| # taz.de -- Wahl der Kommissionschefin: Die Hinterzimmerpolitik beginnt | |
| > Kommissionschefin von der Leyen muss mehr um ihre Wiederwahl bangen als | |
| > erwartet. Dafür könnten Zugeständnisse an die extreme Rechte nötig sein. | |
| Bild: Siegerin der Pose nach: Ursula von der Leyen | |
| Berlin / Brüssel taz | Am Tag nach der Europawahl herrscht Katerstimmung in | |
| Brüssel. Es regnet in Strömen, viele EU-Politiker lecken ihre Wunden. Alle | |
| Parteien links der Mitte haben verloren, die rechten Parteien zum Teil | |
| deutlich zugelegt. Und Ursula von der Leyen, die vermeintliche | |
| Wahlsiegerin, kann sich auch nicht recht freuen. Ihre konservative | |
| Europäische Volkspartei (EVP) ist bei dieser Wahl zwar stärker geworden. | |
| Künftig stellt die EVP 186 Abgeordnete im neuen, auf 720 Sitze vergrößerten | |
| Europaparlament – 10 mehr als vor fünf Jahren. Auch die demokratische Mitte | |
| hat sich behauptet. | |
| Konservative, Sozialdemokraten und Liberale sind zusammen immer noch | |
| stärker als die Rechten und Rechtsextremen. Doch die alte | |
| Von-der-Leyen-Koalition ist wacklig geworden, die ehemaligen Partner | |
| stellen nun Bedingungen für eine mögliche Wiederwahl zur | |
| Kommissionspräsidentin. | |
| Auch im Europäischen Rat, der Gipfelrunde der 27 Staats- und | |
| Regierungschefs, ist von der Leyens zweite Amtszeit noch längst nicht | |
| gesichert. Dort sitzen nach dem Wahlschock von Sonntag gleich mehrere | |
| Wackelkandidaten: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), der seit der | |
| Wahlschlappe für die Ampel angezählt ist und von der Leyen vor | |
| Wahlbündnissen mit den Rechten gewarnt hat. Frankreichs Staatschef | |
| [1][Emmanuel Macron, der schon für Juni Neuwahlen angesetzt hat] und damit | |
| alle Entscheidungen auf EU-Ebene aufhalten könnte. Und natürlich Giorgia | |
| Meloni – die postfaschistische italienische Regierungschefin, die die Wahl | |
| daheim in Rom gewonnen hat und das nun auskosten möchte. | |
| Italien habe innerhalb der EU und der Gruppe sieben westlicher | |
| Industrienationen (G7) nun die „stärkste Regierung von allen“, verkündete | |
| Meloni – ein Seitenhieb auf Berlin und Paris, aber auch eine Warnung für | |
| von der Leyen, sich ihrer Sache nicht zu sicher zu sein. | |
| ## Wahlkampf geht weiter | |
| Also geht der Wahlkampf weiter, jedenfalls für die EVP-Kandidatin. Am | |
| Montag reiste sie nach Berlin, um gemeinsam mit [2][CDU-Chef Friedrich | |
| Merz] die Marschroute abzustecken. „Die Mitte hat gehalten“, betonte von | |
| der Leyen, das Ergebnis sei aber auch mit einer großen Verantwortung für | |
| die Parteien der Mitte verbunden. „Wir brauchen Stabilität, | |
| Verantwortlichkeit und Kontinuität.“ | |
| Auf Nachfrage, ob sie mit Grünen oder auch mit den Fratelli d’Italia von | |
| [3][Italiens Ministerpräsidentin Meloni] verhandeln werde, antwortete von | |
| der Leyen ausweichend. Sie wiederholte ihre Formulierung, entscheidend für | |
| eine mögliche Zusammenarbeit sei eine Haltung pro Europa, pro Ukraine und | |
| pro Rechtsstaat. Sie betonte aber auch, man spreche nicht mit einer | |
| einzelnen Gruppierung, sondern mit Fraktionen. | |
| Den Namen Meloni nannte sie nicht – vielleicht aus Rücksicht auf die | |
| nächste heikle Etappe: Am kommenden Montag wird von der Leyen zu einem | |
| EU-Sondergipfel in Brüssel erwartet, bei dem es um ihre mögliche zweite | |
| Amtszeit, aber auch um andere Topjobs geht. Denn nicht nur die | |
| Kommissionsspitze muss neu besetzt werden, auch der Posten des | |
| EU-Ratspräsidenten und des Außenbeauftragten. Dabei wollen alle | |
| europäischen Parteifamilien bedacht sein; nach dem Wahlschock vom Sonntag | |
| dürfte der Personalpoker noch schwieriger werden als bisher. | |
| Als möglicher Kandidat für den Spitzenposten im Rat gilt António Costa, der | |
| frühere portugiesische Regierungschef, als mögliche Kandidatin für das Amt | |
| des Außenbeauftragten wird die estnische Regierungschefin Kaja Kallas | |
| gehandelt. Costa ist Sozialist und Kallas Liberale. Das würde zur | |
| Christdemokratin von der Leyen passen, der Parteienproporz wäre so gewahrt. | |
| Doch spielt Meloni bei diesem Spiel mit? Und was machen ihre Verbündeten im | |
| Europaparlament, die in der rechtspopulistischen Fraktion der Europäischen | |
| Konservativen und Reformer (EKR) sitzen? Gehen sie mit den Rechtsextremen | |
| von „Identität und Demokratie“ (ID) zusammen, wo Frankreichs Wahlsiegerin, | |
| die Nationalistenführerin Marine Le Pen, den Ton angibt? Oder lassen sie | |
| sich auf Händel mit der EVP ein? | |
| Über diese Fragen wird jetzt hinter verschlossenen Türen verhandelt. Die | |
| berüchtigten Hinterzimmer in Brüssel sind wieder gefragt – doch diesmal | |
| spielt die Musik auch in Rom und Paris, wo die Rechten und Rechtsextremen | |
| versuchen, ihre Wahlerfolge in EU-Politik umzumünzen. Wie und wann dieser | |
| Machtpoker endet, ist schwer abzusehen. Vor der Wahl sah es so aus, als | |
| könne von der Leyen schon Ende Juni offiziell für eine zweite Amtszeit | |
| nominiert und dann im Juli vom Europaparlament bestätigt werden. Nun könnte | |
| die Wahl in Frankreich dazwischenkommen, oder Streit im Europaparlament. | |
| Dort wollen sich die Chefs der großen, proeuropäischen Fraktionen am | |
| Dienstag treffen, um mit den Sondierungen zu beginnen. Große Ankündigungen | |
| sind nicht zu erwarten – denn diesmal erhebt das Parlament nicht mehr den | |
| Anspruch, das erste Wort zu haben. Die Abgeordneten wollen den | |
| EU-Sondergipfel am kommenden Montag abwarten. Außerdem haben auch im | |
| Parlament die Machtspielchen begonnen. So versuchte EVP-Chef Manfred Weber | |
| am Montag, den Sozialdemokraten und Liberalen den Schwarzen Peter in die | |
| Schuhe zu schieben. Sie müssten sich nun schleunigst zu von der Leyen | |
| bekennen – sonst spielten sie den Rechten in die Hände. | |
| Allerdings waren es Weber und von der Leyen, die vor der Wahl offen mit | |
| Meloni und der rechtspopulistischen EKR geflirtet haben. Was aus dieser | |
| liaison dangereuse wird, ist noch völlig offen – auch wenn es die | |
| EVP-Politiker seit Sonntagabend auffällig vermeiden, die italienische | |
| Ministerpräsidentin oder ihre Partei zu nennen. | |
| Klar ist nur eins: Die Wähler können das Ergebnis nicht mehr beeinflussen. | |
| Sie konnten von der Leyen nicht wählen, weil diese auf keinem Wahlzettel | |
| stand – und nun können sie sie auch nicht mehr stoppen. | |
| 10 Jun 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Neuwahlen-in-Frankreich/!6016562 | |
| [2] /CDU-gewinnt-bei-der-Europawahl/!6015294 | |
| [3] /Europawahlen-in-Italien/!6016717 | |
| ## AUTOREN | |
| Sabine am Orde | |
| Eric Bonse | |
| ## TAGS | |
| Europäische Union | |
| Ursula von der Leyen | |
| Europäisches Parlament | |
| CDU | |
| EVP | |
| Brüssel | |
| Europäische Union | |
| Schwerpunkt Europawahl | |
| Schwerpunkt Emmanuel Macron | |
| Schwerpunkt Europawahl | |
| Schwerpunkt Europawahl | |
| Schwerpunkt Europawahl | |
| EVP | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Streit um EU-Spitzenposten: Machtkämpfe, frei vom Wählerwillen | |
| In Brüssel geht das Geschachere um das Trio aus Parlaments-, Rats- und | |
| Kommissionspräsidentschaft los. Die EVP macht einen haltlosen Vorschlag. | |
| Krisengipfel in Brüssel: Machtkampf um EU-Spitzen entbrannt | |
| Kanzler Scholz' Wunsch wurde nicht erfüllt: Eine schnelle Einigung über | |
| neues EU-Spitzenpersonal wird es nicht geben. Bis Ende Juni soll | |
| entschieden werden. | |
| Nicht nur traute Einigkeit bei G7: Meloni gegen Passus zu Abtreibung | |
| Die Staaten der G7 sind sich einig bei den Ukraine-Hilfen und sagen | |
| Milliarden zu. Aber beim Thema Abtreibung werden die Unterschiede sichtbar. | |
| Barley zur Wahl der Kommissionschefin: „Kein Bündnis mit rechts“ | |
| Die SPD-Spitzenkandidatin Katarina Barley schließt eine Zusammenarbeit mit | |
| Rechten kategorisch aus. Das gelte auch bei der Wahl Ursula von der Leyens. | |
| Fabio de Masi über BSW-Ergebnis: „Wir sind mehr als nur Protest“ | |
| Als Spitzenkandidat der Wagenknecht-Partei zieht Fabio de Masi nun in das | |
| Europaparlament ein. Dort wolle man eine neue Fraktion bilden – ohne | |
| Rechte. | |
| Die EU rückt nach rechts: Schock und Erschütterung | |
| Desaströses EU-Ergebnis: Scholz ist innenpolitisch angezählt, Macron ruft | |
| Neuwahlen in Frankreich aus, die Italienerin Meloni ist auf dem Vormarsch. | |
| Nach den Wahlen in 27-EU-Staaten: Raues Klima in Europa | |
| Das rechte Lager erlebt den vermuteten Aufschwung. Ursula von der Leyen | |
| sieht den Sieg bei den Konservativen und setzt auf eine Bastion gegen | |
| Rechts. |