# taz.de -- Trotz Gerichtsbeschluss ausgeflogen: Abschiebung um jeden Preis | |
> Ein Gericht hat die Abschiebung von Mehdi Nimzilne verboten – doch | |
> Sachsens Behörden ignorierten den Beschluss offenbar. Jetzt sitzt er in | |
> Casablanca fest. | |
Bild: Unter Zwang zurück nach Marokko: Sachsens Behörden scheinen es mit dem … | |
Berlin taz | Entgegen einer eindeutigen Gerichtsentscheidung haben | |
sächsische Behörden den Marokkaner Mehdi Nimzilne am 11. Juli in sein | |
Herkunftsland abgeschoben. Seine Anwältin berichtet, Verantwortliche bei | |
der Stadt Chemnitz sowie der Landesdirektion Sachsen hätten ihr gegenüber | |
zugegeben, den eigentlich bindenden Gerichtsbeschluss zu ignorieren. Das | |
Dokument sei deshalb nicht an die für die Abschiebung zuständigen | |
Polizist*innen weitergeleitet worden. | |
Der 34-jährige Nimzilne wohnte seit fünf Jahren in Deutschland, arbeitete | |
als Koch und besuchte zuletzt einen Integrationskurs. Er ist mit einer | |
Deutschen verheiratet und hat ein Kind. Seit sein Asylantrag negativ | |
beschieden wurde, lebte er mit einer Duldung hier. | |
Beim Telefonat mit der taz schildert er, wie er frühmorgens aus der | |
Flüchtlingsunterkunft bei Chemnitz geholt wurde. „Ich durfte nur ein Buch, | |
einen Hoodie und eine Banane mitnehmen.“ Am Flughafen Frankfurt am Main | |
dann das Telefonat mit seiner Frau, die ihn über den erfolgreichen | |
Eilantrag gegen die Abschiebung informierte – nur um wenig später zu | |
bemerken, dass die zuständigen Bundespolizist*innen den | |
Gerichtsbeschluss nicht weitergeleitet bekamen. „Wie in einem schlechten | |
Traum“, habe er sich gefühlt, so Nimzilne, „ganz taub.“ Seine Ehefrau Ka… | |
Nimzilne-Brandt sagt: „Ich finde da keine Worte für.“ Sie habe das | |
Vertrauen in den deutschen Rechtsstaat verloren. | |
Der Beschluss gegen die Abschiebung liegt der taz vor. Er stammt vom Mittag | |
des 11. Juli und geht auf einen Eilantrag von Nimzilnes Anwältin, Inga | |
Stremlau, beim Verwaltungsgericht Chemnitz zurück. Das Dokument lässt | |
keinen Spielraum für Interpretationen: Die Abschiebung sei „aus rechtlichen | |
Gründen unmöglich aufgrund der familiären Bindungen des Antragstellers in | |
Deutschland.“ | |
## „Juristisch eine Katastrophe“ | |
Stremlau berichtet, wie am späten Nachmittag des 11. Juli aufgefallen sei, | |
dass die Abschiebung trotz des Gerichtsbeschlusses weiter lief. Hektische | |
Anrufe bei den Behörden. Was eine Mitarbeiterin der Ausländerbehörde | |
Chemnitz ihr am Telefon gesagt habe, schildert Stremlau so: „Der Beschluss | |
sei ihr bekannt, sie halte diesen aber für fehlerhaft und sei deshalb nicht | |
daran gebunden.“ Ohnehin sei für Abschiebungen die Landesdirektion Sachsen | |
(LDS) zuständig, habe die Sachbearbeiterin behauptet. | |
Bei der LDS habe sie genauso wenig Erfolg gehabt, berichtet Stremlau. „Die | |
Mitarbeiterin hat mich mehr oder weniger ausgelacht.“ Ihr sei erklärt | |
worden, der Gerichtsentscheid sei fehlerhaft und werde deswegen nicht | |
weitergeleitet. Und auch hier habe man ihr erklärt, man sei eigentlich gar | |
nicht zuständig, der Beschluss richte sich schließlich an die Stadt | |
Chemnitz. „Nach den Telefonaten war ich wirklich fertig“, sagt Stremlau. | |
„Der Gerichtsbeschluss war bindend und lag beiden Behörden vor. Eine von | |
beiden hätte ihn weiterleiten müssen.“ | |
Beim Verwaltungsgericht Chemnitz sei zu diesem Zeitpunkt niemand mehr zu | |
erreichen gewesen, die Bundespolizist*innen am Frankfurter Flughafen | |
hätten weiter darauf verwiesen, dass ihnen der Gerichtsbeschluss nicht | |
vorlag. Stremlau: „Ich musste einfach zugucken.“ Um 18 Uhr hob der | |
Abschiebeflieger mit Nimzilne ab. Den Vorgang nennt Stremlau „juristisch | |
eine Katastrophe“, dass Behörden sich über Gerichtsbeschlüsse | |
hinwegsetzten, mache ihr „große Sorgen“. | |
Fragt man nun bei den verantwortlichen Behörden nach, setzen die ihr | |
Verwirrspiel fort. Ein Sprecher der Stadt Chemnitz sagte der taz: „Die | |
Zuständigkeit liegt zu 100 Prozent bei der Landesverwaltung.“ Angesprochen | |
auf mögliche Fehler in der Stadtverwaltung, sagte er: „Von unserer Seite | |
ist da nichts passiert.“ | |
## Wird Nimzilne zurückgeholt? | |
Die sächsische Landesdirektion wiederum teilt schriftlich mit, der | |
Gerichtsbeschluss richte sich „nicht gegen die LDS, sondern gegen die | |
untere Ausländerbehörde der Stadt Chemnitz.“ Und weiter: „Die LDS war zu | |
keinem Zeitpunkt in das gerichtliche Verfahren einbezogen. Aus diesem Grund | |
wurde in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit gegen einen Stopp der | |
laufenden Rückführung entschieden.“ Das sächsische Innenministerium teilte | |
mit, weil es sich um einen Einzelfall handele, äußere man sich nicht dazu, | |
die LDS sei der zuständige Ansprechpartner. | |
Aus Politik und Zivilgesellschaft kam am Donnerstag scharfe Kritik an den | |
sächsischen Behörden. Die Linken-Landtagsabgeordnete Juliane Nagel sagte | |
der taz: „Mehdi Nimzilne muss umgehend zurückgeholt werden. Es ist nicht zu | |
dulden, dass sich sächsische Behörden über Gerichtsentscheidungen | |
hinwegsetzen.“ Sachsen solle „endlich aufhören, Menschen herauszuwerfen, | |
die längst Teil dieser Gesellschaft sind.“ Und die Behörden müssten | |
„aufhören, Recht zu brechen und sich an rechtsstaatlich und sogar selbst | |
formulierte Prämissen halten.“ | |
Die Grünen-Landtagsabgeordnete Petra Čagalj Sejdi nennt die Abschiebung von | |
Nimzilne „fragwürdig“. Es entstehe „das Gefühl, dass die Behörden die … | |
absichtlich verkompliziert haben“, um die Abschiebung nicht stoppen zu | |
müssen. | |
Nimzilne werde ohnehin wieder einreisen können, da er als Ehemann einer | |
Deutschen und Vater eines Kinds, das hier lebt, Anspruch auf | |
Familienzusammenführung habe. „Warum lassen wir Menschen, die hier wohnen, | |
arbeiten, eine Familie haben, nicht einfach ungestört weiterleben?“ | |
Čagalj Sejdi fordert, dass auch Personen, die schon in Deutschland sind, | |
Visa für Familienzusammenführung erhalten. „Die Bundesregierung sollte hier | |
einfache Wege schaffen.“ | |
Osman Oğuz, Sprecher des Sächsischen Flüchtlingsrates, sagte: „Worauf | |
können wir uns verlassen, wenn selbst ein Gerichtsurteil missachtet wird?“ | |
Dies dürfe „keine Normalität werden“, der Fall müsse deshalb „aufgekl�… | |
werden und deutliche Konsequenzen nach sich ziehen.“ | |
Nimzilne, der Abgeschobene, sitzt nun vorerst in Casablanca fest, ein Ort, | |
an dem er sich fühle „wie ein Alien“. Zwar hat Anwältin Stremlau am | |
Dienstag einen weiteren Gerichtsbeschluss erwirkt, laut dem die Stadt | |
Chemnitz und die Landesdirektion ihn binnen einer Woche zurückholen müssen. | |
Doch bisher haben die Behörden weder Nimzilne noch Angehörige oder seine | |
Anwältin kontaktiert. Stremlau fürchtet, dass die sächsischen Behörden | |
versuchen könnten, auch diesen Gerichtsbeschluss einfach zu ignorieren oder | |
zumindest die Rückholung zu verzögern. | |
Sachsens Landesregierung fährt schon länger [1][einen scharfen Kurs in der | |
Migrationspolitik], in diesem Jahr wurden bereits fast 500 Personen aus dem | |
Freistaat abgeschoben. Erst am vergangenen Freitag war der 31-jährige | |
Robert A. [2][in Abschiebehaft genommen] worden, er sollte nach Serbien | |
gezwungen werden – ein Land, in dem er nie gelebt hat und das ihm völlig | |
fremd ist. Nach massiver öffentlicher Kritik stoppte der sächsische | |
Innenminister Armin Schuster (CDU) die Abschiebung [3][am Montag] jedoch. | |
Auch deutschlandweit schoben die Behörden zuletzt wieder mehr ab, im ersten | |
Quartal 2024 waren es fast 5.000 Personen, im gleichen Zeitraum des | |
Vorjahres waren es nur etwa 3.500 gewesen. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) | |
hatte im Herbst angekündigt, „im großen Stil“ abschieben zu wollen, per | |
Gesetz verschärfte die Ampel verschiedene Regelungen, die bei den | |
Rückführungen gelten. Dazu kam zuletzt auch die Ankündigung von Scholz, | |
Straftäter, Terror-Sympathisan*innen und Gefährder nach Afghanistan und | |
Syrien zurückzuzwingen, obwohl dort Todesstrafe und Folter drohen. | |
Aktualisiert am 23.07.2024 um 08:30 Uhr. d. R. | |
19 Jul 2024 | |
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## AUTOREN | |
Frederik Eikmanns | |
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