# taz.de -- Fehleranalyse der Grünen nach EU-Wahl: „Geht raus!“ | |
> Die Grünenspitze präsentiert ihrer Partei acht Lehren aus dem Absturz bei | |
> der Europwahl. Sie wollen mehr zuhören – und nicht zurück in die Nische. | |
Bild: Die Grünen (li. Omid Nouripour, re. Ricarda Lang) haben sich vorgenommen… | |
Berlin taz | Es gibt keine Säulendiagramme und keine bunten Kurven. | |
Stattdessen ein Ipad, das mit ein paar knappen Sätzen in die Kamera | |
gehalten wird. Wer Analysen zu Wählerwanderungen und Kompetenzwerten, | |
Einschätzungen zur Bedeutung der grünen Migrationspolitik oder der | |
Kompromissbereitschaft in der Ampel bei Klimafragen, eine kritische | |
Überprüfung der Wahlkampagne oder der Aufstellung der Bundesgeschäftstelle | |
von der Grünenspitze erwartet hatte – der wurde am Mittwochabend | |
enttäuscht. | |
Ricarda Lang und Omid Nouripour, die beiden Vorsitzenden, hatten ihre | |
Parteimitglieder zu einem Webinar zum Ergebnis der Europawahl eingeladen | |
und 1.500 Mitglieder schalteten sich zu. Das Ergebnis der Wahl vor gut fünf | |
Wochen war schlecht, die Partei ist entsprechend verunsichert. [1][11, 9 | |
Prozent der Stimmen] – ein Minus von mehr als acht Prozentpunkten im | |
Vergleich zu 2019 – das war noch weniger, als die Grünen ohnehin befürchtet | |
hatten. Zudem: Die [2][jungen Wähler*innen], derer sich die Grünen so | |
sicher glaubten, haben sich abgewandt. Wo also lagen die Fehler? | |
Mit Analyse aber halten sich Lang und Nouripour nicht lange auf. Sie wollen | |
acht „Lehren“ aus der Europawahl präsentieren, ebenfalls via Kamera-Ipad | |
und von den Parteivorsitzenden abwechselnd erläutert. Die erste und wohl | |
eine der wichtigsten davon: „Die Menschen fühlen sich von der Politik nicht | |
gehört und werden es zu wenig – auch von uns. Das ändern wir.“ | |
Die Entfremdung zwischen Politik und Bürgerinnen und Bürgern sei groß, sagt | |
Lang. Man dringe mit vielen Botschaften nicht durch, weil die Menschen | |
nicht das Gefühl hätten, dass man sich für ihre Realität wirklich | |
interessiere. Es ist ein generelles Problem der Parteien und ein alter | |
Vorwurf an die Grünen – nur: Wie kann man ihn abbauen? „Wir wollen | |
möglichst großen Abstand von einer Politik des Imperativs nehmen, die den | |
Menschen sagt, was sie vermeintlich tun und lassen sollten oder müssen“, | |
sagt die Grünenchefin. Das war in den vergangenen Monaten schon häufiger zu | |
hören, spätestens seit den Grünen das Heizungsgesetz um die Ohren geflogen | |
ist. | |
## Neue Dialogformate entwickeln | |
Jetzt soll es konkreter werden. Man wolle besser zuhören und bei | |
Veranstaltungen mehr auf Dialog setzen, dazu auch neue Formate wie | |
Bürgerforen entwickeln. Und sich so auf dem Weg zum Bundestagswahlprogramm | |
etwa einen „Realitätscheck“ abholen. Später, bei der Fragerunde, empfiehlt | |
Lang noch: „Geht raus! Trefft euch nicht nur mit denen, mit denen ihr euch | |
schon immer getroffen habt.“ Und schlägt dann den Bauernverband vor oder | |
Unternehmen vor Ort, „die gegen uns sind“. | |
Eins wird hier schnell klar: Die Grünen, die bei der Europawahl „in der | |
Stammwählerschaft verloren und gleichzeitig an anderen Stellen nicht | |
dazugewonnen“ haben, wie die Parteichefin sagt, wollen auf keinen Fall | |
zurück in die Nische. Oder zumindest die Grünen-Spitze will das nicht. Denn | |
in der Partei – [3][besonders im linken Flügel], zu dem auch Lang gehört – | |
wird durchaus diskutiert, ob man nicht wieder stärker die Ansprüche der | |
Kernklientel berücksichtigen müsse. So hatten etwa Berliner Grüne gerade | |
eine Rückbesinnung „auf unsere Rolle als progressive und zukunftsgerichtete | |
Partei“ gefordert. Man könne sich bei der Organisation von Mehrheiten kein | |
Entweder-Oder leisten, heißt es dagegen in einer weiteren „Lehre“ der | |
beiden Parteichef*innen. | |
„Wir kämpfen um unsere Stammwählerschaft ebenso wie um das erweiterte | |
Potenzial. Dabei sind wir klar in Werten und Zielen und pragmatisch im | |
Weg.“ Nicht nur hier, aber hier besonders klingt Wirtschaftsminister und | |
[4][Vizekanzler Robert Habeck] durch, mit dem die „Lehren“ natürlich | |
abgesprochen sind. Seit [5][Annalena Baerbock in der vergangenen Woche | |
verkündet hatte], nicht länger um den Job als Kanzlerkandidatin kämpfen zu | |
wollen, ist klar, dass Habeck es wird. Bei der Bundestagswahl 2025, sagt | |
Nouripour, wollen die Grünen ihren Wahlkampf auf eine Person zuspitzen. | |
Habecks Namen nennt er nicht nicht, die offizielle Verkündung steht ja noch | |
aus. | |
## Kontrollverlust-Sorgen ernst nehmen | |
Nicht nur mit Habeck, mit vielen Minister*innen im Bund und in den | |
Ländern, mit der Bundestagsfraktion, sondern auch mit externen | |
Expert*innen hat sich der grüne Bundesvorstand zur Vorbereitung seiner | |
Lehren ausgetauscht. Auch Parteimitglieder wurden befragt. „Die Menschen | |
haben berechtigte Sorgen – und das Gefühl, dass wir an diesen vorbeireden. | |
Wir bieten handfeste Antworten auf die Probleme im Alltag der Menschen“, so | |
lautet eine weitere. „Unser Claim ‚Machen was zählt‘ war richtig als | |
Anspruch, aber wurde uns nicht abgenommen“, sagt Nouripour und betont: Die | |
Grünen wollen nun einen stärkeren Fokus auf die sozialen Fragen legen. Dass | |
die Bundesregierung gerade mit der Kindergrundsicherung ihr zentrales | |
sozialpolitisches Projekt schreddert, erwähnt er nicht. | |
Und was heißt diese Lehre für das Thema Migration, will jemand später in | |
der Fragerunde wissen. Wie nehme man das Gefühl eines Kontrollverlusts | |
ernst und bewahre gleichzeitig die eigene Position? Man müsse die Sorge | |
annehmen, betont Lang. Wenn man das nicht tue, gingen die Leute „zu den | |
anderen“. Nicht Ängste schüren, sondern zeigen, wie es besser gehe. Der | |
Versuch, intern einen Kompromiss zu finden, dürfe nicht dazu führen, nach | |
außen unklar zu sein. Beides müsse klar werden: „Sowohl, dass es den Wunsch | |
nach Ordnung gibt, aber dass wir auch für Menschenrechte einstehen.“ | |
Die Grünen wollen auch, so eine weitere „Lehre“, ihre Kernthemen Klima- und | |
Naturschutz unterstreichen. „Wir machen sie wieder stärker hörbar“, sagt | |
Nouripour. In der Stammwählerschaft würden die Grünen für ihr ökologisches | |
Profil und dessen Verknüpfung mit verwandten Themenbereichen gewählt. „Hier | |
liegen unsere Kernwerte, hier liegen unsere Kompetenzwerte, wenn auch | |
aktuell geschwächt.“ | |
Die Grünen werden bald sehen können, ob sie die richtigen Schlüsse ziehen. | |
Für sie steht ein Härtetest an: die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen | |
und Brandenburg im September. In allen drei Ländern, besonders aber in | |
Thüringen, müssen sie um den Wiedereinzug in den Landtag hart kämpfen. | |
18 Jul 2024 | |
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## AUTOREN | |
Sabine am Orde | |
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