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# taz.de -- Länderspiegel nach der EU-Wahl: Tendenz: anders!
> Nicht überall schmieren die Grünen ab, nicht in allen EU-Ländern haben
> die Rechten zugelegt. Ein Überblick über die spannendsten Entwicklungen.
Bild: Finnische Stimmenkönigin: Li Andersson, Spitzenkandidatin der Linksallia…
## Der Norden macht einen Hüpfer nach links
## Schweden
Vor dieser Wahl ging es für die rechtsextremen Schwedendemokraten um die
luxuriöse Frage, ob sie zweit- oder doch nur drittstärkste Kraft werden
würden. Und dann reichte es lediglich zu Platz vier. Zum ersten Mal
überhaupt musste die Partei von Jimmy Åkesson damit einen Rückschlag bei
einer Wahl hinnehmen – das Ergebnis von 13,2 Prozent bedeutete ein Minus
von 2,1 Prozentpunkten.
Überholt wurden die Schwedendemokraten von ihrem Erzfeind, den Grünen, die
mit 13,8 Prozent (+2,3) drittstärkste Kraft wurden. Den größten
Stimmenzuwachs aber, noch eine Überraschung dieser Wahl, feierte die linke
Vänsterpartiet. Mit einem Plus von 4,1 Prozentpunkten kommt sie auf 10,9
Prozent, ihr bestes Ergebnis seit 2004.
Die kleinen Regierungsparteien der Christdemokraten und Liberalen können
froh sein, es überhaupt wieder ins EU-Parlament geschafft zu haben. Die
Sozialdemokraten weiterhin als stärkste Kraft und die Moderaten auf Platz
zwei – das überraschte indes weniger. Die Sozialdemokraten hatten sich mehr
als die 24,8 Prozent erhofft, aber trösten sich damit, dass das linke
Spektrum insgesamt sehr gestärkt aus der Wahl hervorgeht.
## Finnland
In Finnland erreichte die Linksbündnis-Partei einen Zuwachs um mehr als
sensationelle 10 Prozentpunkte auf 17,3 Prozent. Vor ihr lag nur noch die
konservativen Samlingsparti von Ministerpräsident Petteri Orpo, die
ebenfalls zulegen konnte – um 4 Punkte auf 24,8 Prozent. Die rechtsextremen
„Wahren Finnen“ hingegen sind die Verlierer dieser Wahl – 7,6 Prozent
Stimmenanteil, ein Minus von 6 Prozentpunkten.
In einer Art Glücksschock feierte die Spitzenkandidatin des
Linksbündnisses, Li Andersson, den Abend. Dem finnischen Fernsehen Yle
erklärte die 37-Jährige, woran es ihrer Meinung nach gelegen habe: Viele
Menschen in Finnland seien derzeit besorgt über den Vormarsch der extremen
Rechten anderswo in Europa.
## Dänemark
In Dänemark müssen die regierenden Sozialdemokraten von Ministerpräsidentin
Mette Frederiksen mit nur 15,6 Prozent Stimmenanteil (minus 5,9) das
schlechteste Wahlergebnis seit 120 Jahren hinnehmen – sie behalten aber
ihre drei Sitze im EU-Parlament. Das liegt zum einen an ihrem Wahlbündnis
mit der „Alternativet“. Deren Stimmen reichen nicht für einen eigenen Sitz
und gehen deshalb an die Sozialdemokratie. Außerdem gehört Dänemark zu den
Ländern, die seit diesem Jahr einen Sitz mehr in der EU bekommen.
Eine Deutung des sozialdemokratischen Debakels ist, dass die
Stammwählerschaft aus Enttäuschung über die Koalition mit den Konservativen
zu linken Alternativen gewechselt ist. Davon profitierte besonders stark
die links-grüne Socialistisk Folkeparti: Mit 4,2 Prozentpunkten Zuwachs auf
nun 17,4 Prozent wurde sie überraschend die stärkste Partei. Im
EU-Parlament ist sie in der Grünen-Fraktion organisiert. Die
liberal-konservative Venstre, Juniorpartner der Sozialdemokraten, gehört
mit 8,8 Prozentpunkten Minus zu den größten dänischen Verlierern und muss
ein Mandat abgeben. Um knapp 5 Prozentpunkte zulegen und damit einen Sitz
im Parlament erreichen konnte die rechtsliberale Liberale Allianz. Anne
Diekhoff
## Wahlmüdigkeit im Osten
## Polen
Donald Tusk, Polens Premier, reißt die Arme hoch und jubelt, als am
Sonntagabend um 21 Uhr die ersten Prognosen der EU-Wahl auf den
Großbildschirmen aufleuchteten. Seine Partei, die liberalkonservative
Bürgerplattform (PO), hat die Wahl klar gewonnen. Die zehn Jahre lang
dominierenden Rechtspopulisten von der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS)
konnten auf den zweiten Platz verwiesen werden. Während die PO laut
amtlichem Endergebnis 37,1 Prozent der Wählerstimmen holen konnte, ist die
populistische PiS mit 36,2 Prozent die Wahlverliererin.
Weniger überschwänglich war die Freude bei den PO-Partnern der seit
Dezember 2023 regierenden Mitte-links-Koalition. Gerade mal 8 Prozent
konnte der christlich-konservative Dritte Weg für sich verbuchen. Knapp 7
Prozent entfielen auf die Neue Linke. Beide Parteien hatten gravierende
Wahlkampffehler gemacht und ihre eigentlichen Zugpferde in Wahlkreise
versetzt, mit denen sie zuvor niemals etwas zu tun hatten.
Bitter für die beiden Juniorpartner in der Regierung ist, dass die
rechtsextreme Konfederacja (Konföderation) mit 12 Prozent der Wählerstimmen
überraschend stark an ihnen vorbeiziehen konnte und den dritten Platz
einnimmt. Die erneut niedrige Wahlbeteiligung von unter 50 Prozent dürfte
den extremen und populistischen Parteien zugutegekommen sein. Gabriele
Lesser
## Lettland
Die Wahlbeteiligung war mit 33,77 Prozent so niedrig wie 2019. Was in
Anbetracht des Kriegs in der Ukraine und der unmittelbaren Nachbarschaft zu
Russland – großes Thema im kleinen Lettland – schon etwas verwundert. Mit
25,1 Prozent wurde die liberal-konservative Jauna Vienotiba (Neue
Einigkeit) mit EU-Handelskommissar Valdis Dombrovskis als Spitzenkandidaten
stärkste Partei und verlor etwa 1 Prozentpunkt. Auf Platz zwei hat die
rechtspopulistische Nationale Allianz Visu Latvijai! (Ganz Lettland!) ein
Plus von knapp 6 Prozentpunkten eingefahren und kommt auf 22,1 Prozent.
Stark zugelegt haben auch Lettlands Grüne. Die Progresīvie holten 7,4
Prozent und legten damit um ganze 4,5 Prozentpunkte zu. Sie liegen fast
gleichauf mit den prorussischen Sozialdemokraten (7,1 Prozent). Gaby
Coldewey
## Iberische Halbinsel: Linke erholt sich wieder
## Spanien
Die Europawahlen würden zum Plebiszit über die Linkskoalition unter Pedro
Sanchez werden, versprach die konservative Opposition unter Alberto Nuñez
Feijóo im Wahlkampf. Zwar gewann seine Partido Popular (PP) mit 34,2
Prozent der Stimmen, doch die PSOE liegt nur 4 Prozentpunkte dahinter.
Die sozialistische Spitzenkandidatin und bisherige Ministerin für den
Ökologischen Umbau, Teresa Ribera, sprach in der Wahlnacht zufrieden von
einer „erfolgreichen Aufholjagd“, sahen doch die Umfragen die PP noch vor
wenigen Wochen im knapp zweistelligen Bereich vor den Sozialisten.
Das unbeliebte Amnestiegesetz für Katalanen, die einst das
Unabhängigkeitsreferendum vorbereitet und durchgeführt hatten,
Korruptionsvorwürfe gegen den Berater eines Ex-Ministers und Ermittlungen
gegen die Ehefrau von Sánchez Begoña Gómez wegen Einflussnahme auf die
Politik ihres Mannes – alles sprach gegen die Sozialisten.
Doch ganz offensichtlich hat die sozialistische Wählerschaft die Reihen
geschlossen. Trotzdem schadete die angespannte politische Lage dem
Spektrum links der Sozialisten. Der kleine Koalitionspartner – die
linksalternative Sumar – blieb mit gerade einmal 4,6 Prozent weit hinter
den Erwartungen zurück. Schließlich hatte das Parteienbündnis bei den
Parlamentswahlen 2023 12,3 Prozent erreicht.
Die zweite linksalternative Kraft – Podemos – die vor genau zehn Jahren mit
einem Achtungserfolg bei den Europawahlen auf sich aufmerksam machte und
zu besten Zeiten über fünf Millionen Stimmen auf sich vereinigen konnte,
rettete sich mit 3,3 Prozent vor dem endgültigen Untergang.
Der Erfolg der PP ist vor allem dem völligen Verschwinden der
rechtsliberalen Ciudadanos zu verdanken. Die Konservativen legten gegenüber
2019 um zehn Sitze zu. Ciudadanos fliegt mit gerade einmal noch 0,6 Prozent
in hohem Bogen aus der Europavertretung.
Insgesamt hat sich auch die spanische Politiklandschaft deutlich nach
rechts verschoben. Rechtsaußen konnte Vox mit 9,6 Prozent ihre Abgeordneten
von drei auf sechs verdoppeln.
Und völlig überraschend zieht die neue Formation „Das Fest ist vorbei“ mit
drei Abgeordnete (4,6 Prozent) ins EU-Parlament ein. Die Formation rund um
Alvise Pérez, einen rechtsradikalen Politikaktivisten und
Verschwörungstheoretiker, der lange in Ciudadanos aktiv war, machte in
den Netzwerken mit Fake-News, Ausländerfeindlichkeit, Antifeminismus und
Verschwörungstheorien von sich reden und hat damit vor allem bei jungen,
männlichen Wählern Erfolg.
## Portugal
Nur knapp drei Monate nach den vorgezogenen Parlamentswahlen sieht in
Portugal plötzlich alles ganz anders aus. Gewann im März noch die
konservative Sozialdemokratische Partei (PSD) des heutigen Regierungschefs
Luis Montenegro die Wahlen und löste damit die Sozialisten (PS) nach neun
Jahren an der Macht ab, liegt die PS jetzt beim Urnengang für Straßburg
wieder vorn. Die Sozialisten erzielten 32,1 Prozent der Stimmen, die
regierende PSD einen Punkt weniger.
Die rechtsextreme Chega – auf Deutsch so viel wie „Genug“ – wurde im M�…
mit 18,1 Prozent drittstärkste Kraft. Diesen Platz belegt die Partei rund
um einen Sportmoderator auch jetzt wieder. Allerdings hat Chega im
Vergleich zum März schwer an Stimmen eingebüßt. Sie kam nur noch auf 9,8
Prozent. Jeweils ein weiterer Sitz geht an die beiden linken Kräfte – das
Bündnis CDU rund um die Kommunistische Partei und an den einst aus der
neuen Linken entstanden Linksblock. Die Wahlbeteiligung lag mit 37 Prozent
leicht höher als bei den letzten Europawahlen. Reiner Wandler
## Ganz rechts in Mitteleuropa
## Österreich
Am Ende kam es nicht ganz so krass wie in der ersten „Trendprognose“. Aber
auch so ist das Wahlergebnis deutlich: Die rechtsradikale FPÖ landet mit
25,5 Prozent erstmals in einer bundesweiten Wahl auf Platz eins. Hinter ihr
liegen ÖVP (24,7 Prozent) und SPÖ (23,3 Prozent), deutlich abgeschlagen
Grüne (10,9 Prozent) und Neos (10,1 Prozent).
Bei der ÖVP waren die Verluste vorprogrammiert gegenüber dem Ausnahmeerfolg
von Sebastian Kurz 2019. Die Sozialdemokraten hätten sich aber deutlich
mehr erhofft, wollten sie doch unter Parteichef Andreas Babler frisch
durchstarten. Nach wie vor eiert die Partei aber bei wichtigen Themen wie
Migration und Klimaschutz herum.
Bezeichnend war die weitgehende Inhaltslosigkeit des Wahlkampfs. Die liegt
auch an der FPÖ, die alle Debatten nach Kräften zerstörte. Noch rauere Töne
sind in den kommenden Monaten zu erwarten, denn im Herbst wird auch der
Nationalrat gewählt. In den Umfragen führt auch hier die FPÖ.
## Ungarn
Die Hoffnungen seiner Anhänger waren groß – und sie haben sich erfüllt:
Orbán-Herausforderer Péter Magyar kam mit seiner konservativen Respekt- und
Freiheitspartei (Tisza) auf 29,7 Prozent. Und damit in Sichtweite zu Orbáns
Fidesz, die mit 44,6 Prozent ihr schlechtestes Ergebnis bei einer EU-Wahl
einfuhr. Auch die restliche Opposition verwies Tisza damit in die
Schranken.
Bis vor Kurzem kannte Magyar noch kaum jemand. Der 43-jährige langjährige
Diplomat machte Karriere in Orbáns engstem Zirkel. Als im Frühjahr bekannt
wurde, dass Präsidentin und Regierung den Mitwisser eines schweren
Pädophilie-Falls amnestieren ließen, brach er mit der Fidesz. Und kündigte
seine eigene Bewegung an.
Seitdem tourte er unermüdlich durch mehr als 200 Gemeinden. Magyar kündigte
ein Ende der Korruption sowie Reformen im Gesundheits- und Bildungssystem
an. Wofür genau er steht, ließ er vorerst bewusst offen. Der wahre Kampf
wird bei der Nationalratswahl im Frühling 2026 ausgetragen.
## Slowakei
Das politische Geschehen in Bratislava war die letzten Wochen ganz und gar
vom Attentat auf Premier Robert Fico geprägt. Dieser ist mittlerweile aus
dem Krankenhaus entlassen, lässt sich aber noch vertreten. Wohl auch aus
gewisser Solidarität mit ihm schnitt Ficos linksnationale Smer mit 24,8
Prozent besser ab als prognostiziert. Platz eins ging dennoch an die
linksliberale Fortschrittliche Slowakei (PS, 27,8 Prozent), der etwa auch
die scheidende Präsidentin Zuzana Čaputová entstammt.
Dass Smer nur auf Platz zwei landete, ist wohl auch ein Votum gegen Ficos
Russland-Angstmache. Auch in der Medienpolitik wandelte der populistische
Premier zuletzt auf Orbáns Spuren.
Zugewinne verzeichnen die rechtsradikale Republika (12,5 Prozent), während
Ficos Regierungspartner Hlas (7,2 Prozent) und SNS (1,9 Prozent) tief
abstürzten. Die sehr ungleiche Koalition in Bratislava, schon jetzt fragil,
dürfte damit weiter unter Druck geraten. Florian Beyer
10 Jun 2024
## AUTOREN
Anne Diekhoff
Florian Bayer
Gaby Coldewey
Gabriele Lesser
Reiner Wandler
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