# taz.de -- Grüner Wirtschaftsminister: Macht, Mensch, Habeck | |
> Vom beliebtesten Politiker Deutschlands zum Sündenbock. Hat sich Robert | |
> Habecks Erfolgsrezept überlebt? | |
BERLIN/KARLSRUHE/FUCHSTAL taz | Robert Habeck sitzt auf dem Sofa seines | |
Büros im Bundestag. Das Sakko hat er ausgezogen, die Ärmel seines weißen | |
Hemdes hochgekrempelt, und hinter ihm bricht die Hölle auf. Dort, an der | |
Wand, hängt ein Druck seines Lieblingsmalers Jonas Burgert, ein düsteres | |
Bild mit grellen Farben: In einem bunten Trümmerfeld krümmen sich gerupfte | |
Gestalten, von denen es die meisten Richtung Bildmitte zieht, wo sich ein | |
tiefer Abgrund auftut. Eine Figur fällt schon. Endzeitstimmung. | |
Davor sitzt Habeck und zählt auf, was ihm alles Hoffnung macht. Die Löhne | |
steigen wieder stärker als die Preise. Die Energie wird billiger, der | |
Ausbau der Erneuerbaren zieht an. Sogar Friedrich Merz redet nicht mehr | |
ganz so schlimm über die Grünen, manchmal zumindest. | |
Auch der Fährhafen Schlüttsiel, [1][wo Demonstrant*innen im Januar | |
Habeck drohten und ihn am Verlassen der Fähre hinderten], scheint weit weg. | |
Das Gespräch findet am Donnerstag vor einer Woche statt. Es ist im | |
Hintergrund vereinbart und zitiert werden darf nur, was Habecks Sprecher | |
freigibt. Aber so viel lässt sich sagen: Endzeitstimmung verbreitet er | |
nicht. Wer nur dem Vizekanzler zuhört, könnte meinen, der Tiefpunkt sei | |
überschritten – für das Land und für seine Partei. | |
Besser wäre es für ihn. Seit zweieinhalb Jahren sind die Grünen in der | |
Regierung. In dieser Zeit haben sie zwei Extreme erlebt. Erst war die | |
Partei in Umfragen gleichauf mit der Union stärkste Partei, Habeck der | |
beliebteste Politiker im Land, dann stürzte er ab. Seit über einem Jahr | |
stecken der Wirtschaftsminister und seine Partei in der Rolle des | |
Sündenbocks fest. Und je länger es dabei bleibt, desto drängender werden | |
die Fragen: Hat sich Habecks Erfolgsrezept überlebt? Ist er gescheitert? | |
## Mancherorts wird Habeck richtig gehasst | |
„Bündnispartei“ hat Habeck sein Konzept genannt. Auf politische Gegner | |
zugehen, neue Milieus erschließen, den eigenen Leuten Kompromisse zumuten | |
und bei alldem auf die Macht der Argumente und der eigenen rhetorischen | |
Begabung vertrauen – diese Methode hat gut funktioniert, als die Zeiten | |
günstig waren. In den ausgehenden Merkel-Jahren gab es im Land eine zarte | |
Lust auf Veränderungen. Fridays for Future brachte Millionen auf die | |
Straßen. Die Grünen konnten sich, so schien es, ihre Koalitionspartner | |
aussuchen. | |
Jetzt sind die Zeiten nicht mehr günstig. Corona, Krieg und Krisen stecken | |
den Deutschen in den Knochen. Veränderung gilt als Bedrohung, auf rechten | |
Demos sind die Grünen das Feindbild, mancherorts wird Habeck richtig | |
gehasst. [2][CDU-Chef Merz hat die Partei zum „Hauptgegner“ erkoren] und | |
räumt nur gelegentlich ein, dass Schwarz-Grün als Notlösung denkbar bleibt. | |
In der Koalition macht auch die FDP Opposition gegen Habecks Partei. | |
Zum Beispiel beim Klimaschutzgesetz, das die Ampel in dieser Woche nach | |
langem Streit beschlossen hat – Kritiker*innen sagen: entkernt. | |
[3][FDP-Bundesverkehrsminister Volker Wissing hatte gewarnt, wegen der | |
Grünen drohten den Deutschen Autofahrverbote]. Jetzt zwingt das Gesetz | |
einzelne Ressorts wie Wissings Ministerium nicht mehr, die Klimaziele zu | |
erreichen. „Es ist wichtiger, die Praxis voranzubringen, als an Zielen in | |
der Theorie festzuhalten“, sagt Habeck dazu. | |
Das Gesetz kommt zusammen mit dem [4][Solarpaket, einem weiteren Projekt | |
aus Habecks Haus], das Schwung in den Ausbau der Photovoltaik bringen wird. | |
Aber auch darin kassiert der Minister eine Niederlage. Einen Bonus für in | |
Deutschland produzierte Solarmodule, der die Hersteller gegen chinesische | |
Konkurrenz schützen soll, gibt es nicht. | |
Auch sonst sieht es schlecht aus für seine Projekte. [5][Das | |
Bundesverfassungsgericht hat etliche seiner Pläne zerschossen, als es im | |
Herbst den Klimafonds kassierte]. Für viele Vorhaben fehlt jetzt das Geld, | |
und aus dem nächsten Haushalt, dafür sorgen die Liberalen, wird es auch | |
nicht kommen. | |
Everybody's Darling, das wird Habeck so schnell nicht wieder. Und | |
entscheidender als das: Wie viel grüne Politik die Grünen in Zukunft noch | |
umsetzen können, ist vollkommen offen. | |
Ein Freitagmorgen im Februar, mitten in einem Wald in Oberbayern. Der | |
Himmel ist blau und die Luft kalt. Erwin Karg, Bürgermeister der Gemeinde | |
Fuchstal, hat dem Bundeswirtschaftsminister einiges zu erzählen. Habeck hat | |
einen Tross Journalist*innen mitgebracht. „Wir stehen hier im Windpark | |
der Gemeinde Fuchstal Teil II“, sagt Karg. Drei Windräder sind in Bau, vier | |
weitere drehen sich in der Nähe schon seit acht Jahren. Eine Seltenheit in | |
Bayern. | |
Die Kosten, so der parteilose Bürgermeister, tragen die Gemeinde und ein | |
Teil der 4.200 Einwohner*innen. Beim ersten Windpark seien die Leute noch | |
skeptisch gewesen. Inzwischen werfe die Anlage aber Geld ab. „Der Gewinn | |
bleibt im Dorf“, sagt Karg. Auch deshalb hätten sich an der zweiten Anlage | |
jetzt viel mehr Fuchstaler*innen beteiligt. | |
Habeck hört zu und lächelt. Machmal klappt es doch noch: In [6][einem der | |
schwärzesten Landstriche Deutschlands] haben sich die Menschen von der | |
Energiewende überzeugen lassen. | |
## Zu grün oder nicht grün genug? | |
Kurze Zeit später wird Habecks Wagenkolonne auf dem Weg zum nächsten Termin | |
aufgehalten. Dutzende Protestierende stehen am Straßenrand, neben sich | |
haben sie Traktoren aufgereiht. „Weg mit der Ampel“, steht auf einem | |
Plakat, „verpisst euch!“ brüllen einige. Der Dienstwagen des Vizekanzlers | |
muss abbremsen. Habeck selbst haben Beamte des BKA vorher in einen | |
Polizeikombi verfrachtet und an den aufgebrachten Landwirten | |
vorbeigeschleust. | |
Die Situation ist neu für einen, der mal stolz davon erzählte, wie er als | |
Landespolitiker mit Protesten vor seinem Ministerium umging: „Ich nahm den | |
Hintereingang, aber nur, um durch den Haupteingang wieder rauszugehen.“ | |
Es ist nicht so, dass die Grünen vollkommen unbeteiligt in diese Lage | |
geraten sind. Habeck hat es seinen Gegner*innen durch Fehler leicht | |
gemacht. Der größte wiegt so schwer, dass auch ein Jahr später fast jedes | |
Gespräch über den Vizekanzler irgendwann darauf kommt: das | |
Gebäudeenergiegesetz, das das Ende fossil betriebener Heizungen einleiten | |
sollte – ein überfälliges Projekt für den Klimaschutz. | |
Die Bild-Zeitung, der damals ein unfertiger Entwurf zugespielt wurde, | |
machte daraus „Habecks Heiz-Hammer“. Wochenlang tobte eine Kampagne gegen | |
ihn. Aber auch jenseits der Falschinformationen und Übertreibungen waren | |
Habecks Pläne strenger, als es die Mehrheit im Land für erträglich hielt. | |
Konzepte für eine soziale Abfederung konnte er zu Beginn nicht vorweisen. | |
Eine Angst, der Herausforderung finanziell nicht gewachsen zu sein, machte | |
sich im Land breit. | |
Habeck reagierte anders als sonst. Er beschwerte sich im Fernsehen | |
beleidigt über die Durchstecherei. Als für ihn „prägendes politisches | |
Ereignis“ bezeichnet er das alles heute. Und sagt, er habe zu viel gewollt. | |
Folgt man seiner Interpretation, dann war bis dahin für ihn in der Ampel | |
viel möglich. Die Legislaturperiode war noch jung. Vor allem aber | |
ermöglichten der Krieg in der Ukraine und der plötzliche Gasmangel in der | |
Energiewende ein hohes Tempo. Sogar Christian Lindner lobte die | |
Erneuerbaren als „Freiheitsenergien“. | |
In diesen Monaten öffnete sich ein politisches Fenster, Habecks Ministerium | |
schob den Ausbau von Wind- und Solarenergie massiv an. Dass er zudem eine | |
Energiekrise verhinderte, niemand im Winter frieren musste, brachte ihm | |
viel Anerkennung ein – auch wenn der Preis hoch war: Habeck besorgte Gas | |
von arabischen Diktatoren und forcierte den Bau von LNG-Terminals. Manche | |
warfen ihm Opportunismus vor. | |
Gegen Ende des ersten Krisenwinters vor etwa drei Jahren, so erinnert es | |
Habeck, änderte sich die Stimmung dann wieder. „Aus dem Gefühl: ‚Die | |
Energiekrise nötigt uns schwierige Zugeständnisse ab‘ wurde wieder: ‚Das | |
ist ein grüner Eingriff fürs Klima‘“, sagt er. „Das war zu viel für die | |
Menschen. Das habe ich nicht ausreichend realisiert.“ | |
Heißt im Umkehrschluss: Ab da lieber zurück zur bekannten Methode. „Ich | |
würde für mich und die meisten Grünen reklamieren, dass wir unsere Position | |
nicht von der grünen Beschlusslage ableiten, sondern vom Diktat der | |
Wirklichkeit“, sagt er. Pragmatisch, unideologisch, kompromissbereit – so | |
will er jetzt wieder klingen. | |
## Um ein pragmatisches Image bemüht | |
Er hat an diesem Image seit Beginn seiner Karriere gearbeitet. Es gibt da | |
zum Beispiel eine Anekdote aus seiner Zeit als Landesminister in | |
Schleswig-Holstein, die immer wieder als Erfolgsgeschichte erzählt wird. An | |
der Ostsee gab es einen Streit zwischen Naturschützer*innen und | |
Fischer*innen, bei dem es um den Schutz von Schweinswalen ging, die sich in | |
Stellnetzen verhedderten und starben. Durch einen Kompromiss, so die | |
gängige Erzählung, habe Habeck den Konflikt befriedet. Das Problem daran: | |
Das verbindliche räumliche und zeitliche Verbot der Stellnetzfischerei, das | |
laut Koalitionsvertrag möglich gewesen wäre, war damit vom Tisch. | |
Auch gut zehn Jahre später klingt Ingo Ludwichowski, der damals | |
Geschäftsführer beim Naturschutzbund Schleswig-Holstein war, keineswegs | |
befriedet. „Man hätte politisch für den Meeresschutz viel mehr erreichen | |
können“, sagt er sofort am Telefon. Und dass dieses Versäumnis die | |
Naturschutzpolitik an der Ostsee bis heute präge. Aber „sachliche | |
Notwendigkeiten“ seien nicht Habecks Priorität. Hört man Ludwichowski zu, | |
kann man die Empörung darüber noch immer spüren. | |
Ein bisschen so klingt es auch, wenn grüne Bundestagsabgeordnete heute über | |
Habeck und seine Rolle in der Ampel sprechen. Weniger scharf natürlich, sie | |
schätzen ihn in der Fraktion für alles, was er hat und ihnen sonst fehlt. | |
Niemand will ihn loswerden. Trotzdem wünschten sich viele, er wäre ein | |
bisschen mehr wie sie. „Robert kämpft nur, wenn es um sein Haus geht. Das | |
ist nervig“, sagt ein Fraktionsmitglied. Habeck scheue zu oft Konflikte in | |
der Koalition, was umso schwerer wiege, da die anderen immer seltener ein | |
Pardon kennen. Dass er verhandeln könne, zeige er nur in ausgewählten | |
Fällen. „Er kann härter gegen die eigenen Leute sein als gegen die | |
anderen.“ | |
Wie machtbewusst er dabei vorgehen kann, hat Habeck beim Bundesparteitag | |
der Grünen im vergangenen November gezeigt. Es ist Samstagabend, schon fast | |
22 Uhr, als Habeck in der Karlsruher Messehalle wieder auf die Bühne | |
steigt. Die Grünen haben in der Regierung einer massiven Verschärfung des | |
Asylrechts zugestimmt, jetzt schlägt [7][die Grüne Jugend mit einem Antrag] | |
zurück. Sie will den grünen Minister*innen und Fraktionen verbieten, | |
weiteren Verschärfungen zuzustimmen. „Jeden Tag ertrinken Menschen auf dem | |
Mittelmeer“, hat Katharina Stolla, die Co-Vorsitzende der Grünen Jugend, in | |
den Saal gerufen. Die Stimmung ist aufgeheizt. | |
## Grüne auf Regierungslinie gezwungen | |
Er wolle nicht drohen, „aber macht euch klar, dass das kein Spiel ist, | |
sondern Konsequenzen hat“, sagt Habeck. „Der Antrag der Grünen Jugend ist | |
ein Misstrauensvotum, das in Wahrheit sagt: Verlasst die Regierung.“ | |
Inhaltlich argumentiert Habeck nicht. Er baut Druck auf, maximalen Druck. | |
Der Antrag der Grünen Jugend wird mit klarer Mehrheit abgelehnt. Der | |
Vizekanzler hat die Partei auf Regierungslinie gezwungen. | |
Habeck tut überrascht, wenn man ihn mit Klagen aus der Partei konfrontiert, | |
er mache zu viele Kompromisse. „Ich habe immer das Gefühl, dass ich zu viel | |
will“, sagt er. Aber es passt doch ins Bild, dass es von den | |
Koalitionspartnern oft heißt, mit dem Habeck könne man reden – nur seine | |
Partei sei verbohrt. Und während seine Bilanz als Fachminister ordentlich | |
ist, sehen die Ergebnisse der Grünen in anderen Bereichen, die er als | |
Vizekanzler mit verhandelt hat, durchwachsener aus. Verkehr, Umwelt, | |
Soziales, Migration: Alles Felder, in denen sich manche durchaus mehr | |
Unterstützung von ihm gewünscht hätten. | |
Oder zumindest weniger Gegenwind. Dass Habecks Pragmatismus auch | |
kompromisslose Züge annehmen kann, zeigt ein öffentlicher Machtkampf aus | |
dem vergangenen Sommer. Familienministerin Lisa Paus hatte Christian | |
Lindners Wachstumschancengesetz die Zustimmung verweigert, um die | |
FDP-Blockade gegen die Kindergrundsicherung aufzubrechen. Live im ZDF fiel | |
ihr der Vizekanzler ein paar Tage später in den Rücken. „Da mag Frust oder | |
falsche Taktik eine Rolle gespielt haben“, das sei aber von Paus „kein | |
Glanzstück gewesen“. Und: „Wir versauen es uns permanent selbst.“ Ein | |
Machtwort. | |
Kurz darauf passiert das Wachstumschancengesetz das Kabinett, über die | |
Kindergrundsicherung wird bis heute gestritten. Bei den Grünen ist seitdem | |
deutlicher, wer das Sagen hat. „Klar ist, dass Robert Habeck die Grünen in | |
der Bundesregierung führt“, sagt einer aus seinem Umfeld. | |
## Was ist mit den Stammwähler*innen? | |
Ähnlich gelagert wie die Debatte über Pragmatismus und Kompromisse ist die | |
Diskussion darüber, auf wen die Grünen im nächsten Bundestagswahlkampf | |
abzielen sollen. Öffentlich verweisen sie zwar tapfer darauf, dass sie als | |
einzige Ampel-Partei in Umfragen kaum verloren hätten und immer noch nahe | |
bei den 14,7 Prozent der letzten Wahl stünden. Und es stimmt ja: Im | |
Vergleich stehen die Grünen gut da. Das Problem liegt aber in den Zahlen | |
jenseits der Sonntagsfrage. Laut Umfragen des Instituts für Demoskopie | |
Allensbach sagten vor fünf Jahren nur 25 Prozent der Bevölkerung, dass | |
ihnen die Grünen kaum oder gar nicht gefallen. Heute sind es 56 Prozent. | |
Als ideologisch wird die Partei von zwei Dritteln wahrgenommen. Das Image, | |
das Habeck unbedingt hinter sich lassen wollte, ist zurück. Der Ruf der | |
Verbotspartei ist es auch. | |
Nichts zeigt so deutlich wie diese Zahlen, dass Habecks Versuch, auf neue | |
Milieus auszugreifen, gescheitert ist. Zumindest für den Moment. Viel | |
spricht dafür, dass es vor allem die Stammwähler*innen sind, die die | |
Grünen stabil halten. | |
Im linken Parteiflügel ist die Sorge verbreitet, dass diese unter all den | |
Kompromissen auch noch wegbrechen könnten, dass man stärker um sie kämpfen | |
und vor allem sie im nächsten Wahlkampf mobilisieren müsse. Aber das wäre | |
nicht die Methode des Vizekanzlers. | |
– Herr Habeck, die Kernwähler*innen könnten doch tatsächlich verloren | |
gehen? | |
„Das ist richtig. Aber wenn das die strategische Weiche ist – konzentriere | |
ich mich darauf, 14 Prozent grünes Milieu zu halten, oder gehe ich ins | |
Risiko für den Anspruch, nach oben offen Unterstützung für eine | |
progressive, ökologische Politik zu organisieren – dann gehe ich ins | |
Risiko.“ | |
– Können die Grünen wirklich noch neue Milieus erschließen? | |
„Ja, das geht weiterhin, auch wenn es schwieriger geworden ist. Da bin ich | |
mir sicher.“ | |
– Passt diese Methode noch in die Zeit? | |
„Das ist mein politischer Anspruch. Ich und wir haben das Ziel, Mehrheiten | |
zu schaffen. So will ich agieren. Und ich sehe auch die Chance, dass das | |
wieder gelingen kann.“ | |
Spätestens im Herbst steht die Entscheidung darüber an, ob die Grünen für | |
die Bundestagswahl einen Kanzlerkandidaten oder eine Kanzlerkandidatin | |
aufstellen werden. Baerbock oder Habeck? Das sei derzeit gar keine Frage, | |
heißt es in der Bundesgeschäftsstelle. Aber das stimmt natürlich nicht. | |
In der Partei wird die Personalie bereits heftig diskutiert. „Derzeit läuft | |
es auf Habeck raus“, ist bei den Grünen häufig zu hören. Die Gründe sind | |
mehrschichtig. Baerbock bekam 2021 ihre Chance und hat sie nicht genutzt. | |
Auch ihr gutes Verhältnis zur Basis hat in den vergangenen Monaten | |
gelitten. Baerbocks Zustimmung zur EU-Asylreform und zu Waffenexporten nach | |
Saudi-Arabien haben einen Teil der Partei verstört. | |
Außerdem hat Habeck in den letzten Monaten nicht nur nach innen sein | |
Standing als Vizekanzler ausgebaut. Machtbewusst stößt er auch in die | |
kommunikative Lücke, die Bundeskanzler Olaf Scholz lässt. In Videos äußert | |
Habeck sich nicht nur zu Klimaschutz oder Industriepolitik, sondern erklärt | |
auch entschieden und nachdenklich seine Sicht auf den Angriff der Hamas auf | |
Israel, Waffenlieferungen in die Ukraine oder Demonstrationen gegen | |
Rechtsextremismus. Das verleitet seine Fans regelmäßig zur Anmerkung, dass | |
er kanzlertauglich sei. Unter den Videos finden sich aber auch | |
Hass-Kommentare. | |
## Verdammt viele Wenns | |
Julia Reuschenbach, Politikwissenschaftlerin an der FU Berlin, betont, wie | |
interessant Robert Habeck als neuer Politikertypus sei. Dass er öffentlich | |
nachdenke und Fehler eingestehe, sei bemerkenswert, sagt sie am Telefon. | |
„In einer krisenhaften Zeit, die viele Ad-hoc-Entscheidungen verlange, ist | |
das ein interessanter Ansatz.“ Das Problem, das ihr derzeit am meisten | |
Sorgen mache, sei eine in Teilen beobachtbare Debattenunfähigkeit in der | |
politischen Mitte. Da sei ein „Brückenbauer“ wie Habeck viel wert. | |
Habeck selbst äußert sich bislang nur verschwommen zur K-Frage. Dass er | |
will, daran aber zweifelt kaum jemand. Eine Vision für den Wahlkampf hätte | |
er schon. Das Gespräch in seinem Büro ist fast vorbei, sein Mitarbeiter | |
drängt zum nächsten Termin. Doch einen Gedanken möchte Habeck unbedingt | |
noch aussprechen. | |
Zwischen dem Weiter-so der einen und den Deindustrialisierungs-Dystopien | |
der anderen sei ein Korridor für die Grünen reserviert, sagt er auf dem | |
Sofa unter der Endzeitvision seines Lieblingsmalers. „Den Leuten ehrlich zu | |
sagen, da ändern sich Dinge, da kann man nicht drüber hinweggehen, der | |
Übergang wird nicht einfach. Aber wir gehen Schritt für Schritt voran und | |
kriegen das dann gelöst.“ | |
Einem verunsicherten Land Zuversicht eintrichtern – das könnte der Kern | |
seines Wahlkampfs werden. „Da sehe ich mich“, sagt Habeck noch. | |
Der Plan könnte aufgehen, wenn die Zeiten bis dahin wirklich wieder besser | |
sind. Wenn sein Debakel um das Heizungsgesetz vergessen ist. Wenn seine | |
Energiegesetze wirken. Wenn die Wirtschaft anzieht. Wenn die Menschen das | |
auch auf dem Konto sehen. Und wenn die Ampel mit einem gnadenlosen | |
Sparhaushalt nicht selbst alles zerstört. Verdammt viele Wenns für unruhige | |
Zeiten. | |
Im Kleinen hat Habeck für solche Zwecke seit der 11. Klasse einen Trick, | |
die Geschichte hat er selbst in einem Buch aufgeschrieben. Damals wollte | |
die Theater-AG Brechts „Dreigroschenoper“ aufführen. Habeck sollte Jonathan | |
Jeremiah Peachum spielen, einen zynischen Machtmenschen, und verlor die | |
Rolle fast, weil er so schlecht sang. Ein Freund riet ihm: „Du musst dir | |
vornehmen selbstbewusst zu sein, um selbstbewusst zu werden.“ | |
Autosuggestion also. Für die Schulaufführung hat es gereicht. | |
Robert Habeck ist [8][Gast beim taz lab], dem Kongress der taz, am 27. | |
April im taz-Haus an der Berliner Friedrichstraße. | |
22 Apr 2024 | |
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[8] /programm/2024/tazlab2024/de/events/1419.html | |
## AUTOREN | |
Sabine am Orde | |
Anja Krüger | |
Tobias Schulze | |
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