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# taz.de -- Neuwahlen in Frankreich: Coup oder Kurzschluss
> Am 30. Juni und 7. Juli sollen die Franzosen ein neues Parlament wählen.
> Wahlsieger könnte der extrem Rechte Rassemblement National werden.
Bild: Nach der Wahl ist vor der Wahl: In nur drei Wochen werden Emmanuel Macron…
Die echte Überraschung waren am Sonntagabend in Frankreich nicht die
[1][Ergebnisse der Europawahl], sondern die Reaktion von Staatspräsident
Emmanuel Macron. Niemand hatte ernsthaft damit gerechnet, dass er noch am
Wahlabend der Forderung des rechtspopulistischen Rassemblement National
(RN) nachgeben und [2][Neuwahlen ausrufen] würde. Das war, wie man in
Frankreich nun sagt, la surprise du Chef. Nicht bekannt ist, ob Macron
diesen Theatercoup schon seit Langem geplant hat oder ob das eine Art
Kurzschlusshandlung unter dem deprimierenden Eindruck einer Niederlage der
eigenen liberalen Liste (Renaissance – RE) mit [3][Spitzenkandidatin
Valérie Hayer] war.
Selbst im engsten Umfeld des Präsidenten war man offenbar nicht im Voraus
informiert. Premierminister Gabriel Attal soll vergeblich versucht haben,
Macron noch umzustimmen. So soll er seinen Rücktritt und sich selber als
Opfer angeboten haben: „Ich bin als Premier die Sicherung, ich bin bereit,
meine Rolle als Sicherung zu spielen.“ Der Präsident soll das abgelehnt
haben, für ihn sei Attal im Gegenteil seine beste Karte, um nun die
Macronisten in den Wahlkampf zu führen. Auch die bisherige Vorsitzende der
Nationalversammlung, Yaël Braun-Pivet, meinte kritisch, es hätte vielleicht
„einen anderen Weg gegeben“ als die Auflösung der Volksvertretung.
Das Spitzenergebnis des von Jordan Bardella angeführten Rassemblement
National hatte sich seit Monaten abgezeichnet. Der RN erhielt 31,4 Prozent
der Stimmen und damit wie erwartet mehr als doppelt so viele wie die Liste
Hayer (14,6 Prozent). Das ergibt 30 der insgesamt 81 französischen Sitze im
EU-Parlament für RN. Dabei ist der Vormarsch der Partei von Marine Le Pen
nicht nur in ihren bisherigen Hochburgen (Nord- und Ostfrankreich und Côte
d’Azur), sondern in allen Wahlkreisen festzustellen. RN ist [4][nun in
allen Departements außer in der Hauptstadtregion Île-de-France die stärke
politische Kraft].
Diesem klaren demokratischen Verdikt musste Macron irgendwie Rechnung
tragen. Der französische Präsident schloss es aber aus, zurückzutreten,
obschon er wissen müsste, dass er sich den vernichtenden Wahlausgang selbst
zuzuschreiben hat.
Die EU-Wahl in Frankreich war ein Plebiszit gegen seine Politik und einen
Stil der Machtausübung, der von vielen Landsleuten als arrogant empfunden
wird. Seine jüngste [5][Ankündigung, die Ukraine vermehrt mit Kampfjets]
und womöglich sogar mit Bodentruppen zu unterstützen, hat zusätzlich für
Angst und Entrüstung gesorgt. Dennoch wollte Macron keine persönliche
Verantwortung für die Wahlergebnisse übernehmen. Verfassungsrechtlich war
er aber auch nicht verpflichtet, zum radikalen Mittel der Neuwahlen zu
greifen. Man muss sich fragen, was er sich davon erhofft oder damit
bezweckt.
Seit der vorigen Parlamentswahl im Jahr 2022 verfügt Macron nicht mehr über
eine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung. Das hat die Arbeit der
Regierung bereits erheblich verkompliziert, die zur Durchsetzung
umstrittener Gesetzesvorlagen (wie der Rentenreform) entweder auf die
Unterstützung oder das Stillhalten der Konservativen angewiesen war – wenn
sie nicht auf autoritäre Verfassungsinstrumente zurückgreifen wollte,
Vorlagen ohne Votum durchzubringen. Nach den Neuwahlen dürfte sich die Lage
der Regierung noch weiter verschlimmern.
Denn innerhalb von drei Wochen – gewählt wird in zwei Runden am 30. Juni
und 7. Juli – wird sich der Vormarsch der Rechtspopulisten nicht mehr
umkehren lassen. Der RN könnte dann nicht nur stärkste Fraktion in der
Nationalversammlung werden, sondern sogar eine absolute Mehrheit erringen.
In diesem Fall wäre Macron gezwungen, einen Premierminister oder eine
Premierministerin aus den Reihen des RN mit der Regierungsbildung zu
beauftragen. Ergebnis wäre eine sogenannte Kohabitation, wie es sie in
Frankreich bereits dreimal gab: zweimal unter Präsident François Mitterrand
und einmal während der Präsidentschaft von Jacques Chirac: Der Staatschef
sieht sich einer Regierung seiner politischen Gegner gegenüber und muss mit
ihr koexistieren.
Jordan Bardella sieht sich schon als nächster Premierminister Frankreichs.
Vereiteln möchten dies die linken Parteien, die bei der EU-Wahl
gegeneinander angetreten waren. Jetzt ist wieder von einer Allianz die
Rede, wie sie sie im Jahr 2022 mit der NUPES (Neue Ökologische und Soziale
Volksunion) realisiert hatten. Anschließend war die Allianz wieder
zerbrochen, und auch jetzt ist die Konkurrenz groß zwischen den Sozialisten
mit ihrem neuen Bannerträger Raphaël Glucksmann auf der einen Seite, die
sich mit ihrem Ergebnis von 13,8 Prozent die Führungsrolle in einer
Neuauflage der NUPES sichern will, und der [6][Linkspartei La France
Insoumise] (LFI) auf der anderen, die kam auf 9,9 Prozent.
Noch am Wahlabend versammelten sich Hunderte von Menschen spontan auf der
Pariser Place de la République, um eine Einheit der linken Organisationen
zu fordern.
Der Abgeordnete François Ruffin von der Linkspartei La France Insoumise
will sich an der antifaschistischen Volksfront der 30er Jahre orientieren.
Sozialisten, Grüne, Kommunisten und LFI haben bereits mit Verhandlungen
begonnen. Ohne allzu viel Optimismus rechnet sich auch die Linke noch
Chancen aus, bei den kommenden Wahlen eine Mehrheit zu erringen, in der
Hoffnung, dass sich zumindest ein Teil der Wählerschaft von der Perspektive
eines Wahlsieges der Le-Pen-Partei aufrütteln lässt.
10 Jun 2024
## LINKS
[1] /Nach-den-Wahlen-in-27-EU-Staaten/!6016545
[2] /Neuwahlen-in-Frankreich/!6016562
[3] /Macron-Rede-an-der-Sorbonne-Universitaet/!6006852
[4] https://img.20mn.fr/hPwDvN68RY6cr7lDyqOaECk/590x0
[5] /Geschichte-und-Wahlkampf-zum-D-Day/!6015724
[6] /Linke-Parteien-in-Europa/!5982683
## AUTOREN
Rudolf Balmer
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