# taz.de -- Neuwahlen in Frankreich: Erst Cohabitation, dann Abgrund? | |
> Nach der Europawahl entschied der französische Präsident | |
> Parlamentsneuwahlen auszurufen. Damit kann Macron Türöffner für die | |
> extreme Rechte werden. | |
Bild: Der französische Präsident Macron bei einer Pressekonferenz am 16. Juni | |
Am Abend der Europawahl sagte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron: „Es | |
ist besser Geschichte zu schreiben, als sie zu ertragen.“ Kurz zuvor hatte | |
er die Nationalversammlung aufgelöst und [1][Parlamentswahlen für den 30. | |
Juni und 7. Juli angesetzt] – eine Reaktion auf die Wahlergebnisse. Magere | |
14,6 Prozent seiner zentristischen Partei Renaissance stehen 31,3 Prozent | |
des rechtsextremen Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen | |
gegenüber, Éric Zemmours ultrarechte Truppe Reconquête kam auf 5,4 Prozent. | |
Das linke Lager verbucht 30 Prozent. | |
Vielleicht wird Macron, dessen Mandat 2027 ausläuft, Geschichte schreiben, | |
aber anders, als er sich das vorstellt. Anstatt den Aufstieg | |
extremistischer Kräfte zu stoppen, läuft er Gefahr, mit seiner | |
Kamikaze-Aktion deren Türöffner zu werden. Jüngste Umfragen sehen den RN | |
bei 33,3 Prozent. [2][Das könnte reichen, um den nächsten Regierungschef zu | |
stellen] – die Besonderheiten des französischen Mehrheitswahlrechts, bisher | |
noch ein Bollwerk gegen einen rechten Durchmarsch, machen es möglich. | |
Erreicht kein*e Kandidat*in im ersten Wahlgang eine absolute Mehrheit, | |
sehen sich alle Konkurrent*innen, die mindestens 12,5 Prozent der | |
Stimmen erreicht haben, in der zweiten Runde wieder. | |
Sollten die Prognosen zutreffen, käme es zu einer Kohabitation. Diese | |
Zwangsehe spannt einen Präsidenten und eine Regierung unterschiedlicher | |
politischer Couleur zusammen. Das gab es in der Geschichte der V. Republik | |
bisher dreimal. | |
Von 1986 bis 1988 regierte der sozialistische Staatspräsident François | |
Mitterrand mit einer Mitte-rechts-Mehrheit unter Jacques Chirac. In seinen | |
letzten zwei Amtsjahren „kohabitierte“ Mitterand mit dem Gaullisten Édouard | |
Balladur. Ab 1997 hatte Chirac, nun selbst Präsident, ein Déjà-vu: Ihm | |
stand als Premier der Sozialist Lionel Jospin gegenüber. Über welche | |
Machtfülle der Regierungschef verfügt, zeigt sich an der 35-Stunden-Woche, | |
der allgemeinen Krankenversicherung oder der eingetragenen Partnerschaft | |
für gleichgeschlechtliche Paare, die unter Jospin eingeführt wurden – gegen | |
den Willen von Chirac. | |
## Neuwahlen sind nur alle zwölf Monate möglich | |
Der stieß im Jahr 2000 ob seines Erfahrungsschatzes mit der Kohabitation | |
eine Verfassungsreform an: Die Amtszeit des Präsidenten wurde von sieben | |
auf fünf Jahre verkürzt und so mit der Legislaturperiode der | |
Nationalversammlung harmonisiert. In der Regel finden die Parlamentswahlen | |
im Nachgang zur Präsidentschaftswahl statt. Aber keine Regel ohne Ausnahme, | |
wie die jüngsten Ereignisse zeigen. Diese könnten jedoch in einer Art | |
Ausnahmezustand münden, sollte der neue Premier Jordan Bardella, | |
Shootingstar des RN, heißen und der RN vielleicht eine absolute Mehrheit | |
einfahren. | |
Macron wäre in dem Fall nicht aller Kompetenzen beraubt. Aber Neuwahlen | |
kann er nur alle zwölf Monate ansetzen. Bliebe noch die Möglichkeit, | |
Dekreten die Unterschrift zu verweigern. Hier käme der berühmt-berüchtigte | |
Artikel 49.3 zur Anwendung. Mit dem kann die Regierung ein Gesetz ohne | |
Abstimmung durch die Nationalversammlung bringen, riskiert damit aber, über | |
ein Misstrauensvotum zu stürzen – was aber noch nie vorkam. Dank dieses | |
Artikels brachte die Regierung 2023 eine umstrittene Rentenreform durch. | |
Dieses „Schwert“ könnte sich gegen Macron selbst wenden. Bei der | |
Präsidentenwahl 2002 stellte sich eine republikanische Front hinter Chirac, | |
um Jean-Marie Le Pen zu verhindern. Ob das nun wieder gelingt, ist | |
fraglich. „Macrons Zockerei könnte das Chaos in Frankreich noch schlimmer | |
machen, schreibt die Le-Monde-Kolumnistin Sylvie Kauffmann. „Das beraubt | |
Europa einer führenden, kreativen Stimme, die doch gerade in Kriegszeiten | |
so bitter nötig ist.“ | |
14 Jun 2024 | |
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## AUTOREN | |
Barbara Oertel | |
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