: Eine Landtagspräsidentin | |
| nämlich leitet nicht nur Debatten, sondern hat auch die personelle Hoheit | |
| über die Landtagsverwaltung. Sie könnte den Parlamentsdirektor feuern und | |
| linientreues Personal nachbesetzen. | |
| Ebenso könnte die AfD-Landtagspräsidentin als Repräsentantin nach Moskau, | |
| Budapest oder nach Mar-a-Lago reisen – und symbolische Außenpolitik ohne | |
| jegliche politische Verantwortlichkeit betreiben. Ebenfalls vorstellbar | |
| wäre ein Missbrauch des Parlaments für Tagungen der Neuen Rechten, | |
| völkische Kulturförderung oder die Entsorgung vermeintlich „entarteter“ | |
| Kunst. | |
| Theoretisch wäre sogar der Aufbau eines Sicherheitsdienstes oder einer | |
| Polizeieinheit denkbar, die der AfD-Landtagspräsidentin unterstünde und | |
| Ordnungsrufe gegenüber missliebigen Abgeordneten vollstreckt. Ebenso könnte | |
| eine AfD-Landtagspräsidentin formalen Blockaden bei der Ausfertigung von | |
| Gesetzen Vorschub leisten, gewählten Richter*innen die Unterschrift | |
| verweigern oder juristische Scharmützel mit dem | |
| Landesverfassungsgerichtshof bemühen. | |
| Und das wichtigste: Der Landtagspräsident leitet die | |
| Ministerpräsidentenwahl und entscheidet im Zweifel über die Auslegung eines | |
| [9][verfassungsrechtlich umstrittenen Ergebnisses im dritten Wahlgang]. Das | |
| könnte wiederum zu einer Klage vor dem Verfassungsgerichtshof und einer | |
| Hängepartie für die gewählte Regierung führen. Sprich: zu einer | |
| Verfassungskrise, welche die AfD wiederum genüsslich ausschlachten würde. | |
| Kurzum: In den falschen Händen kann selbst ein formal repräsentatives Amt | |
| großen Schaden anrichten. | |
| 21 Sep 2024 | |
| ## LINKS | |
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| [6] https://www.insuedthueringen.de/inhalt.vor-der-landtagswahl-schliewe-zieht-… | |
| [7] https://www.insuedthueringen.de/inhalt.landtagswahl-pferdewechsel-bei-der-a… | |
| [8] https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/maximilian-steinbeis-die-verwun… | |
| [9] /AfD-im-Osten/!5982629 | |
| ## AUTOREN | |
| Gareth Joswig | |
| David Muschenich | |
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