| # taz.de -- Der Hausbesuch: Künstler der gehobenen Gastlichkeit | |
| > In den Krimis von Wolfgang Schorlau hat der Ermittler einen Freund: | |
| > Mario, der in seiner Wohnung ein Restaurant hat. Diesen Mario gibt es | |
| > wirklich. | |
| Bild: Die Ästhetisierung des Alltäglichen ist sein Thema: Mario Ohno an seine… | |
| Schnell mal von Berlin nach Stuttgart? Der ICE hat zweieinhalb Stunden | |
| Verspätung. Nervöser Anruf bei Mario Ohno: Ob er auch am Abend noch Zeit | |
| hat? Ohno schwäbelt entspannt, er sei sowieso daheim und bereite ein Menü | |
| für den nächsten Tag vor – „überhaupt kein Stress“. | |
| Draußen: Ohno lebt im Stuttgarter Westen, in einem ruhigen Viertel mit | |
| kleinen Läden und Galerien. Die Reinsburgstraße windet sich steil den Berg | |
| hinauf. Im unteren Straßendrittel, der Talkessel mit seiner autogerechten | |
| Bebauung ist bereits in Sichtweite, eine unscheinbare Toreinfahrt in der | |
| Klinkerfassade. Ein alter roter Feuerwehrwagen markiert den Eingang zu | |
| Ohnos Reich in der ehemaligen Schmiede im Hinterhaus. | |
| Drinnen: Das Feuerwehrauto Berta ist Mario Ohnos mobiles Catering. Damit | |
| tuckert er durch die Weinberge und verkauft aus einer Luke Salate, Würste | |
| vom Grill und andere Kleinigkeiten. Vor dem Auto ranken Rosen über | |
| improvisierte Sitzgelegenheiten, in den Bäumen zanken sich Stare, Mario | |
| Ohnos Katze setzt ihnen nach. Ohno hat auf einem Stuhl Platz genommen, er | |
| bietet kaltes Bier an, hinter ihm eine selbst gebaute Freiluftbar mit | |
| langem Tresen. Bei dem Wort „Bar“ schaut er unwirsch aus seiner Brille und | |
| korrigiert: „Das ist ein Pleasure Ground – hier ist alles möglich.“ | |
| Die Einzimmertafel: Seit 24 Jahren betreibt Mario Ohno in Stuttgart die | |
| „Einzimmertafel St. Amour“. Seit 16 Jahren finden die | |
| kulinarisch-künstlerischen Events im Erdgeschoss des Backsteinhauses statt, | |
| das er mit seiner Ex-Frau Anna und den Kindern bewohnt. Man lebt und | |
| arbeitet getrennt, aber einvernehmlich: unten er, oben sie mit Max und | |
| Elsa. In einem wandhohen Bücherregal steht Stuttgarts erste | |
| Kochbuchbibliothek. Die Tischdecke an der langen Tafel hat Ohno selbst | |
| bedruckt, Textbrocken wie „Und wann fühlst du dich enteignet? Ausgebeutet? | |
| Versklavt?“ sollen die Gäste ebenso zur Diskussion anregen wie die mit | |
| Sätzen bedruckten Teller: „Finden Sie, daß es ein Recht auf Ästhetik gibt?… | |
| Kein Restaurant: Neben den Einzimmertafeln veranstaltet Ohno einmal im | |
| Monat das „Broken Hearts Club Dinner“, bei dem sich Wildfremde | |
| kennenlernen. Seine Events, bei denen Ohno geladenen Gästen vor Ort ein | |
| handverlesenes Menü kocht und mit improvisierten Happenings serviert, sieht | |
| er in der Tradition der literarischen Salons des 19. Jahrhunderts. „Die | |
| Stuttgarter Ämter sehen das anders. Die denken immer noch, dass ich ein | |
| Restaurant betreibe, und verfolgen mich mit bürokratischen Anfragen“, sagt | |
| er. | |
| Dabei habe er weder feste Öffnungszeiten noch Angestellte, er koche nur | |
| nach Anfrage. Mindestens zwei Anmeldungen müssen vorliegen und höchstens | |
| 50, mehr Leute passen nicht an die Tafel. Obwohl seine eigenwilligen | |
| Kreationen sogar von Sterneköchen gelobt werden, sieht er sich nicht als | |
| Koch. Sondern als Künstler, der eine „soziale Plastik“ erschafft im Sinne | |
| von Joseph Beuys, den er verehrt. „Die Formel, wonach die Handlung das Werk | |
| ist, begeistert mich bis heute.“ | |
| Kunst: Mit 17 zieht Ohno für eine Steinmetzlehre nach Freiburg. „Ich wollte | |
| der zweite Michelangelo werden!“ Aber die Skulptur war dann doch nicht | |
| seine Ausdrucksform. Er studierte Kunst in Karlsruhe bei Otto Herbert | |
| Hajek, später in Hamburg bei Franz Erhard Walther. „Der war ein beinharter | |
| documenta-Avantgardist, ein Pionier der Prozess- und Handlungskünste, aber | |
| kaum einer kennt ihn.“ Walther schuf Werke, die begehbar waren oder die | |
| Betrachter:innen anders mit einbezogen. | |
| Mario Ohno wurde Walthers Assistent, reiste mit ihm um die Welt. Sie | |
| performten in New York und auch in Westberlin, dessen Kunstszene Mario Ohno | |
| damals als ungastlich empfand. Dann schon lieber Hamburg! „Geografisch | |
| übersichtlich, weltoffen, wunderschön.“ Im Dialog mit Walther entwickelte | |
| Ohno seine eigene Kunstformel: die Ästhetisierung des Alltäglichen. In | |
| seinen Räumen lädt alles zum Dialog ein, von der Deko auf dem Klo bis zu | |
| den Texten, die jeder Gast neben den Teller gelegt bekommt. | |
| Eat Art: Das öffentliche Festessen als Mittel zur kulinarischen Erziehung – | |
| diese Idee geht auf die italienischen Futuristen der 1930er Jahre zurück. | |
| Auch die Dadaisten experimentierten mit der Vermählung von Kunst und | |
| Gastronomie. Perfektioniert hat das Konzept ein Schweizer Künstler: In den | |
| 1960ern begann Daniel Spoerri, Reste von Mahlzeiten an den Tellern | |
| festzukleben. Er eröffnete ein „Eat Art“-Restaurant in Düsseldorf, in dem | |
| er kochte und im Lauf des Abends spontane Klebekunstwerke schuf. | |
| Geld und Kunst: „In jedem kleinen Provinzmuseum findet sich heute ein | |
| Spoerri“, sagt Mario Ohno. Er ist gleichzeitig belustigt und fasziniert von | |
| dessen kommerziellem Erfolg. Auch Ohno verdient inzwischen gut mit seinen | |
| kulinarischen Events. Anfangs kochte er in einer Stuttgarter Galerie, doch | |
| es verirrten sich zu wenig Leute dorthin. Erst der private Rahmen bei Ohno | |
| zu Hause brachte den Erfolg. Zwischen 90 und 120 Euro kostet ein Menü. „Ich | |
| komme gut über die Runden“, sagt Mario Ohno und lässt zufrieden den Blick | |
| über sein selbst gestaltetes Reich schweifen. Nach vielen Jahren des | |
| Probierens habe er hier seinen perfekten Ort gefunden. „Ich bin jetzt 65, | |
| das ist wohl meine letzte Bastion.“ | |
| Saint-Amour: Die Einzimmertafel hat er nach einem Ort in Frankreich | |
| benannt. Auf Empfehlung eines Bekannten fuhr Mario Ohno während eines | |
| Urlaubs in die Kleinstadt im Jura, um im dortigen Restaurant zu essen. „Was | |
| für eine Performance!“, erzählt er. Der Raum ein Sammelsurium aus Lampen | |
| und alten Möbeln. Ein Kellner im Hemd bediente die Gäste, aus einer | |
| Durchreiche in der Schrankwand erschien von Zeit zu Zeit der Arm des Kochs | |
| mit einem frischen Gericht. Stundenlang blieb der Gast aus Stuttgart und | |
| studierte das Spektakel der gehobenen Gastlichkeit. Heute ziert ein | |
| Blechschild seine Einzimmertafel: „Croix Rouge Saint-Amour“. | |
| Genusserziehung: Ohno orientiert sich an der italienischen Küche, | |
| experimentiert aber auch gern mit Gewürzen und regionalen Zutaten. Dabei | |
| kommen dann schon mal Weißwürste mit selbstgemachter Zwiebelmarmelade raus. | |
| In den letzten Jahren versucht Ohno, dem die Klimakrise und die | |
| Massentierhaltung immer schwerer im Magen liegen, weitgehend ohne Fleisch | |
| auszukommen. Vielen seiner Gäste falle das aber schwer. Man komme halt von | |
| einer Tradition des übermäßigen Fleischkonsums. „Was das im Körper | |
| anrichtet, damit beschäftige ich mich seit einiger Zeit. Googeln Sie mal | |
| ‚Darm-Hirn-Achse‘, dann haben Sie auch keine Lust mehr auf Fleisch.“ | |
| Die Dengler-Krimis: Dass Mario Ohno und seine Einzimmertafel in Stuttgart | |
| und weit darüber hinaus bekannt sind, ist vor allem einem zu verdanken: dem | |
| Stuttgarter Schriftsteller Wolfgang Schorlau und seinen Krimis rund um den | |
| schrulligen Privatermittler Georg Dengler. Schorlau hat Mario Ohno als | |
| Romanfigur verewigt. Marios Lokal im Bohnenviertel ist für Dengler ein | |
| zweites Zuhause. Im ersten Band „Die blaue Liste“ heißt es: „Dort betrieb | |
| er nun in ihrem gemeinsamen Wohnzimmer ein Einzimmerrestaurant, das er halb | |
| Sonja, halb seinem Lieblings-Beaujolais zuliebe St. Amour nannte. Für | |
| siebzig Euro pro Person kochte er die besten Gerichte, die Dengler je aß, | |
| und die erlesensten Menüs, die in Stuttgart zu haben waren. Kein Wunder, | |
| Marios Wohnzimmer wurde bald zum Geheimtipp von Stuttgarts Künstlerszene.“ | |
| Erfolg: Ohno und Schorlau verbindet auch im echten Leben eine langjährige | |
| Freundschaft. Als „Die blaue Liste“ 2003 erschien, explodierten die | |
| Reservierungsanfragen, Ohno wurde über Nacht berühmt. Noch heute ist | |
| Schorlau sein „Joker“: Wenn sie zusammen ein Blueskonzert veranstalten oder | |
| die neueste Dengler-Verfilmung gezeigt wird, drängen sich in der | |
| Reinsburgstraße die Leute. | |
| Der Vater: Was im ersten Dengler-Roman erzählt wird, hat Mario Ohno | |
| wirklich so erlebt. Sein italienischer Vater verließ die Familie und | |
| Stuttgart früh, aufgewachsen ist er bei seiner Mutter, einer Japanerin. Mit | |
| zwanzig ließ er sich von ihr ein altes Foto und die Adresse geben und fuhr | |
| mit seiner Freundin zum Comer See, wo der Vater ein Hotel betrieb. Zunächst | |
| erkannten sie den gealterten Mann hinter dem Tresen nicht. Auf dem Weg zum | |
| Klo, wo ältere Fotos der lokalen Fußballmannschaft hingen, hatte Ohno einen | |
| Aha-Moment. Er marschierte zum Tresen und sagte: „Ich bin dein Sohn.“ | |
| Die Begegnung wurde zum Versöhnungsfest: Der Vater zeigte ihn stolz bei | |
| Familie und Freunden herum, die Besucher aus Deutschland logierten im | |
| Hotel. Im Sommer darauf machten sie sich wieder auf den Weg. Doch diesmal | |
| war der Vater abweisend, sie mussten im Garten kampieren und nach drei | |
| Tagen gehen. „Er hat wohl befürchtet, dass ich auf sein Erbe aus bin“, sagt | |
| Ohno schulterzuckend. Zu weiteren Treffen kam es nicht. Vor ein paar Jahren | |
| fuhr Ohno alleine zum Comer See. Das Hotel stand leer, es war | |
| pleitegegangen. Wohin der Vater gezogen war, wusste niemand im Ort. | |
| 15 Sep 2024 | |
| ## AUTOREN | |
| Nina Apin | |
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