| # taz.de -- Leistungen für Geflüchtete: Bezahlkarte ausgetrickst | |
| > Eine Hamburger Initiative hebelt das Limit bei der Bezahlkarte aus, indem | |
| > sie Gutscheine gegen Bargeld tauscht. In München ahmt man das bereits | |
| > nach. | |
| Bild: Bezahlungswege sind vielfältig – aber ohne Bargeld ist es oft schwierig | |
| Hamburg taz |„Mit der Bezahlkarte setzt Hamburgs Senat ganz konkret | |
| AfD-Politik um“, ruft eine Rednerin wütend ins Mikrofon. Rund 400 Personen | |
| sind dem Aufruf zur Demo gefolgt, die Mitte August durch den Hamburger | |
| Stadtteil Harburg zieht. Entmündigend, stigmatisierend und diskriminierend | |
| sei die [1][Bezahlkarte für Geflüchtete]. Und tatsächlich haben im Juli | |
| erste Gerichte geurteilt, dass das pauschale 50-Euro-Bargeldlimit der Karte | |
| Grundrechte der Kläger*innen verletze. Die Mitglieder der Hamburger | |
| Initiative „Nein zur Bezahlkarte“ finden das schon lange – und sie haben | |
| einen Weg gefunden, das Bargeldlimit von monatlich 50 Euro für Erwachsene | |
| und 10 Euro pro Kind praktisch auszuhebeln. | |
| Ihr Konzept ist simpel und legal: Wer eine Bezahlkarte hat, kann bei | |
| Supermarkt- oder Drogerieketten Gutscheine kaufen und sie zweimal im Monat | |
| im „Café Exil“, einer Beratungsstelle unweit der Hamburger | |
| Ausländerbehörde, in Bargeld wechseln. Umgekehrt können alle, die sich mit | |
| den Asylsuchenden solidarisieren wollen, bei der Initiative Gutscheine | |
| gegen Bargeld tauschen. | |
| Zahra* nutzt diese Möglichkeit regelmäßig. Sie ist aus Afghanistan | |
| geflüchtet und lebt in Hamburg. Eine „SocialCard“ steckt in ihrem | |
| Geldbeutel, so heißt die Bezahlkarte hier. Sie ähnelt von der | |
| Funktionsweise einer Debit-Kreditkarte. [2][Statt Leistungen bar oder auf | |
| ein Konto auszuzahlen, bekommen Asylsuchende die Karte], die an die | |
| Kreditkartenanbieter Visa oder Mastercard gekoppelt ist. | |
| Die Funktionen der Karte können auf bestimmte Regionen begrenzt werden, | |
| Geld abheben kostet Gebühren, für Onlinekäufe ist sie gesperrt und | |
| Überweisungen müssen einzeln genehmigt werden oder sind – wie in Hamburg – | |
| pauschal nicht möglich. Mit Hamburgs „SocialCard“ kann man zum Beispiel in | |
| Geschäften bezahlen, die Visa akzeptieren. | |
| ## Hamburg als Vorreiterin bei der Bezahlkarte | |
| Die Karte werde aber oft nicht akzeptiert, berichtet Zahra: nicht in | |
| kleinen Läden, die afghanische Lebensmittel oder gebrauchte Kleidung | |
| anbieten, im Café nicht und auch nicht bei der Post. „Oder ich muss eine | |
| Transaktionsgebühr zahlen“, sagt sie. Auch könne sie kein Guthaben auf ihr | |
| Handy laden, die wichtigste Brücke zu ihren Angehörigen. Sie geht daher | |
| jeden Monat zu einem der zwei Termine ins „Café Exil“, um | |
| Supermarktgutscheine gegen Bargeld zu wechseln. Dolmetscherinnen helfen, | |
| Flyer auf Arabisch, Farsi und Englisch erklären das Tauschkonzept. | |
| Im Rahmen eines Pilotprojekts hat Hamburg im Februar 2024 als erstes | |
| Bundesland die Bezahlkarte für Asylsuchende eingeführt. Mehrere | |
| Bundesländer zogen nach. Im April hat dann der Bundesrat die gesetzliche | |
| Grundlage der Karte gebilligt. | |
| Befürworter*innen versprechen sich von der Karte Bürokratieabbau und | |
| die Unterbindung von Zahlungen an Verwandte im Ausland. Belastbare Zahlen, | |
| wie viel Geld Asylsuchende tatsächlich ins Ausland verschicken, gibt es | |
| nicht. Kritiker*innen sehen in der Karte darum vor allem schikanierende | |
| Symbolpolitik. | |
| „Was es braucht, ist vor allem Verbindlichkeit“, erklärt eine Aktivistin | |
| der Initiative „Nein zur Bezahlkarte“ auf der Demo in Harburg: Orte und | |
| Zeiten, auf die Betroffene sich verlassen können. Und etwas Kulanz | |
| vonseiten derer, die ihr Bargeld gegen Gutscheine tauschen: Vielleicht gibt | |
| es mal nicht die gewünschte Gutscheinsorte, vielleicht muss man mal zwei | |
| Wochen auf den Gutschein warten. Aber insgesamt sei das Prinzip einfach und | |
| es funktioniere: „20.000 Euro Bargeld haben wir alleine im August | |
| umgetauscht“, verkündet eine Sprecherin der Initiative auf der Demo. | |
| ## Die Idee stammt von Aktivist:innen | |
| Die Idee zum Tauschkonzept hatte Sadia. Sie ist aus Somalia geflohen und | |
| engagiert sich in der Hamburger Gruppe „Nina“ für die Rechte und | |
| Lebensbedingungen von Asylsuchenden. Seit Februar berichteten ihr immer | |
| mehr Bekannte von Problemen mit der Bezahlkarte: Die Karte sei unpraktisch, | |
| das Bargeld reiche nicht. Außerdem sei sie oft gesperrt und es dauere teils | |
| monatelang, bis Geld darauf geladen werde. | |
| Sadia beratschlagt mit ihrer Gruppe, will etwas tun, um Betroffene zu | |
| unterstützen. Am Ende gründen sie mit anderen Aktivist*innen die | |
| Tausch-Initiative. Eine Münchener Gruppe hat das Konzept bereits | |
| übernommen. Auf der Demo in Harburg schiebt Sadia zwei Kinder mit | |
| Ohrenschützern im Kinderwagen. Als sie anfangen zu quengeln, kauft sie | |
| ihnen bei einem Imbiss ein Stück Pizza. Auch dafür braucht man Bargeld. | |
| „So wie die Bezahlkarte ausgestaltet ist“, erklärt Sarah Lincoln, „ist s… | |
| rechtswidrig“. Die Juristin ist in der Gesellschaft für Freiheitsrechte | |
| (GFF) aktiv und seit 2023 stellvertretende Richterin am Hamburger | |
| Verfassungsgericht. Im Juli 2024 haben die GFF und „Pro Asyl“ Betroffene | |
| bei [3][Klagen vor dem Sozialgericht in Hamburg und Nürnberg unterstützt]. | |
| In drei Eilverfahren wurde entschieden, dass das 50-Euro-Bargeldlimit mit | |
| dem Grundrecht der Antragssteller*innen auf ein menschenwürdiges | |
| Existenzminimum im Widerspruch steht. Ein viertes Verfahren wurde als nicht | |
| eilbedürftig abgewiesen. | |
| „Die pauschale 50-Euro-Grenze geht so nicht“, erklärt Lincoln. Stattdessen | |
| müssten die Behörden den Bargeldbedarf im Einzelfall prüfen. Weil außerdem | |
| jede Überweisung einzeln freigegeben werden müsse, sieht Lincoln das | |
| Argument der Verwaltungsentlastung durch die Karte als widerlegt: „Man hat | |
| ein Bürokratiemonster geschaffen.“ | |
| ## Bezahlkarte grundrechtswidrig | |
| Die Grundrechtswidrigkeit ergibt sich laut Lincoln aus den Restriktionen: | |
| Vieles, das zum Existenzminimum gehöre, könne man mit der Karte nicht | |
| kaufen oder nur sehr viel teurer. Auch kulturelle Teilhabe wie | |
| Vereinsmitgliedschaften oder Taschengeld für Kinder könne man nicht | |
| gewährleisten. Mit der Bezahlkarte müsse man damit de facto unter dem | |
| Existenzminimum leben. „Wer richtig profitiert“, kritisiert die Juristin, | |
| „sind Visa und Mastercard“. | |
| Die Hamburger Sozialbehörde zeichnet ein anderes Bild: Die Karte werde gut | |
| angenommen, Betroffene seien erleichtert, ihr Geld so unkompliziert zu | |
| erhalten. Da sie damit nicht mehr bei den bezirklichen Kassen Bargeld | |
| abholen müssen, werde an dieser Stelle auch die Verwaltung entlastet. Man | |
| sei also „sehr zufrieden“. | |
| Die Demonstrierenden in Harburg fordern statt der Bezahlkarte ein | |
| kostenloses Basiskonto ohne Einschränkungen. Auch Sarah Lincoln befürwortet | |
| das: Die Bezahlkarte sei unnötig. Schließlich habe in Deutschland jede | |
| Person das Recht, ein Konto zu eröffnen. | |
| 20 Aug 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Selma Hornbacher-Schönleber | |
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