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# taz.de -- Kandidatur von Kamala Harris: Traum, Trauma, Trump
> Die Kandidatur von Kamala Harris holt die US-Demokraten aus der Misere.
> Doch sie garantiert auch ein erbittertes Rennen mit mehr Rassismus und
> Sexismus.
Wir wählen die Freiheit“, so Kamala Harris. Mit einem fulminanten Start
verkündete die 59-jährige US-Vizepräsidentin vor knapp zwei Wochen, die
Geschicke der Vereinigten Staaten und ihrer 333 Millionen
Einwohner:innen lenken zu wollen. An Dreistigkeit nicht zu überbieten.
Oder doch?
Mit jeder neuen strafrechtlichen Verurteilung brüstete sich Trump damit,
häufiger angeklagt worden zu sein als Al Capone. Seine handverlesenen
Marionetten auf der Richterbank des Supreme Court versicherten ihm, er
stehe eh über dem Gesetz. Dann gelang ihm die ultimative
Täter-Opfer-Umkehr, als er einer Kugel knapp ausgewichen war.
Das ikonische Foto, das ihn mit blutverschmiertem Antlitz und erhobener
Faust unter dem Sternenbanner zeigt, wie bei den Marines auf Iwo Jima, habe
seinen Triumph besiegelt, hieß es. Erst recht deshalb, weil Bidens
abgeschriebene Partei nach dem desaströsen TV-Duell nichts als
„Demenzkratie“ bieten könnte. Doch dann verzichtete Biden auf eine neue
Kandidatur – und nun sieht Trump alt aus.
## Garstige Geringschätzung
Fakt ist, der ambitionierten Afroamerikanerin werden gute Chancen
eingeräumt, [1][die erste Madame Präsidentin der USA zu werden]. Das
entfacht allerdings den Zorn der Republikaner:innen. Infolgedessen bekommt
Harris die Misogynoir, die toxische Mischung aus Sexismus und
Anti-Black-Rassismus, in steigenden Dosierungen zu spüren, wird etwa als
Quotenfrau gebrandmarkt. DEI hire (sinngemäß „Diversityangestellte“) ist
das neue Buzzword. Queen Kamala ist aber keine Quotenfrau, sondern vielmehr
eine Quotenbrecherin. Innerhalb der ersten 24 Stunden nach Bekanntgabe
ihrer Kandidatur erzielte sie einen Spendenrekord. Sage und schreibe 81
Millionen Dollar fuhr sie ein, und zwar meistenteils in Form von
Kleinbeträgen.
Klar ist: Wenn eine Schwarze Frau ehrgeizig ist, wird es als Provokation
empfunden. Man reagiert mit garstiger Geringschätzung. Harris wird als
faul, inkompetent und laut dargestellt. Es wird eindringlich gemahnt, die
Zeit sei immer noch nicht reif für irgendwelche Experimente. So hieß es
bereits 1972, als die afroamerikanische Demokratin Shirley Chisholm für das
Präsidentenamt mutig, wenn auch erfolglos kandidierte. Genauso klang es vor
vier Jahren, als Harris die Vizepräsidentschaft anstrebte. Die Welt steckte
inmitten der Pandemie und einer hartnäckigen Rezession. Erzkonservative
verspotteten und verachteten Joe Biden dafür, ausgerechnet Harris als
Wahlkampfgefährtin auserkoren zu haben. Aber siehe da, es hat geklappt.
## Incels und Aufrührer
„We did it, Joe!“, jubelte Harris damals in einem legendären Video. Denn
das Gespann Biden/Harris hatte es bei großer Wahlbeteiligung geschafft, den
amtierenden Präsidenten Donald Trump und dessen Vizepräsidenten Mike Pence
zu besiegen. Doch damit war der Kampf nicht vorbei. Trotz seiner eindeutig
bestätigten Niederlage klebte Trump am Oval Office. White male entitlement
nennt man das.
Bei der Aufrechterhaltung des weißen männlichen Besitzanspruchs spielen
Rituale eine wichtige Rolle. Denken wir bitte kurz an den Washingtoner
Dreikönigstag 2021 zurück. Beim tödlichen, von Trump höchstpersönlich
angestifteten Sturm aufs Kapitol stachen viele der Hausfriedensbrecher
durch ihre Montur und ihre Mitbringsel ins Auge: Konföderiertenflaggen,
Kriegsbemalung, Waschbärfelle, Wikingerkopfschmuck. Eine Vereinigung von
Insurgents und [2][Inceligentsia] – also ein Klub aus Aufständischen und
frauenverachtenden Incels. Kunterbunt, doch einem rassifizierten
Reinheitsgebot gehorchend. Von den rund 400 festgenommenen
Pro-Trump-Aufständischen waren 93 Prozent weiß und 86 Prozent Männer.
Sollte eine Präsidentin Harris in das majestätische Quartier an der
Pennsylvania Avenue einziehen, wäre das noch lange nicht das Ende des
Patriarchats, sondern der Anfang eines Heilungsprozesses. Denn die
Vereinigten Staaten leiden chronisch an MAGA-Sucht. Das reiche Land ist
seelisch unterernährt, sozial verhungert und hat, kollektiv betrachtet, den
Hunger auf Harmonie verloren. Diese Auffassung sei mir gestattet. 1961
erblickte ich ebenda das Licht der Welt, und zwar im Schatten der
Freiheitsstatue. Meine Vorfahren waren schon seit Jahrhunderten da. Zuerst
als Versklavte, dann als Soldatinnen. Das gelobte Land der unbegrenzten
Möglichkeiten war für uns eigentlich immer ein Land unmöglicher
Begrenzungen.
## Kalte Wasser der Südstaaten
Herbst 1964. Meine Mutter nahm mich zum Wahllokal mit. In einer Pfütze auf
dem Schulhof trieb ein Handzettel. Ich hob ihn auf. Auf dem Flyer prangte
„Make America Great Again“. Mit drei Jahren konnte ich das natürlich nicht
entziffern. Aber ich erkannte den abgebildeten Kandidaten wieder und machte
somit meine allererste Wahlempfehlung.
„Coldwater!“, so schrie ich. Freude mit einem Freud’schen Versprecher. Ei…
kalte Dusche erfolgte auf der Stelle.
Der Herr hieß eigentlich Goldwater. Barry Goldwater. Der republikanische
Senator, der Präsident sein wollte, hatte allerdings jüngst gegen
progressive Bürgerrechtsgesetze abgestimmt. Nun, wir hatten Verwandte in
den südlichen Bundesstaaten. Aufgrund ihrer Hautfarbe durften sie nicht
wählen, obwohl sie seit Generationen US-Bürger:innen waren und sich nichts
zuschulden kommen ließen. Wie Großtante Henrietta in Kentucky. Auch wenn
der Wahltag in den USA seit eh und je auf einen Dienstag fällt, hatte sie
sich stolz in ihren Sonntagstaat geworfen und das Geld für die dubiose
Kopfsteuer zusammengekratzt, um ihre Stimme abzugeben. Doch der Wahlbeamte
zerriss den Stimmzettel und ließ die tränenüberströmte Henrietta von einem
Hilfssheriff hinauseskortieren, weil sie beim Jelly-Bean-Test
durchgefallen ist.
Es war die Jim-Crow-Ära. Um an die Wahlurne heranzutreten, mussten
südstaatliche Schwarze nicht nur genug Dollars aufbringen, sondern auch
ihre Intelligenz messen lassen. Wahlbeamte stellten sie vor unlösbare
Aufgaben, etwa die Schätzung der Anzahl von Süßigkeiten in einem Gefäß, um
sie von der Teilnahme an Wahlen abzuhalten.
So machte Mama ihr Kreuz lieber bei Lyndon Baines Johnson alias LBJ. Er
siegte und boxte während seine Amtszeit umfassende Wahlrechtsreformen
durch. Erzkonservative beargwöhnten solche Fortschritte. Deshalb griffen im
Laufe der Jahrzehnte Männer wie Ronald Reagan die MAGA-Schlachtparole
wieder auf. Allerdings war es erst Trump, der den Slogan markenrechtlich
schützten und auf Baseballmützen, Bikinis und T-Shirts drucken ließ. MAGA
ist, kurz gesagt, die Sehnsucht nach einer Zeit, in der hörige Ehegattinnen
hauptberuflich am Herd hantierten und Minderheiten ausgegrenzt und
eingeengt wurden. Ein talentiertes Girl wie Kamala Harris, Tochter eines
jamaikanischen Vaters und einer indischen Mutter, hätte so kaum Aussichten
auf den sozialen Aufstieg.
## Den Karren aus dem Dreck ziehen
Sommerferien 1967. Verwandtenbesuch in Pulaski, Tennessee. Dem Ort, an dem
man 1865 den Ku-Klux-Klan aus der Taufe gehoben hatte. Das spürten wir, als
uns eines Nachts ein Pick-up von der Landstraße drängte. Grillenzirpen,
Schnappatmung. Ein weißer Junge sprang raus, Tabak kauend und mit der
Winchester wedelnd. Höchstens 18 Jahre alt, eigentlich schon reif genug für
den Fleischwolf in Vietnam. Aber jetzt durfte er zuerst einmal seinen Spaß
mit uns haben, der afroamerikanischen Familie mit dem Autokennzeichen aus
dem gehassten Norden. Unser Chevrolet steckte im Graben fest, ein
plötzliches Beschleunigen hätte uns nicht geholfen.
Meine Eltern mahnten mich, den Kopf einzuziehen und keinen Mucks von mir zu
geben. Papa, der in der U. S. Air Force im Zweiten Weltkrieg gekämpft
hatte, wurde mit „Boy“ angesprochen, Mama, eine erfahrene pädagogische
Assistentin, wurde wie eine exotische, verfügbare Dienstmagd behandelt.
Auf einmal stieg die Beifahrerin des jungen Kerls aus. Eine Hochschwangere
mit Kassenbrille und Lockenwicklern. Sie keifte ihn an, er solle die
„Negras“ weiterfahren lassen. Dieser Angriff auf seine Autorität ließ ihn
schäumen. Mit dem Kolben seiner Schrottflinte stieß er auf unsere
Motorhaube, dann bespuckte er unsere Windschutzscheibe. Anschließend griff
er seine Beifahrerin am Schopf und zog sie zurück in den Pick-up. Die
Heckleuchten der beiden verschwanden bald aus unserem Blickfeld. Heute
wären sie Nebendarstellende in einer Elegie des Hinterwäldlers J. D.
Vance.
Ich weiß noch, wie ich mit meinen knochigen Armen und zitternden Händen mit
anpackte, um unser Auto zu schieben. Eins war mir damals noch nicht so
bewusst: Vor meinen weit aufgerissenen Augen hatte sich just eine Metapher
für die amerikanischen Machtverhältnisse abgespielt.
## Bereit für eine Frau? Natürlich!
Aber wer soll nun als US-Präsident:in den Karren aus dem Dreck ziehen?
Meine sarkastische Ader meint: Handelt es sich um die Erledigung der
Drecksarbeit, gibt es eh keine geeignetere Kandidatin als eine Schwarze.
[3][Harris, die eloquente Ex-Generalstaatsanwältin Kaliforniens, ehemalige
US-Senatorin und amtierende Vizepräsidentin], steht einem mehrfach
verurteilten Verbrecher gegenüber, [4][der öffentlich von Hannibal Lector
schwärmt]. Worin liegt die „Qual“ der Wahl?
Natürlich ist die Wählerschaft bereit für eine Madame Präsidentin. Das hat
sie 2016 bewiesen, als Hillary Clinton fast drei Millionen Stimmen mehr als
Trump erhielt! Blöd nur, dass das Electoral College, das Gremium der
Wahlmänner, das Sagen hatte. Bei der Wahl hatten viele weiße Frauen in
ländlichen Regionen Trump gewählt. Das war 2016 das Zünglein an der Waage
bei den Wahlmännern. Zum Glück gibt es mittlerweile Hunderttausende „White
Women for Kamala“, die sie als Symbol für eine neue Ära euphorisch feiern
und somit Millionen andere weiße Frauen animieren.
Dazu zählen jüdische Wähler:innen und der Jewish Democratic Council of
America. Denn Harris, deren Ehemann Jude ist, ist eine der wenigen
Progressiven, die den Antisemitismus infolge des 7. Oktobers schon von
Anfang an anprangert hate. Die Tatsache, dass Harris das Existenzrecht
Israels ausdrücklich anerkennt und mit Netanyahu gleichzeitig Tacheles
redet, kann in etliche Hinsicht vorteilhaft sein. Diesmal kann es also
wirklich was werden.
## Patriarchale Missgunst überall
Was Deutschland betrifft – Chapeau! 16 Jahre unter Angela Merkel haben
bewiesen: Eine Demokratie kann eine Regierungschefin aushalten. Wobei es
von Anfang („Kann die das denn?“) bis Ende („Männermörderin“) patriar…
Missgunst hagelte. Vielleicht achtete Annalena Baerbock deshalb darauf,
während ihrer Kandidatur den Feminismus nicht großzuschreiben.
Ich schließe mit den Worten von Kamala Harris vom Wahlabend 2020: „Obwohl
ich die erste Frau in diesem Amt sein mag, werde ich nicht die letzte sein.
Denn jedes kleine Mädchen, das heute Nacht zuschaut, sieht, dass dies ein
Land der Möglichkeiten ist!“
3 Aug 2024
## LINKS
[1] /Was-im-US-Wahlkampf-jetzt-ansteht/!6023649
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Incel
[3] /Praesidentschaftskandidatin-Kamala-Harris/!6023604
[4] https://www.spiegel.de/kultur/kino/trumps-begeisterung-fuer-das-schweigen-d…
## AUTOREN
Michaela Dudley
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