# taz.de -- Helfer über Elend am Hamburger Hbf: „Unsere Ressourcen reichen n… | |
> Das Gesundheitsmobil für Obdachlose am Hamburger Hauptbahnhof ist | |
> überlastet. Es kämen immer mehr und schwierigere Fälle, sagt Pfleger | |
> Ronald Kelm. | |
Bild: Versorgung im Hamburger Gesundheitsmobil: Hier bekommt jeder Hilfe, auch … | |
taz: Herr Kelm, Ihr Gesundheitsmobil warnt vor der Lage am Hamburger | |
Hauptbahnhof. Was ist da los? | |
Ronald Kelm: Unser Mobil steht seit drei Jahren sonntags vor der | |
Bahnhofsmission. Wir erleben in jüngster Zeit einen erheblichen Zulauf. Und | |
wir müssen sehr oft Menschen ins Krankenhaus einweisen. | |
taz: Wie lange dauern Ihre Einsätze? | |
Kelm: Unsere Sprechstunde dauert in der Regel am Nachmittag von viertel | |
nach zwei bis vier Uhr. Neuerdings stehen wir dort bis fünf oder sogar halb | |
sechs, weil so viele und schwierige Fälle kommen. Das ist einfach zu lang, | |
die Ressourcen haben wir nicht. Wir arbeiten ehrenamtlich. | |
taz: Wieso dauert es länger? | |
Kelm: Es kommen mehr Patienten und ihr Zustand ist schlechter. | |
taz: Zum Beispiel? | |
Kelm: Viele kommen gerade aus dem Krankenhaus. Sie wurden als Notfall | |
eingeliefert und wieder entlassen, stehen dann plötzlich vor unserem Mobil, | |
mit einem Arztbrief oder auch ohne, und haben keine Medikamente. Und sie | |
wissen nicht wohin, wenn sie weiter versorgt werden müssen. Damit müssen | |
wir uns dann auseinandersetzen, welche Stellen wann geöffnet haben. Das ist | |
ein Flickenteppich in Hamburg. Wir können die Menschen nicht einfach in die | |
nächste Praxis schicken. Wir müssen genau gucken, was ist eine geeignete | |
Institution? | |
taz: Sie schreiben, es gebe psychisch Kranke, die desorientiert sind. Nimmt | |
das zu? | |
Kelm: Wir haben schon immer Noteinweisungen bei Lungenembolie, | |
Lungenentzündung, Kreislaufproblemen oder Herzinsuffizienz. Aber wir hatten | |
anfangs selten Notfälle als Einweisung in eine psychiatrische Klinik. Und | |
das haben wir jetzt regelmäßig. Menschen mit Suizid-Gedanken etwa. Oder | |
Menschen mit Schizophrenie, die keine Medikamente bekamen. Es kommen auch | |
Menschen mit Panikattacken und Angststörung oder schweren Depressionen in | |
unsere Sprechstunde. Die können wir nicht wieder auf die Straße lassen, das | |
wäre ein zu großes Risiko. Wir haben Patienten, die im Entzug sind, die | |
tablettenabhängig sind [1][oder Drogen nehmen], wo wir nicht genau wissen, | |
welche. Denen geht es aber so schlecht, dass man sie ärztlich behandeln | |
muss, teilweise auch stationär. Die Verantwortung ist riesengroß. | |
taz: Kommen jüngere Patienten? | |
Kelm: Wir haben Obdachlose aus allen Bereichen. Wir haben mehr jüngere | |
Frauen und jüngere Männer, und teilweise wirklich Jugendliche, die durch | |
die Städte ziehen und draußen leben. Und die keine Einrichtung haben, wo | |
sie hin können. Zumindest sagen sie, dass sie abgewiesen werden und keinen | |
Zufluchtsort finden. | |
taz: Auch Minderjährige? | |
Kelm: Sie sagen es. Wir kontrollieren nicht die Ausweise, weil wir ein | |
niedrigschwelliges Angebot sind. Wir wollen die ja nicht verjagen. Wir | |
behandeln auch Menschen ohne Krankenkassenkarte und aus allen Ländern. | |
taz: Was führt zur Verelendung? | |
Kelm: Die war schon zu sehen, als die Politik vor anderthalb Jahren mit | |
[2][Säuberungsaktionen] begann und [3][eine „Quattro-Streife“] aus | |
Bundespolizei, Landespolizei, Bahnsicherheit und Hochbahn einsetzte. Die | |
streifen zu viert durch den Bahnhof und vertreiben die Obdachlosen. Und | |
auch diese „[4][Sozialraumläufer]“, das sind nett verkleidete Securitys, | |
die üben ebenfalls Druck aus. | |
taz: Dadurch wird’ s schlimmer? | |
Kelm: Ja. Manche Obdachlose müssen drei, vier mal am Tag ihren Platz | |
wechseln. Zynisch gesagt ist das Physiotherapie für Obdachlose. Die ziehen | |
dann in umliegende Parks und Straßen. In St. Georg hört man, es sei | |
schlimmer als 2001, als die Lage schon mal sehr zugespitzt war. Es liegen | |
überall Leute. Vor Läden, auf Kinderspielplätzen. Verjagt man Menschen, | |
lösen sie sich ja nicht in Luft auf. | |
taz: Aber es gibt doch ein neues Hilfskonzept der Stadt. In Niendorf wurde | |
ein [5][Haus für pflegebedürftige Obdachlose] eröffnet und eine | |
Übergangs-Unterkunft. Wirkt das gar nicht? | |
Kelm: Das ist eine Mogelpackung. Wir hatten hier Patienten, die nach ihrem | |
Klinik-Aufenthalt erst wieder mobilisiert werden müssen, damit sie sich | |
waschen und zur Toilette gehen können. Solche Menschen sind dort nicht | |
versorgt. Dort ist keine 24-stündige Pflege gewährleistet. | |
taz: Was sollte die Stadt tun? Was muss sich ändern? | |
Kelm: Wir brauchen einen Ort, wo Menschen untergebracht werden können, wenn | |
sie aus dem Krankenhaus kommen und einen höheren Pflegebedarf haben. Das | |
muss gewährleistet sein. Wir erleben auch immer wieder, dass schwerkranke | |
psychiatrische Patienten auf die Straße entlassen werden, weil es keine | |
Einrichtung gibt, die sie aufnimmt. Oder keine, wo sie hin wollen. Das | |
kommt ja auch manchmal dazu. Das [6][ganze Konzept aus Repression und | |
Hilfe], das seit Monaten rund um den Hauptbahnhof angewandt wird, | |
funktioniert hinten und vorne nicht. Die Bahnhofsmission soll dort | |
koordinieren und unter der Woche ein Pflegeangebot stellten. Nur ist das | |
enorm viel Arbeit und offenbar kaum zu schaffen. | |
taz: Haben Sie sich mit Ihrem Hilferuf an die Stadt gewandt? | |
Kelm: Wir schrieben schon im April an die Staatsrätin für Soziales, | |
berichteten vom hohen Zulauf und fragten, wie die [7][medizinische | |
Versorgung rund um den Hauptbahnhof] verbessert werden soll. Darauf gab es | |
bisher keine Antwort. | |
taz: Was denken Sie, welche Rolle spielt der Wahlkampf? | |
Kelm: Wir hatten ja gerade Europawahl und Fußball-Europameisterschaft. Da | |
wollte man [8][die Stadt sauber haben und hat viele Leute verscheucht]. | |
Jetzt gibt es eine kleine Pause, aber Ende des Jahres steuern wir auf die | |
Hamburg-Wahl zu. Aber es fehlt ein vernünftiges Konzept. Auch die | |
Straßensozialarbeit wird zu wenig koordiniert. Wir müssen oft die Patienten | |
von A nach B schicken, und manchmal werden sie abgewiesen, weil die | |
Kapazität fehlt. Eigentlich sollte die Straßensozialarbeit noch 2024 neu | |
konzipiert werden. Jetzt heißt es, das wird nichts mehr vor der Wahl. Da | |
gibt es Streit um die Verteilung der Gelder. | |
taz: Wie arbeitet das Gesundheitsmobil? | |
Kelm: Wir haben einen Wagen zur mobilen Praxis umgebaut. Dort bieten wir | |
eine hausärztliche Sprechstunde an. Jeder kann kommen. Wir haben die | |
wesentlichen Medikamente an Bord. Wir haben auch etwas zu trinken, eine | |
Unterhose oder ein paar Strümpfe. Manche Menschen sind so verelendet, denen | |
mag man gar nicht die alten Klamotten wieder anziehen. Seit letztem Jahr | |
haben wir eine zusätzliche Sprechstunde für chronisch Kranke in einer | |
Tagesstätte. Und wir planen jetzt ab August, September eine psychiatrische | |
Sprechstunde, eben für dieses Klientel, das total unterversorgt ist. | |
taz: Wer macht bei Ihnen mit? | |
Kelm: Es ist immer ein Arzt, ein Pfleger und ein Fahrer vor Ort. Wir haben | |
ein Team von 20 Ärzten aus allen Fachrichtungen, die im Wechsel | |
ehrenamtlich helfen. Sie tun das auch, weil sie aus den Krankenhäusern | |
wissen, dass es hier eine Versorgungslücke gibt. Unser Fahrer ist sozusagen | |
der „Sozialarbeiter“, der vor der Tür die Leute informiert. Der auch | |
Hinweise gibt, welche Einrichtung man aufsuchen kann. Es gibt in Hamburg | |
noch zwei andere Arztmobile. Aber das ist eben nicht ausreichend. | |
taz: Kann man Sie unterstützen? | |
Kelm: Wir leben nur von Spenden. Wir brauchen Schlafsäcke, Isomatten, | |
Rollatoren und vor allem Geld, weil wir auch Patienten haben, die teure | |
Medikamente brauchen. Unser Verein heißt „Nachtcafe“, weil wir einen | |
dringend benötigten Treff für Obdachlose in der Nacht in Hamburg einrichten | |
möchten. Aber dafür finden wir keinen Raum. | |
1 Aug 2024 | |
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## AUTOREN | |
Kaija Kutter | |
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