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# taz.de -- Oleg Orlow über den Gefangenenaustausch: „Ich muss Herrn Scholz …
> Der russische Aktivist Oleg Orlow kam beim Gefangenenaustausch frei. Ein
> Gespräch über seine Haftbedingungen, Putin und die Möglichkeiten des
> Westens.
Bild: Insgesamt wurden bei dem größten Gefangenenaustausch seit dem Kalten Kr…
taz: Herr Orlow, hätten Sie sich vor einem Monat vorstellen können, dass
wir jetzt hier in Berlin zusammensitzen und miteinander sprechen?
Oleg Orlow: Ich habe öfter mit meinem Mithäftling über einen möglichen
Austausch gesprochen, aber die Wahrscheinlichkeit, dass es dazu kommen
könnte, hielten wir für sehr gering.
taz: Warum?
Orlow: Sich auf so einen Kompromiss einzulassen, dazu schien keine der
beiden Seiten bereit zu sein. Russische politische Gefangene freizulassen,
da war Putin dagegen. Gleichzeitig war uns klar, dass er unbedingt Wadim
Krassikow [den sogenannten Tiergarten-Mörder; Anm. d. Red.] zurückhaben
wollte. Doch dann haben sie mir und einigen anderen am 23. Juli
vorgeschlagen, ein Begnadigungsgesuch zu unterschreiben. Das käme von oben,
aus Moskau. Wenn ich dem Folge leistete, könnte ich freikommen. Aber ich
habe abgelehnt.
taz: Und dann?
Orlow: Sie haben mich zu überreden versucht und mich unter sogenannte
präventive Beobachtung gestellt. Das machen sie mit denjenigen, die wegen
Extremismus einsitzen. Und sie haben mir gedroht, dass es jetzt noch
schlimmer werden würde. Aber ich habe nicht unterschrieben. Fünf Tage
später hieß es, ich würde verlegt.
Man brachte mich ins Moskauer Untersuchungsgefängnis des FSB [russischer
Inlandsgeheimdienst; Anm. d. Red.], eines der furchtbarsten seiner Art. Ich
dachte nur: Jetzt werden sie [1][ein weiteres Strafverfahren gegen mich
einleiten]. Stattdessen wurde mir ein Papier vorgelegt – Befreiung von der
Verbüßung der Reststrafe aufgrund einer Begnadigung Putins. Dann ging alles
sehr schnell. Vorbei an FSB-Spezialeinheiten zu einem Bus. Ein FSBler
sagte, wir würden zum Flughafen gebracht und in ein anderes Land
ausgeflogen. Erst da wurde mir klar, dass es sich wirklich um einen
Austausch handelte.
taz: Wie waren Ihre Haftbedingungen?
Orlow: Die sind je nach Gefängnis völlig unterschiedlich, manchmal auch von
Zelle zu Zelle in einem Gefängnis. Im Untersuchungsgefängnis Wodnik in
Moskau war die Zelle fünf mal fünf Meter groß, inklusive Bad. Die
Doppelstockbetten hatten zehn Plätze, aber wir waren zwölf Gefangene. Es
war so eng, dass man nur seitwärts gehen konnte. Wir hatten rein gar
nichts, außer einem Tauchsieder. Mit dem haben wir uns Tee gekocht.
taz: Einige der Freigekommenen haben gesagt, dass sie in Russland hätten
bleiben wollen und [2][dem Austausch nicht zugestimmt haben]: Wie ging es
Ihnen damit?
Orlow: Auch ich wurde nicht gefragt, und ehrlich gesagt hatte niemand eine
Wahl. Selbst wenn ich gesagt hätte, dass ich bleiben wollte, hätten mich
die Spezialkräfte an Armen und Beinen gepackt und in den Bus gesetzt. Ich
bin nicht grundsätzlich gegen einen Austausch. Es gibt politische
Gefangene, die sehr schwer erkrankt sind. Vor allem sie müssen gerettet
werden. Wenn mir klar gesagt worden wäre, du wirst ausgetauscht, aber die
anderen nicht, und ich gefragt worden wäre, hätte ich abgelehnt. Aber sie
haben mich nicht gefragt.
taz: In Deutschland wird von manchen kritisiert, der Westen habe für den
Austausch mit Russland einen hohen Preis bezahlt und sich erpressbar
gemacht. Haben die Kritiker*innen recht?
Orlow: Ich tue mich schwer, das zu kommentieren. Wenn es um russische
politische Gefangene geht, kann der Preis für ihre Freilassung nie zu hoch
sein. Wenn der Westen daran interessiert ist, dass aus Russland anstelle
des gegenwärtigen Aggressors in Zukunft ein anderes Land wird, bedeutet
das: Wir müssen die Menschen unterstützen, die sich für ein anderes
Russland opfern. Zweitens dürfen wir nicht vergessen, dass auch
amerikanische Staatsbürger herausgeholt wurden. Ich weiß nicht genau, wie
der Austausch zustande kam, habe aber den Eindruck, dass es sich bei uns
eher um eine Ergänzung zum eigentlichen Austausch gehandelt hat. Putin ging
es ohnehin nur um Krassikow. Dass er ihn, einen Mörder, bekommen hat,
stärkt sein Regime in den Augen des Sicherheitsapparats. Dass er dafür
politische Gefangene, die sogenannte fünfte Kolonne, gehen lassen musste,
interpretiert der Apparat hingegen als Zeichen der Schwäche.
taz: Hat der Westen also letztlich richtig gehandelt?
Orlow: Es wäre schon merkwürdig, wenn ich Herrn Scholz nicht danken würde –
nicht so sehr wegen mir, sondern für meine Freunde und Kollegen. Am Ende
geht es darum, ob man mit Terroristen, die Geiseln genommen haben, sprechen
und ihnen auf halbem Wege entgegenkommen sollte – mit dem Ziel, die
Menschen zu retten. Das hat Scholz getan. Und wie hätte es denn sonst
laufen sollen? In Russland ist der Standpunkt weit verbreitet, dass man mit
Terroristen nicht verhandeln soll und die Geiseln dann eben mit draufgehen.
Aber das kann nicht richtig sein.
taz: Wenn Sie Russland mit der Sowjetunion vergleichen, wo gibt es
Gemeinsamkeiten, wo Unterschiede?
Orlow: Beide sind totalitäre Regime, heute jedoch ohne kommunistische
Ideologie. Russland ist ein nationalistisches, faschistisches Regime, das
selbst unter Stalin nicht so personalisiert war wie heute und komplett auf
Putins Persönlichkeit fixiert ist. Jede abweichende Meinung wird
unterdrückt. Es herrscht ein Kult der Stärke und des Kriegs. Und die
Propaganda bedient sich größtenteils moderner Technologien.
taz: Der Gefangenenaustausch zeigt, dass es immer noch Gesprächskanäle
gibt, die funktionieren. Sollte der Westen doch verstärkt auf Diplomatie
setzen?
Orlow: Eine neue Entspannung erreichen, eine gemeinsame Sprache mit diesem
Regime finden, Frieden in der Ukraine um jeden Preis … Ich kenne die
Argumentation, aber diese Ziele sind destruktiv und gefährlich für Europa.
Russland ist sehr mächtig und aggressiv und steht wirtschaftlich nicht
unmittelbar vor dem Zusammenbruch. Jetzt Beziehungen aufzunehmen, würde das
Regime in Moskau als großartigen Sieg präsentieren. Europa hat nach- und
aufgegeben, würde es dann heißen. Ja, sie haben versucht, uns unter Druck
zu setzen, aber wir haben dem widerstanden, so würde das Narrativ lauten.
Der Krieg in der Ukraine, der zu Putins Bedingungen zu Ende geht, würde
ebenfalls als Sieg inszeniert. Das würde das Regime über Jahre
aufrechterhalten und stärken.
taz: Warum?
Orlow: Wenn ein Regime einen Krieg in der Mitte Europas beginnen und
fremdes Territorium mit Gewalt besetzen kann, wie kommt man darauf, dass
mit einem solchen Regime ein langfristiger Frieden möglich ist? Ein solches
Regime wird früher oder später einen neuen Angriffskrieg gegen die Ukraine
oder etwa gegen die Republik Moldau beginnen. Die Beschwichtigung eines
Angreifers führt nur zu einer Verstärkung der Aggressionen. Manchmal frage
ich mich, ob das deutsche Publikum das nicht versteht.
taz: Einige russische Oppositionelle betonen, man müsse zwischen Putin und
den Menschen in Russland unterscheiden. In welchem Zustand befindet sich
die russische Zivilgesellschaft?
Orlow: Im Faschismus kann es keine unabhängige Zivilgesellschaft geben,
denn sie wird konsequent zerstört. Aber ganz so weit sind wir in Russland
noch nicht. Die Menschen setzen ihre Arbeit fort, allerdings unter sehr
schwierigen Bedingungen und bei Weitem nicht so effizient wie früher.
taz: Welche Perspektiven sehen Sie für Russland?
Orlow: Entweder eine militärische Niederlage und eine Erschütterung dieses
Regimes, was jedoch nicht unbedingt auf einen Umsturz hinausläuft. Sollte
es einen wenn auch nur partiellen Sieg Russlands in der Ukraine geben und
Putin dann noch an der Macht sein, würde dieser Sieg das Regime noch
stabilisieren und dessen faschistische Komponente verstärken. Ohne einen
Abgang Putins wird sich für Reformen aber kein Möglichkeitsfenster öffnen.
Aber wer weiß schon, wie lange Putin noch durchhält. Er hat sehr gute
Ärzte.
taz: Was fordern Sie von der Bundesregierung?
Orlow: Wer bin ich, Forderungen zu stellen? Ich kann allenfalls
Empfehlungen abgeben.
taz: Und die lauten?
Orlow: Alles für die Rettung russischer politischer Gefangener zu tun und
politische Strukturen im Ausland zu unterstützen, zum Beispiel die Arbeit
von Menschenrechtsorganisationen. Maximale Hilfe für die Ukraine,
militärisch und humanitär. Ein Angreifer kann nur mit militärischer Gewalt
gestoppt werden, auch wenn dabei Menschen sterben. Auch die Sanktionen
gegen Putin, seine Beamten und einige Oligarchen müssen aufrechterhalten
werden. Das alles ist übrigens auch im Interesse Russlands.
taz: Inwiefern?
Orlow: Putin hat kein Zukunftsprojekt für Russland. Stattdessen zerstört
das Regime sein Volk und sein Land. Menschen werden vertrieben oder sind
zum Schweigen verdammt. Nehmen Sie die Kultur. Aufführungen werden
verboten, Sänger*innen singen nicht, und Bücher, so sie noch nicht
verbrannt sind, werden versteckt und nicht mehr verkauft.
taz: Welche persönlichen Pläne haben Sie jetzt?
Orlow: Trotz meines Alters will ich weiter bei [3][Memorial] arbeiten,
Menschenrechte schützen und mich für die Befreiung politischer Gefangener
einsetzen. Diese Arbeit wird von außerhalb Russlands weniger effektiv sein
als von innen. Aber trotzdem muss es weitergehen.
10 Aug 2024
## LINKS
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[3] /Auszeichnung-fuer-Memorial-Mitbegruenderin/!6009832
## AUTOREN
Barbara Oertel
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