# taz.de -- Der Hausbesuch: Bei ihm war viel Liebe und viel Tod | |
> Dietmar Heddram wäre gerne Künstler geworden. Immerhin ist er jetzt | |
> Schauspieler für kleine Rollen. Und Liebender mit großem Schmerz. | |
Bild: Dietmar Heddram in seiner Wohnung | |
Wichtig ist, dass Leute nicht unterschätzt werden, selbst wenn sie nicht | |
angepasst sind. | |
Draußen: Die Seitenstraßen im Schillerkiez in Neukölln wirken eng. Das | |
liegt mit daran, dass die schmalen Trottoirs rechts und links von alten | |
Bäumen gesäumt sind, die im Sommer zeigen, was im Winter vermisst wird: | |
Dichte, Farben, Nähe, die Nähe zu Menschen. Auch [1][in der Weisestraße], | |
wo Dietmar Heddram in einem Hinterhaus wohnt, ist das so. | |
Drinnen: Vom Flur gehen Küche, Bad, Kammer und ein Zimmer ab. Es ist eng, | |
jede Wand ist verstellt mit Regalen, Büchern, Nippes, Kleidung, Werkzeug. | |
Ins große Zimmer müssen das Metallbett, Regale, Tische und Stühle | |
reinpassen und viele Kisten unterm Bett, vor den Fenstern. Wo die Wände | |
frei sind, hängen Bilder. Ein dystopisches ist darunter, Heddram hat es | |
gemalt. Auf mit Goldfarbe vermischtem Sand hat er zwei Figuren aus Plastik | |
festgebrannt. Einige Bilder, nicht weniger aussichtslos, sind von Nänzi. | |
Sie ist seine große Liebe. | |
Authentisch: Echte Berliner sind mittlerweile rar. Heddram, 1958 in | |
Kreuzberg geboren, ist einer. „Genauso ein Berliner wie mein Kakadu, den | |
ich vor 20 Jahren hergab.“ Heddram beherrscht das schnoddrige Idiom, und | |
wenn er erzählt, wird klar, er ist von der Sorte, die nicht zu Kreuze | |
kriecht. „Man muss darüber hinwegkommen, wie man von außen wahrgenommen | |
wird“, sagt er. „Ich bin hier jetzt ja auch nicht beim Casting, möchte | |
keine Arbeit, keinen Kredit.“ | |
Eine Achterbahnfahrt: Rauf und runter ging es in Heddrams Leben. „Bei mir | |
war viel Liebe und viel Tod.“ Gerade gebe es wieder „eine Kontinuität nach | |
unten“. Unten hat es auch angefangen; seine schwangere Mutter wurde | |
verlassen. Die Beziehung zur Mutter sei schwierig gewesen. Respekt zollt er | |
ihr trotzdem: „Sie war alleinerziehend, das muss ich anerkennen. Sie hat es | |
geschafft, hat 50 Jahre am Fließband bei Reemtsma geschuftet.“ Er wächst | |
bei der Oma auf – „the bravest women of the world“. Warum? „Wegen ihrer | |
Offenheit, ihrer Frechheit, ihrem Witz.“ So eine Art [2][Claire Waldoff] | |
in Kleinformat sei sie gewesen. | |
Der Schock: Als er im Grundschulalter ist, findet seine Mutter einen neuen | |
Partner, „den fiesesten Typen Berlins. So einer im Doppelrippunterhemd, der | |
am Küchentisch sitzt mit Bier. Für den war ich Luft“. Heddram war acht, als | |
er mit der Mutter und „dem Mann meiner Mutter“, anders nennt er ihn nicht, | |
nach Gropiusstadt ziehen muss, in eine der neuen Hochhaussiedlungen. „Es | |
war ein Kulturschock. Plötzlich hatte ich ein eigenes Zimmer, Warmwasser, | |
Klo in der Wohnung, Badewanne.“ Er wäre trotzdem lieber bei der Oma | |
geblieben. Die Mutter arbeitete in zwei Schichten, deren Mann in drei, „die | |
waren nie zu hause, und wenn doch, haben sie gepennt“. Er, Schlüsselkind, | |
zog mit seinen Kumpels über die Felder hinter der Siedlung. | |
Der Schulfreund: Ausgemacht sei gewesen, dass er aufs Gymnasium geht. Den | |
geforderten Notendurchschnitt dafür verpasste er knapp. Sein Freund Frank | |
hatte das gleiche Problem, war aber Kind betuchterer Eltern. Die hätten bei | |
seiner Mutter angerufen und gesagt: „Der Frank wird auf eine Privatschule | |
geschickt, und der Dietmar muss mit.“ Seine Mutter, zu stolz für die | |
Wahrheit, sagte: „Ja jut, wird schon jehn.“ Einen Tag bevor die Schule | |
anfängt, wieder ein Anruf: „Der Frank ist tot.“ Autounfall. „Musste ich | |
alleine zur Schule. War nicht mein Ding. Ich habe eineinhalb Jahre | |
geschwänzt. ‚Kind, was soll aus dir werden‘, hat meine Mutter gesagt. ‚F… | |
doch bei Reemtsma an.‘“ Darauf hatte Heddram auch keine Lust. Er wollte | |
Maler werden. „Oder Dichter wie Gottfried Benn.“ | |
Der väterliche Freund: In den haltlosen Jahren, die folgten, gab es | |
immerhin Klaus – einen älteren Cousin, der sich Heddrams annahm. „Cooler | |
Typ. Der hatte die besten Platten. Stones, Jimi Hendrix. Der hat mir Geld | |
zugesteckt.“ Er schleuste ihn, obwohl noch zu jung, in Discos. Und dann, an | |
Neujahr 1978, wieder ein Anruf: Klaus ist tot. Besoffen sei er mit einem | |
Freund „und zwei Bräuten“ die Sonnenallee runtergebrettert an Silvester und | |
gegen einen Baum geknallt. „Idiot, der war doch verheiratet mit Sabine“, | |
sagt Heddram. „Wenn ich an die Beerdigung denke, Sabine, Wiebke und ich | |
hinterm Pfaffen in der ersten Reihe. Wiebke, die ich auch liebte, im | |
Minirock und Sabine, die eigentliche Königin.“ | |
Sabine: Jetzt nimmt sich diese Heddrams an. Sie fragt ihn, was das werden | |
soll so ohne Schulabschluss, Ausbildung, Arbeit. Künstler, was soll das | |
sein? Und Heddram: „Ist authentisch.“ Sie besorgt ihm eine Boutique mit | |
Klamotten, die soll er führen. „Ich habe das Geld verjubelt.“ Pferderennen | |
werden seine Leidenschaft. Sabine zieht die Reißleine. Heddram hält an | |
seinem Lebenswandel fest, sorgt sich allerdings auch weiter um die Oma. | |
„Nach dem Tod vom Opa 1982 war ich jeden Tag bei ihr.“ Auch seine Mutter | |
hilft mit. 1983 stirbt die Oma. Erst als es auch ums Erben ging, tauchte | |
der Rest der Familie auf. „Ich hab mich geschämt für die Pfeifen.“ 10.000 | |
Mark hatte die Oma. „Ich wusste, wo sie versteckt waren.“ | |
Aufbruch: Nach dem Tod der Oma übernimmt er deren Wohnung mit Blick auf den | |
Checkpoint Charlie; er findet auch eine Freundin. Die sagt ihm, dass er | |
Sozialhilfe beantragen könne, „Stütze“, wie das in Berlin heißt. „Ich | |
wusste das nicht, bin meiner Mutter auf der Tasche gelegen, bis ich 25 war. | |
Jeden Tag ein Sixpack im Kühlschrank.“ Nebenbei macht er Bilder. Wildes | |
Zeug. | |
Ute: Auf der Trabrennbahn Mariendorf ist er oft gesehener Gast. Er wiederum | |
erblickt Ute hinter der Kasse eines Wettbüros. Sie gefällt ihm. „Scharfe | |
Braut.“ Unter einer Bedingung lässt sie sich auf ihn ein: Er muss aufhören | |
zu wetten, sie habe zu viele Leute vor die Hunde gehen sehen. Heddram | |
tut’s. Nach ein paar Monaten wird Ute schwanger. „Was soll bloß aus uns | |
werden? Das Kind wird verhungern. Such endlich einen Job“, habe sie | |
geschimpft. Heddram nimmt das ernst und findet einen bei der Post. Sortiert | |
fortan nachts Briefe und ist tagsüber im Atelier. Ute verliert das Kind, | |
wird wieder schwanger, verliert auch dieses Kind. „Das hat unsere Beziehung | |
gekillt. Sie wollte sich nicht mehr von mir anfassen lassen.“ Sie trennen | |
sich. | |
Nänzi: Bei der Post hat Heddram inzwischen die Aufsicht in der | |
Nachtschicht. „Fehlten Leute, kamen Aushilfen.“ Eine davon [3][Nänzi]. | |
„Wenn ich die schon gesehen habe, war die Nacht gelaufen.“ Statt Briefe | |
sortieren macht Nänzi anderes. Träumen, vor sich hin starren, Nägel feilen, | |
erzählt er. Wird die Maschine nicht regelmäßig bestückt, stockt sie, der | |
Mechaniker muss sie wieder anwerfen, „sorg endlich dafür, dass deine Weiber | |
spuren“, schimpft der. „Ich war so froh, als die nicht mehr auftauchte.“ | |
Déjà-vu: Aber bei einem Johnny-Cash-Konzert im Tempodrom sieht er Nänzi | |
wieder. „Mensch, die kennste doch.“ Er spricht sie an, „ah, du bist das, | |
haste Lust, ein Bier zu trinken?“ Und sie: „Wer mich nach ’nem Bier fragt, | |
hat keine Ahnung.“ Da erfährt er von ihrer Drogenkarriere. Sie war mit 16 | |
aus ihrem Heimatdorf weg, lebte mit ihrem Freund am Hauptbahnhof in | |
Nürnberg, zog mit ihm nach Berlin. In Berlin stirbt ihr Freund an einer | |
Überdosis Heroin. Das rüttelt Nänzi auf, sie macht einen Entzug, kriegt die | |
Kurve und wird nach vielen Anläufen an der Hochschule der Künste | |
angenommen. Ihre Arbeiten sind radikal unangepasst, Skulpturen, die das | |
Ganz-unten zeigen, Büsten, die jeden Augenblick zerfallen könnten, Engel | |
ohne Köpfe. „[4][Nänzi] lebte den Punk. Ich war nur einer am Feierabend.“ | |
Die beiden werden ein Paar. Ein polyamouröses, eins mit viel Freiheit. „18 | |
Jahre waren wir zusammen. Wir haben uns nie gedemütigt.“ | |
Ein neuer Job: Mit Nänzi kommt eine neue Wendung in sein Leben. Er hört | |
bei der Post auf, die Atmosphäre dort hat sich geändert, kein Alkohol | |
mehr, keine Zigaretten und alles durchgetaktet. Nänzi animiert ihn, zu | |
einem Komparsencasting zu gehen. Eine Woche später hat er einen Job. Und | |
als ein Schauspieler ausfällt, soll er einspringen. Ab dann hat er kleinere | |
Rollen; meist spielt er den Ganoven. „Als Komparse krieg ich 100 Mark am | |
Tag, als Darsteller 1.200, werd abgeholt, fahr mit dem Taxi nach Hause.“ | |
Die kalte Nacht: Nänzi und er haben getrennte Wohnungen, sehen sich aber | |
oft. Am 15. November 2013, einem Donnerstag, wollen sie in die Urania zu | |
einem Vortrag von Alice Schwarzer. Morgens ruft sie an: „Du musst kommen.“ | |
Es gehe ihr nicht gut. Als er bei ihr ankommt, habe sie elend ausgesehen, | |
„redete komisches Zeug“. Sie ist schon lange gesundheitlich instabil. | |
Ruhe, das weiß er aus früheren Krankheitsanfällen, wird helfen. Irgendwann | |
geht sie ins Bett, er guckt noch Fernsehen und legt sich später neben sie. | |
Um 3 Uhr nachts wacht er auf, weil ihn Eiseskälte umhüllt. Es ist der | |
Moment, in dem Nänzi stirbt. Auch jetzt, zehn Jahre nach ihrem Tod, weint | |
Heddram beim Erzählen. | |
Die Erinnerung: Seit Nänzi tot ist, kümmert Heddram sich um ihren Nachlass. | |
Es sei mühevoll. „Die Künstler, die halbberühmt sind, die kämpfen halt.“ | |
23 Jul 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Am-Tresen-vom-bedrohten-Syndikat/!5640949 | |
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Claire_Waldoff | |
[3] http://naenzi.de/ | |
[4] http://www.naenzi.de/ | |
## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
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