# taz.de -- Kein Bargeld für Hamburger Asylsuchende: Am Alltag gehindert | |
> „Schnell“ und „diskriminierungsfrei“ soll die Bezahlkarte sein, mit d… | |
> Asylsuchende in Hamburg einkaufen müssen. Doch für Omar ist sie das | |
> Gegenteil. | |
Bild: Muss seit kurzem mit der SocialCard einkaufen: Omar aus Hamburg | |
Hamburg taz | Montagvormittag, der erste frische Tag nach einem heißen | |
Spätsommer in Hamburg. Trotz Nieselregen herrscht auf dem Steindamm, nahe | |
dem Hauptbahnhof, geschäftiges Treiben. Teppiche mit kunstvollen Mustern | |
werden auf der Straße verkauft, riesige Auberginen und knallgelbe Zitronen | |
schmücken die Auslagen der Obst- und Gemüsehändler. | |
Omar kommt gerne hierher. Hier gibt es syrische und palästinensische | |
Spezialitäten zu kaufen. Hier ist das Gemüse günstiger als in den | |
Discountern, in denen der junge Asylbewerber aus Gaza sonst einkauft. Hier | |
trifft er immer wieder auf Bekannte und Freunde, unterhält sich kurz auf | |
Arabisch, zieht dann weiter. „Kaufen kann ich hier kaum etwas“, sagt Omar | |
schulterzuckend. | |
Der Grund: Viele der Geschäfte nehmen nur Bargeld. Das ist für | |
Asylbewerber:innen in Hamburg seit Februar dieses Jahres Mangelware. | |
Als erstes Bundesland führte der Stadtstaat die Bezahlkarte ein. Die | |
Leistungen für Asylbewerber:innen, die in Erstaufnahmeeinrichtungen leben, | |
werden seitdem auf die sogenannte [1][SocialCard] überwiesen. | |
Einem ledigen Erwachsenen stehen im Monat, zusätzlich zu warmen Mahlzeiten | |
und Sachleistungen, 185 Euro zur Verfügung. In bar können davon nur 50 Euro | |
abgehoben werden. Überweisungen sind nicht mehr möglich. | |
Die Ministerpräsident:innenkonferenz [2][beschloss Ende] 2023, | |
dass die Bezahlkarte bald auch bundesweit [3][eingeführt werden soll]. In | |
Hamburg sind davon jetzt 2.440 Menschen betroffen. | |
## Massive Einschränkung der Freiheit | |
„Der Hamburger Senat setzt eindeutig AfD-Politik um“, sagt eine Freiwillige | |
der Initiative „Nein zur Bezahlkarte“, die ihren Namen nicht in der Zeitung | |
lesen möchte. Die Einführung der Bezahlkarte stelle eine massive | |
Einschränkung der Freiheit von Asylsuchenden dar und belaste die Menschen | |
in ihrem alltäglichen Leben, so die Freiwillige. | |
„Einkaufen auf Flohmärkten, in kleinen Obst- und Gemüseläden, auf Ebay oder | |
im Second-Hand-Laden wird durch die Bezahlkarte unmöglich gemacht.“ In | |
vielen solcher Läden sei nur Barzahlung möglich. Dabei seien | |
Asylbewerber:innen auf genau diese günstigen Einkaufsmöglichkeiten | |
angewiesen. „Die Bezahlkarte ist in höchstem Maße rassistisch und | |
diskriminierend“, sagt sie. | |
Omar ist breit gebaut, trägt eine schwarze Weste über seinem weißen Hoodie, | |
spricht ruhig, aber bestimmt. Er ist freundlich, zuvorkommend, trotzdem | |
bleibt sein Gesicht meist ernst. Der 25-Jährige lebt seit sechs Monaten in | |
einer Erstaufnahmeeinrichtung in Hamburg. | |
Er würde gerne studieren und als Lehrer arbeiten, wie in seiner | |
palästinensischen Heimat, erzählt er. Heute möchte Omar eine neue SIM-Card | |
kaufen. „Ich komme zum Einkaufen am liebsten zum Steindamm“, sagt er. Hier | |
fühle er sich wohl, könne seine Muttersprache sprechen und die Dinge | |
kaufen, die er seit seiner Flucht vermisse. | |
Der junge Palästinenser betritt einen Handyladen, ein Aufsteller bewirbt | |
günstige Verträge. „Kann ich auch mit dieser Karte bezahlen?“, fragt Omar | |
und hebt die blaue SocialCard, die wie eine Visa-Card funktioniert. Der | |
Ladenbesitzer schüttelt den Kopf. „Gerät kaputt“, erklärt er | |
entschuldigend. | |
Omar verlässt den Laden unverrichteter Dinge – das kostbare Bargeld möchte | |
er nicht für die SIM-Card aufwenden. „Das ist keine Ausnahme. Immer wieder | |
kommt es vor, dass ich aus irgendeinem Grund nicht mit der Bezahlkarte | |
zahlen kann“, sagt er kopfschüttelnd. | |
## Zu wenig Geld | |
Häufig sei es schon vorgekommen, dass die Ladenbesitzer:innen eine | |
Gebühr von fünf Euro verlangten, als er mit der SocialCard zahlen wollte, | |
berichtet er. Fünf Euro, die Omar nicht entbehren kann – die 185 Euro | |
reichten gerade so aus, um die monatlichen Kosten zu decken. | |
Die Einschränkung, die die Bezahlkarte mit sich bringe, belaste seinen | |
ohnehin schmalen Geldbeutel so zusätzlich und erschwere es, am alltäglichen | |
Leben teilzunehmen. Einen Tee trinken zu gehen, werde so zur | |
Herausforderung – und zum Hindernis, in Deutschland anzukommen. „Bevor ich | |
ein Restaurant oder Laden betrete, frage ich immer, ob die Bezahlkarte | |
funktioniert“, sagt Omar. Ohne Bargeld in der Tasche falle eine Art | |
Sicherheitsnetz weg. | |
In einer Pressemitteilung von Februar schreibt die Hamburger Sozialbehörde | |
über die Bezahlkarte: „Sie ermöglicht einen schnellen, unkomplizierten und | |
diskriminierungsfreien Zugang zu staatlichen Geldleistungen.“ Außerdem | |
reduziere sie die Belastung der bezirklichen Zahlstellen und spare Zeit und | |
Wege der Asylbewerber:innen – vor Einführung der Bezahlkarte mussten | |
sie jeden Monat in die Behörde kommen, um die Leistungen bar abzuholen. | |
Ein weiterer Grund, den die Sozialbehörde für die Einführung der | |
Bezahlkarte anführt: Man wolle verhindern, dass staatliche Gelder an | |
„kriminelle Schleppernetzwerke“ weitergeleitet würden. Aus Gesprächen der | |
taz mit der Sozialbehörde geht hervor: Belege dafür, dass dies vorher | |
passiert ist, gibt es keine. | |
Trotzdem sei man mit dem Projekt der Bezahlkarte bisher überaus zufrieden, | |
heißt es in der Behörde. Beschwerden von Asylbewerber:innen würden sie | |
kaum erreichen. | |
Auf eine schriftliche Anfrage der taz antwortet ein Pressesprecher, die | |
Nutzer:innen der Bezahlkarte seien erleichtert, nicht mehr jeden Monat | |
Bargeld bei den bezirklichen Kassen abholen zu müssen. | |
Wenig erleichtert scheinen die rund 50 Asylbewerber:innen, die an dem | |
ersten Freitag im September im „Café Exil“ in Hamburg-Wandsbek Schlange | |
stehen, um Gutscheine von Supermärkten und Drogerien gegen bares Geld | |
einzutauschen. | |
Hier organisiert die Initiative „Nein zur Bezahlkarte“ zweimal im Monat | |
eine Möglichkeit, die Einschränkung der Bezahlkarte zu umgehen: Freiwillige | |
strecken der Initiative Bargeld vor, das den Asylsuchenden im Tausch gegen | |
Gutscheine ausgehändigt wird. | |
Der kleine Raum füllt sich schnell, junge Männer und Frauen, die Gutscheine | |
von Rewe oder Edeka in der Hand halten, unterhalten sich leise in der | |
Schlange. An der Wand hängt ein großer Schriftzug aus Silberpapier: „Fight | |
Racism“, außerdem zieren viele bunte Plakate den Raum. | |
Die Freiwilligen, die auf türkis gepolsterten Stühlen an kleinen | |
Schreibtischen sitzen, checken zuerst, ob die Nummer auf dem Kassenbon mit | |
der jeweiligen Gutscheinnummer übereinstimmt. Dann übergeben sie den | |
Asylsuchenden das Bargeld. | |
„Viele kommen jeden Monat – die meisten kaufen einen Gutschein für 100 Euro | |
und tauschen ihn ein.“ Der Weg, den die Menschen vor der Einführung der | |
SocialCard jeden Monat zur Behörde zurücklegen mussten, fällt also nicht | |
weg, sondern führt viele ins Café Exil und andere Tauschstellen, die | |
Ehrenamtliche organisieren. | |
## Klagen gegen Bargeldgrenze | |
Auch in anderen Städten, etwa in München, wird das System der Bezahlkarte | |
inzwischen von verschiedenen Initiativen ausgetrickst. Geklagt hat dagegen | |
noch niemand. „Glücklich dürfte der Hamburger Senat aber nicht sein. | |
Schließlich umgehen wir so die Repression Geflüchteter, die mit der | |
Bezahlkarte praktiziert wird“, erklärt ein junger Freiwilliger der | |
Initiative, der ein T-Shirt mit der Aufschrift „Kein Mensch ist illegal“ | |
trägt. | |
Gegen die Bargeldgrenze haben dagegen schon zwei Aslysuchende, die ihre | |
Leistungen per Bezahlkarte erhalten, geklagt. Eine Klägerin bekam recht: | |
Aufgrund ihrer Schwangerschaft, so entschied das Landessozialgericht, | |
musste die Bargeldgrenze angehoben werden. Pauschal dürfe sie also nicht | |
auf 50 Euro [4][festgelegt werden]. | |
Die Stadt legte Beschwerde gegen das Urteil ein, eine Entscheidung | |
[5][steht noch aus]. Die zweite Klage eines Asylsuchenden scheiterte: Das | |
Landessozialgericht entschied, dass die Bargeldgrenze in seinem | |
individuellen Fall [6][rechtmäßig war]. Nahe liegt, dass der | |
Verwaltungsaufwand durch die Einführung der Bezahlkarte also – im Gegenteil | |
zur Aussage der Sozialbehörde – erheblich steigen könnte, wenn das | |
Landessozialgericht in jedem Einzelfall entscheiden muss, ob die | |
Bargeldgrenze rechtmäßig ist. Eine schriftliche Nachfrage der taz dazu ließ | |
die Sozialbehörde bis Redaktionsschluss unbeantwortet. | |
Auch Omar tauscht im Café Exil regelmäßig Gutscheine gegen Bargeld. | |
Trotzdem bleibe die Bezahlkarte eine Belastung, sagt er. Er fühle sich | |
abhängig von der Arbeit der ehrenamtlichen Initiative, häufig wartete er | |
ungeduldig auf die Tauschgelegenheit. Klagen will Omar nicht, er hat andere | |
Sorgen: Aktuell fürchtet er seine Abschiebung nach Belgien. | |
Während auf dem Steindamm links und rechts Männer und Frauen mit | |
Einkaufstüten voller Tomaten und frischen Kräutern an ihm vorbeilaufen, | |
winkt er mit dem Blick auf den Gemüseladen ab. „Die nehmen die Bezahlkarte | |
hier nicht“, weiß Omar. Schon mehrmals sei er da gewesen – demütigend fü… | |
es sich an, Lebensmittel wieder zurück in die Regale legen zu müssen, weil | |
kein Bargeld vorhanden sei. | |
Der nächste Versuch: Diesmal möchte Omar Nabulsiyeh, eine palästinensische | |
Süßspeise aus Käse, Zuckersirup und geröstetem Fadenteig, kaufen. Im Laden, | |
den er betritt, begrüßt der Verkäufer Omar mit Handschlag. Baklava und | |
andere Leckereien liegen auf kleinen weißen Präsentiertellern aus. Omar | |
bestellt eine Portion Nabulsiyeh, die der Verkäufer abschneidet und in der | |
Mikrowelle warm macht. Wieder hält Omar ihm seine Bezahlkarte entgegen – | |
und wieder wird er vertröstet. Gerade kein Kartengerät da. | |
Omar zögert kurz, zückt dann einen 20-Euro-Schein, mit dem er die Süßspeise | |
bezahlt. Häufig wird der junge Mann das diesen Monat nicht machen können. | |
„Es tut gut, etwas aus meiner Heimat zu essen“, sagt Omar, während er | |
grinsend Zuckersirup über das Gebäck gießt. | |
17 Sep 2024 | |
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Joscha Frahm | |
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