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# taz.de -- Schnecken essen: Sie zieht die kleinen Grauen vor
> Schnecken gehören zur französischen Küche, werden inzwischen aber oft
> importiert. Cassandra Boeuf züchtet sie noch. Ein Farmrundgang.
Bild: Schleimig und schlüpfrig: Anbahnung zum Schneckensex
Einfach immer der Nase nach funktioniert hier nicht. Ebenso wenig gibt es
verräterischen Lärm, und zu sehen ist auch nichts in diesem von platten
Feldern umgebenen Vierkanthof, der still in der westfranzösischen
Mittagshitze liegt. Ein wenig unschlüssiges Warten, ein wenig Suchen, und
dann schließlich, hinter der dritten Tür, steht Cassandra Bœuf, die nach
einem herzlichen Bonjour! sofort loslegt: „Hier sind wir im
Fortpflanzungsraum.“ Nur schummrig erleuchtet ist dieser salle de
reproduction, wohl ein ehemaliger Stall, der nun in langen Reihen mit
hüfthohen Holztischen vollgestellt ist.
Bœuf holt das Ergebnis von ergiebigem Schneckensex aus kleinen, mit Erde
gefüllten Plastiktöpfen: stecknadelkopfkleine Eier, wie weißer Kaviar.
„Eine Schnecke legt 80 bis 150 Stück“, erklärt sie, während sie den Klum…
von der Erde befreit. „Rund drei Wochen nach der Befruchtung graben sich
die Tiere ein, um ihre Eier zu legen.“ Cassandra Bœuf und ihr Partner
Guillaume Roux züchten Cagouille-Schnecken. Die sind kleiner und weniger
bekannt als die Escargots de Bourgogne, die man auch außerhalb Frankreichs
kennt und isst, meist mit Kräuterbutter überbacken.
Diese „Burgunderschnecken“ allerdings sind keine Burgunder Eigenart,
sondern [1][in Gesamt-Zentraleuropa beheimatet] und werden inzwischen meist
aus dem Osten importiert. Und – um es noch verwirrender zu machen – was
heute als Escargots de Bourgogne verkauft wird, sind meist gros-gris. Diese
„großen Grauen“ sind die gezüchteten Verwandten der Burgunderschnecke mit
Ursprung in Nordafrika. Die Cagouille hingegen ist eine echte Französin,
vermutlich die älteste Art des Landes. Beliebt sind sie vor allem im
Département Charente, nordöstlich von Bordeaux.
## Aberhunderte Schnecken
Dort betreiben Bœuf und Roux einen von landesweit rund 300
Schnecken-Zuchtbetrieben. Um die 15.000 Tonnen der Tiere werden in
Frankreich pro Jahr verarbeitet. Und dennoch fragten sich Bœuf und ihr
Partner, die den Betrieb erst im März dieses Jahres übernahmen: „Wollen die
jungen Leute das noch essen?“ Ein Jahr lang begleiteten sie den in die
Rentenjahre gekommenen Vorbesitzer, betrieben Marktforschung, sprachen mit
Gastronomiebetrieben. „Die jungen Leute entdecken sie wieder“, sagt
Cassandra Bœuf nun. „Sie kennen es von ihren Großeltern, haben aber meist
keine Zeit die Tiere, wie es früher üblich war, selbst zu sammeln.“
Das Paar ist selbst erst um die 30. Er kommt aus der Landwirtschaft, sie
hat BWL studiert und lange im Foodbereich gearbeitet. Beide lieben
Schnecken und die Arbeit in der Natur. Ihr Betrieb begleitet als einer von
nur wenigen den gesamten Prozess: [2][von der Fortpflanzung über die
Aufzucht bis hin zur Verarbeitung]. Jetzt zur Mittagszeit seien die Tiere
im Siesta-Modus, sagt Bœuf, über einen der Kästen gebeugt. Auf den
Holzbrettern tummeln sich aberhunderte Schnecken, manche in ihrem Haus
versteckt, andere – die langen Augenfühler voraus – auf langsamer
Wanderschaft.
„Ah, hier paaren sich zwei“, ruft Bœuf und zeigt auf zwei zur Pyramide
aufgetürmte Exemplare. Schnecken sind Hermaphroditen, erklärt sie. Es
brauche immer zwei zur Fortpflanzung, doch fixe Geschlechter gibt es nicht.
Die begattete Schnecke legt ihre Eier schließlich in die erdgefüllten
Plastiktöpfe, aus denen Bœuf und Roux sie nach einigen Wochen herausklauben
und in eine mit Erde gefüllte Aluschale legen. Nach drei weiteren Wochen
bei rund 20 Grad schlüpfen die Tiere, dann kommen sie in den Garten hinter
dem Haus. „Da geht gerade eine spazieren“, sagt Cassandra Bœuf und hebt
eine der Holzplatten hoch, die hintereinander im Gras liegen. Noch sind die
Schnecken klein wie Reiskörner. „Wir lassen sie einfach machen“, sagt die
junge Züchterin. Die Aufzucht ist nachhaltig: kein Lärm, kein Abwasser,
kein Dünger. Lediglich etwas Mehl und vor allem Gemüse bekommen die Tiere.
## Entscheidend ist die Soße
Ab August werden die ausgewachsenen Schnecken lebend oder „geschlachtet“
(fünf Minuten in kochendem Wasser) verkauft. Ein Teil wird direkt am Hof
weiterverarbeitet: zu Paté, Terrine, Bratwurst, Blätterteigtörtchen und –
Spezialität der Region – gekocht in deftiger Tomatensoße. Die Cagouilles à
la Charentaise sind eine Art Schneckenragout. „Ein tolles Gericht“,
schwärmt Cassandra Bœuf. Und sehr gesellig, da man es meist in die
Tischmitte stellt und gemeinsam genießt.
Das Besondere an den kleinen Cagouilles, auch petit-gris genannten
Schnecken: Sie können im Ganzen, direkt aus der Schale gegessen werden. Bei
den großen Verwandten, den gros-gris, wird das Tier aus dem Gehäuse geholt,
die Innereien entfernt und anschließend wieder hineingegeben. Die Kleinen
seien zarter, meint Bœuf. Entscheidend für den Geschmack aber sei natürlich
– so wie auch die Escargots de Bourgogne in erster Linie nach der
Kräuterkruste schmecken – die Soße. Sie enthält neben Tomaten, Zwiebeln und
Knoblauch auch Wurstbrät. [3][Eine mit Schnecken gepimpte Bolognese], wenn
man so will.
Weil im In- und Ausland vor allem gros-gris, also die vermeintlichen
Burgunderschnecken, nachgefragt werden, züchtet das Paar beide Sorten.
Cassandra Bœufs Herz aber hängt an der kleinen Cagouille. „Sie ist
Wahrzeichen unser Region, ein Teil unserer Charentaiser Tradition.“ Kleine
Betriebe wie den ihren gibt es nur noch wenige. Und dennoch ist sie
überzeugt, dass die Tradition weiterlebt. Zum Abschied empfiehlt sie ein
Restaurant im nahen Mesnac. Spezialität: Pizza à la cagouille.
15 Jul 2024
## LINKS
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## AUTOREN
Verena C. Mayer
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