| # taz.de -- 75 Jahre Grundgesetz: Verfassungsauftrag nicht erfüllt | |
| > Von Beginn an sah die deutsche Verfassung vor, jahrhundertealte | |
| > Entschädigungszahlungen an die Kirchen zu stoppen. Die Umsetzung | |
| > scheitert bis heute. | |
| Bild: Über 600 Millionen Euro wurden im vergangenen Jahr wieder auf kirchliche… | |
| Herrenchiemsee taz | Vom Schiff aus sind erst nur Bäume zu sehen auf der | |
| größten der Chiemseeinseln. Dann mächtige Bauten, die weiß strahlen: | |
| Herrenwörth, das älteste Kloster Bayerns. Eigentlich. Denn seit der Staat | |
| 1803 zuschlug, fehlen die Mönche – und die Türme. | |
| Die amputierte Inselabtei im Chiemsee ist Geburtsort des Grundgesetzes. | |
| [1][Vor 75 Jahren, am 23. Mai 1949,] hat der Parlamentarische Rat in Bonn | |
| die Verfassung verkündet, doch hier, auf der Herreninsel, saßen Carlo | |
| Schmid, Otto Suhr und andere Experten zusammen, um seine Grundlagen zu | |
| entwerfen. | |
| Nicht im pompösen Königsschloss Ludwigs II. hinten im Wald, zu dem die | |
| meisten Besucher:innen abbiegen, die vom Schiff steigen. Hier vorne, | |
| vom Anleger nur ein paar Stufen hinauf, wurde nach der Nazizeit über eine | |
| Verfassung gestritten. In klösterlicher Bescheidenheit, „überschattet“ vom | |
| Heiligen Geist, wie Anton Pfeiffer, CSU-Vorsitzender des | |
| Verfassungskonvents, damals bei der Eröffnung sagte. | |
| Doch bei aller christlichen Prägung sollte der neue Staat säkular sein. Der | |
| Grundgesetzentwurf von Herrenchiemsee kam, wie schon die Weimarer | |
| Reichsverfassung, ohne Gottesbezug aus. Aus Weimar übernahm das fertige | |
| Grundgesetz schließlich die Forderung, dass Schluss sein sollte mit | |
| staatlichen Entschädigungszahlungen an die Kirchen. Diesen | |
| Verfassungsauftrag [2][wollte die Ampelregierung nach ihrer Vereidigung | |
| 2021 endlich umsetzen]. Im Koalitionsvertrag ist das festgeschrieben. | |
| Doch eingelöst ist das Versprechen noch nicht. Über 600 Millionen Euro | |
| wurden im vergangenen Jahr wieder auf kirchliche Konten überwiesen, | |
| zusätzlich zur Kirchensteuer und dem Unterhalt von Kindergärten und | |
| Krankenhäusern – trotz der klammen Staatskassen und obwohl eine gemeinsame | |
| Arbeitsgruppe mit Ländern und Kirchen schon lange berät. Warum wird der | |
| Dauerauftrag nicht endlich beendet? | |
| ## Kathedralen zu Brauereien | |
| Die Bäume auf der Herreninsel wurzeln tief in christlichem Boden. Hier | |
| fasste im frühen 7. Jahrhundert das Christentum Fuß in Bayern. Hier wurden | |
| 749 zwei karantanische Fürstensöhne getauft, bevor sie Slowenien | |
| christianisierten. Hier, im alten Kloster, regierten jahrhundertelang | |
| kirchliche Fürstbischöfe – auch über die weltlichen Dinge. Bis der Staat | |
| die Macht an sich riss und die Kirchen enteignete. | |
| In den Klosterfluren hängt ein Bild des Malers Wilhelm Boshart. Es zeigt | |
| die Aufhebungskommission, die 1803 in einem kleinen Ruderboot zur | |
| Herreninsel übersetzt. Auf dem Gemälde thronen über der Stiftskirche – der | |
| Kathedrale des Fürstbistums Chiemsee – noch zwei Türme. Schon wenig später | |
| wurden sie abgerissen und das Bistum aufgelöst. Der verstaatlichte Inseldom | |
| wurde zur Brauerei umgebaut. | |
| Das hat viel mit Napoleon zu tun, dem französischen Kaiser. Als er zu | |
| Beginn des 19. Jahrhunderts Gebiete links des Rheins annektierte, sprach | |
| das Heilige Römische Reich Deutscher Nation den dortigen Fürsten | |
| rechtsrheinischen Kirchenbesitz als Entschädigung zu. Besitz wie das | |
| Kloster Herrenwörth. | |
| Als Kompensation für diese und frühere Enteignungen fließen bis heute | |
| Gelder an die Kirchen. Die Regierungen des Kaiserreichs, der Weimarer | |
| Republik, der Nationalsozialisten, der DDR und der Bundesrepublik haben | |
| weiter gezahlt. | |
| Seit 1949 flossen mehr als 20 Milliarden Euro. Kaufkraftbereinigt sind das | |
| sogar 36 Milliarden Euro. Dabei war vor 75 Jahren schon die Ablöse dieser | |
| Zahlungen vorgesehen, sowohl in [3][der Verfassung der DDR] als auch im | |
| Grundgesetz. | |
| ## Zum Jagen getragen | |
| Das entstand nicht im luftleeren Raum. Als die Delegierten und Gäste des | |
| Verfassungskonvents am 10. August 1948 am Steg der Herreninsel ankamen, | |
| folgten sie dem Auftrag der elf Ministerpräsidenten der Westzone. Die | |
| wiederum folgten widerstrebend dem Auftrag der alliierten Besatzungsmächte. | |
| Angesichts der Berlin-Blockade sorgten sich die Länderchefs, dass eine | |
| westdeutsche Verfassung die Teilung des Landes zementieren könnte. | |
| Und insbesondere Bayern wollte seine Eigenständigkeit nur ungern durch eine | |
| übergeordnete Instanz einschränken lassen. Die Einladung nach | |
| Herrenchiemsee war der Versuch des bayerischen Ministerpräsidenten, den | |
| Verfassungskonvent zum Heimspiel zu machen. | |
| Das Verhältnis zwischen Ländern und dem zu erschaffenen „Bund“ war denn | |
| auch einer der zentralen Konflikte in den zweiwöchigen Beratungen, bei | |
| denen von den Nazis Verfolgte und Mittäter zusammensaßen. Sie tagten in | |
| einem dunkel getäfelten Kaminzimmer, das bis heute erhalten ist. | |
| Bei allem Streit war man sich einig, nur ein Provisorium schaffen zu | |
| wollen. Der Sozialdemokrat Carlo Schmid setzte durch, dass die Grundrechte | |
| einen zentralen Platz erhielten. Der erste Artikel des Herrenchiemseer | |
| Entwurfs lautete: „Der Mensch ist nicht um des Staates willen, sondern der | |
| Staat um des Menschen willen“. In Bonn dann wurde dieser erste zugunsten | |
| des zweiten Satzes gestrichen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ | |
| Zurückgreifen konnten die Herrenchiemseer auf bereits bestehende | |
| Landesverfassungen in Süddeutschland, wie jene, die der Sozialdemokrat | |
| Wilhelm Hoegner im Exil für Bayern entworfen hatte. Carlo Schmid brachte | |
| seine Verfassungserfahrung aus Württemberg-Hohenzollern ein. | |
| ## Auch Weimar als Vorbild | |
| Die Weimarer Reichsverfassung war ebenfalls ein Referenzpunkt. Aus ihr | |
| übernahmen die Architekten des Grundgesetzes die | |
| Religionsverfassungsartikel, die eine sogenannte „freundliche“ – oder | |
| „hinkende“ – Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften in Deutschland | |
| vorsahen. | |
| Auch Artikel 138 der alten Verfassung wurde zum Bestandteil des | |
| Grundgesetzes erklärt: „Die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen | |
| Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften | |
| werden durch die Landesgesetzgebung abgelöst. Die Grundsätze hierfür stellt | |
| das Reich auf.“ | |
| An die Stelle des Reiches trat mit dem Grundgesetz der Bund. Und der tat | |
| jahrzehntelang nichts, um die Staatsleistungen abzulösen. Erst 2012 brachte | |
| die Linksfraktion das Thema im Bundestag auf. Zusammen mit FDP und Grünen | |
| [4][legte sie 2020 schließlich wieder einen Gesetzentwurf vor], der an der | |
| Stimmmehrheit der Großen Koalition scheiterte. | |
| Als die Ampelregierung 2021 antrat, versprach sie im Koalitionsvertrag: | |
| „Wir schaffen in einem Grundsätzegesetz im Dialog mit den Ländern und den | |
| Kirchen einen fairen Rahmen für die Ablösung der Staatsleistungen.“ | |
| ## Der Prozess stockt | |
| Die Kirchen sind damit weitgehend einverstanden. Sie sind, wie auch die | |
| Länder, in einer Arbeitsgruppe vertreten, die unter der Ägide des | |
| Bundesinnenministeriums Gesetzentwürfe vorbereiten soll. Doch der Prozess | |
| stockt. Der Föderalismus, der auf Herrenchiemsee dem Grundgesetz | |
| eingeschrieben wurde, blockiert in diesem Fall einen Verfassungsauftrag. | |
| Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) sagte | |
| zuletzt, das Thema Staatsleistungen habe für die Länder überhaupt keine | |
| Priorität. Auch in Hessen, das derzeit der Ministerpräsidentenkonferenz | |
| vorsteht, wird abgewunken. „Bislang ist der Bund mit einem Prozess, der den | |
| notwendigen Rahmen einer Ablösung festlegt, gescheitert“, sagte ein | |
| hessischer Regierungssprecher der taz auf Nachfrage. | |
| Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder wurde Mitte Mai nach einer | |
| Audienz bei Papst Franziskus noch deutlicher: Er habe im Gespräch mit dem | |
| Kirchenoberhaupt deutlich gemacht, dass Bayern grundlegend gegen eine | |
| völlige Trennung von Staat und Kirche sei. Das Thema einer Ablösung der | |
| Staatsleistungen in Deutschland sei „vom Tisch“, das sei auch unter den | |
| Bundesländern „so intoniert“. | |
| Es geht den 14 betroffenen Ländern – Bremen und Hamburg zahlen nichts – | |
| auch ums Geld. Voraussichtlich rund 11 Milliarden Euro müssten sie für eine | |
| abschließende Ablöse an die Kirchen, die die Formulierung im Grundgesetz | |
| vorschreibt, insgesamt hinblättern. Die Kirchen allerdings wären auch zu | |
| Ratenzahlungen bereit. Anne Gidion, Prälatin der Evangelischen Kirche in | |
| Deutschland, sagte zuletzt: „Man kann über Finanzmodelle nachdenken, die | |
| nicht über Einmalzahlungen reden, sondern über eine lange gestreckte Zeit, | |
| die verträglich ist.“ | |
| ## Ampel-Fraktionen machen Druck | |
| Ausgerechnet Bayern zeigt, wie zumindest ein Teil der Ablöse geregelt | |
| werden könnte. Schon 2023 hieß es aus dem dortigen Kultusministerium, dass | |
| vertragliche Ablösungen insbesondere auf dem Feld staatlicher Baupflichten | |
| an kirchlichen Gebäuden seit Jahren praktiziert würden. | |
| Konstantin von Notz, Vize-Chef der Grünen im Bundestag, war schon 2020 am | |
| Gesetzentwurf zur Ablöse beteiligt. „Dass Vertreter der Länder zum Teil | |
| einen generellen Unwillen bei der Erfüllung des Verfassungsauftrags | |
| erkennen lassen, ist bemerkenswert“, sagte er jetzt der taz. „Denn das | |
| Grundgesetz lässt keinerlei Zweifel an der Notwendigkeit des Vorhabens. | |
| Geradezu unseriös ist es, dies als Zugewandtheit gegenüber den Kirchen | |
| vermarkten zu wollen. Eine solche Politik ist das genaue Gegenteil, denn | |
| sie wird den Kirchen langfristig schaden.“ | |
| Der religionspolitische Sprecher der SPD, Lars Castellucci, sagte nach | |
| Söders Rom-Besuch: Er prophezeie, dass diejenigen, die sich gegen eine | |
| Ablösung stellten, irgendwann zusähen, wie die Zahlungen an die Kirchen | |
| gekürzt und eingestellt würden. „Und vielleicht ist das sogar die heimliche | |
| Intention aufseiten der Länder?“ | |
| Ob sie damit rechnen, dass es noch in der laufenden Legislaturperiode zu | |
| einem Grundsätzegesetz kommt, wollen die zuständigen | |
| Ampelvertreter:innen nicht sagen. Dem Widerstand der Länder zum Trotz | |
| könnten die Ampel-Fraktionen im Bundestag ein solches Gesetz beschließen. | |
| Während Bund und Länder sich streiten, fordert die AfD, den Kirchen | |
| Steuervergünstigungen zu streichen, wenn sie weiterhin am Kirchenasyl und | |
| an der Unterstützung der Seenotrettung festhalten. Die Staatsleistungen | |
| will sie ab 2027 ersatzlos streichen, was besonders die Kirchen in | |
| Ostdeutschland hart treffen würde. Dieses Vorgehen wäre verfassungswidrig, | |
| doch nicht der einzige Punkt, in dem die Partei die menschenfreundlichen | |
| Ideen von Herrenchiemsee ignoriert. | |
| 23 May 2024 | |
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| [1] /75-Jahre-Grundgesetz/!6008821 | |
| [2] /Staatsleistungen-an-Kirchen/!5832035 | |
| [3] /75-Jahre-Grundgesetz/!6008780 | |
| [4] /Initiative-gegen-Staatskirchenleistungen/!5726542 | |
| ## AUTOREN | |
| Stefan Hunglinger | |
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