# taz.de -- Deutschland, Israel und der Gaza-Krieg: „Es ist ein Ersatznationa… | |
> Daniel Marwecki erforscht die Geschichte der deutsch-israelischen | |
> Beziehungen. Der Politologe sagt: Die Deutschen schotten sich von der | |
> Realität ab. | |
Bild: Abgekühltes Verhältnis: Außenministerin Annalena Baerbock mit Israels … | |
wochentaz: Herr Marwecki, Deutschland hat auf die Haftbefehle, die der | |
Chefankläger des [1][Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) gegen | |
Israels Premier] und Verteidigungsminister beantragt hat, verhalten | |
reagiert. Wie bewerten Sie das? | |
Daniel Marwecki: Ich halte es für wichtig, dass das Auswärtige Amt die | |
Rechtmäßigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs nicht in Zweifel | |
gezogen hat. | |
Warum? | |
Kriegsverbrechen sind nun einmal Kriegsverbrechen. Das Auswärtige Amt hat | |
lange versucht, den Widerspruch zwischen der deutschen Staatsräson im Sinne | |
einer fast bedingungslosen Unterstützung Israels und dem Völkerrecht zu | |
überbrücken. Aber wer diesen Krieg beenden und Kriegsverbrechen geahndet | |
sehen will, sollte die Entscheidung begrüßen. Und ich denke, dass viele in | |
Washington und Berlin froh wären, Netanjahu nicht mehr an der Macht zu | |
sehen. | |
Israels Botschafter in Deutschland, Ron Prosor, hat nach der | |
IStGH-Entscheidung gesagt, [2][die deutsche Staatsräson werde nun | |
getestet]. Wie sehen Sie das? | |
Da hat er nicht unrecht. Die Staatsräson kollidiert eben mit dem | |
Völkerrecht, da muss man sich entscheiden. Angesichts der deutschen | |
Rechtslage müsste man die Waffenlieferungen an Israel an Bedingungen | |
knüpfen, wenn nicht gleich ganz einstellen. Zwei aktuelle Klagen fordern | |
genau das. Das ist aber unwahrscheinlich, denn Deutschland teilt mit Israel | |
das Kriegsziel, die Hamas zu zerschlagen. Das scheint nur nicht zu | |
funktionieren, wie viele Experten vorhergesagt haben. | |
Sie haben ein Buch über die Geschichte der deutsch-israelischen Beziehungen | |
geschrieben. Welche Rolle spielte am Anfang die Moral? | |
Anfangs waren die Beziehungen funktional: Deutschland brauchte nach dem | |
Zweiten Weltkrieg einen Persilschein. Und Israel brauchte die Unterstützung | |
der Bundesrepublik, um seinen Staat aufzubauen. Israel war ein von Importen | |
abhängiger Agrarstaat, musste Überlebende aus den Konzentrationslagern | |
und Flüchtlinge aus arabischen Staaten versorgen. Westdeutschland half, die | |
Wirtschaft zu industrialisieren, und leistete später Militärhilfe. | |
Ein Meilenstein war das Luxemburger Abkommen von 1952, mit dem sich die | |
Bundesrepublik zu Reparationen verpflichtete. Bundeskanzler Konrad Adenauer | |
sah das als „Wiedergutmachung“, begründete es aber auch mit dem | |
antisemitischen Motiv von der [3][„Macht der Juden“], die man nicht | |
unterschätzen solle. Wie sah man das in Israel? | |
Für Israels ersten Staatschef Ben Gurion ging es nicht um Vergebung, Buße | |
oder Sühne, das war völlig klar. Für ihn ging es darum, Fabriken aufzubauen | |
und Maschinen zu besorgen. | |
Für Israel muss es schwer gewesen sein, mit diesem Deutschland zu tun zu | |
haben. | |
Ben Gurion musste sich in seinem Land starker Kritik erwehren, von links | |
und von rechts. Das deutsche „Blutgeld“ wollten viele nicht annehmen. | |
Wie sahen das die Menschen in Westdeutschland? | |
Es gab einige, die aus moralischen Gründen für die Zahlungen an Israel | |
waren. Andere fanden, dass man gar nichts zahlen müsse. Adenauer war der | |
Ansicht, man müsse etwas zahlen, um den deutschen Namen wieder | |
reinzuwaschen. Im Bundestag konnte er das Abkommen nur mit den Stimmen der | |
SPD und gegen große Teile seiner eigenen Regierung durchsetzen. | |
War damit eine Anerkennung deutscher Schuld verbunden? | |
Nein, dahinter stand eher das Bestreben, deutsche Unschuld zu beweisen. | |
Während man Reparationen zahlte, integrierte man viele Altnazis in die | |
Bundesrepublik. Es fand kaum Aufarbeitung statt, man wollte einen | |
Schlussstrich. | |
Sie schreiben, dass die westdeutsche Starthilfe für Israel deutlich | |
wichtiger war als bekannt ist. | |
In Zahlen kann man das schwer beziffern, aber es hat einen großen | |
Unterschied gemacht. Den Schritt vom Agrarstaat zu einer Industrienation | |
hätte Israel ohne deutsche Hilfe in dieser Form nicht machen können. Dazu | |
zählen kriegswichtige Waffenlieferungen und großzügige Finanzhilfe. Zählt | |
man die industrielle, militärische und finanzielle Unterstützung zusammen, | |
kommt man zum Ergebnis, dass ausgerechnet die Bundesrepublik in der | |
Anfangszeit des jüdischen Staats dessen wichtigster Partner war – noch vor | |
den USA, die diese Rolle erst nach 1967 übernahmen. Die Bundesrepublik nahm | |
dann auf dem Beifahrersitz Platz. | |
Kann man die westdeutschen Hilfszahlungen dieser Jahre denn beziffern? | |
Ein Wirtschaftshistoriker hat nachgerechnet, dass die Reparationszahlungen | |
Deutschland in den ersten Jahren weniger als 0,2 Prozent seines | |
Bruttosozialprodukts gekostet haben. Das ist sehr wenig, und für die | |
deutsche Industrie war es ein Konjunkturprogramm. Schon rein wirtschaftlich | |
hat sich das also gelohnt, und dass Deutschland wieder Waffen herstellen | |
durfte, war auch im Sinne von Konrad Adenauer oder Franz-Josef Strauß. | |
Diplomatische Beziehungen haben die Bundesrepublik und Israel erst im Jahr | |
1965 aufgenommen. Warum so spät? | |
Israel war schon früher dazu bereit. Aber die Bundesrepublik fürchtete, die | |
arabischen Staaten damit in die Arme der DDR zu treiben. Sie wollte nicht, | |
dass diese im Gegenzug die DDR diplomatisch anerkennen würden. Das war die | |
sogenannte Hallstein-Doktrin, bei der es darum ging, den westdeutschen | |
Alleinvertretungsanspruch aufrechtzuerhalten. Israel durfte dafür | |
Militärhilfe erwarten. Das war wichtiger als diplomatische Beziehungen. | |
Wie reagierten die arabischen Staaten darauf? | |
Die Waffenlieferungen wurden geheim gehalten, denn die arabischen Staaten | |
hatten schon gegen das Abkommen von 1952 protestiert. Ihre Haltung war: | |
Deutschland kann Entschädigungen für seinen Völkermord zahlen – aber nicht | |
an einen Staat, der auf arabischem Boden und auf Kosten der lokalen | |
Bevölkerung gegründet worden war. Deutschland hingegen argumentierte: Wir | |
unterstützen Israel aufgrund des Holocausts, aus dem Konflikt halten wir | |
uns raus. Auf diese Argumentation stützen sich beide Seiten im Grunde bis | |
heute. | |
Ist das denn so falsch? | |
Man blendet die Konsequenzen aus. Bis 1967 war Westdeutschland Israels | |
wichtigster Verbündeter. Der Sieg im Sechstagekrieg wäre ohne deutsche | |
Hilfe in dieser Form wohl nicht möglich gewesen. Dieser Krieg führte zur | |
Besetzung Ostjerusalems, des Westjordanlands, der Golanhöhen und Gazas. Wie | |
auch immer man das bewertet – die Bundesrepublik spielt in diesem Konflikt | |
eine größere Rolle, als im Allgemeinen angenommen wird. | |
Israels Botschafter in Deutschland bedankte sich 1967 für die deutschen | |
Panzer, mit denen Ägypten im Sinai geschlagen wurde. | |
Genau. Die Folgen dieses Krieges sind eine Kehrseite der Geschichte, für | |
die Deutschland eine Mitverantwortung trägt. | |
Trägt Deutschland deshalb eine besondere Verantwortung für die | |
Palästinenser? | |
Ja. Bis heute ist Deutschland materiell am Konflikt beteiligt. Es nimmt | |
diese Verantwortung aber nur begrenzt wahr. | |
Deutschland bekennt sich zur Zweistaatenlösung und zahlt humanitäre Hilfe. | |
Reicht das nicht? | |
Wenn man einer Seite Waffen gibt und der anderen Brot, hält man den | |
Konflikt eher am Leben. Auch die Bundesrepublik hat es verpasst, die | |
friedensbereiten Kräfte auf beiden Seiten zu fördern. Im Ergebnis haben wir | |
es jetzt mit einem wahrhaft existenziellen Krieg zu tun, in den die | |
Bundesrepublik verstrickt ist. | |
Wie hat sich die deutsche Haltung zu Israel seit dem 7. Oktober verändert? | |
Sie hat sich radikalisiert. Nach dem 7. Oktober sagte Netanjahu, die Hamas | |
seien die Nazis von heute, als Olaf Scholz in Jerusalem neben ihm stand. | |
Die Implikation war klar: Deutschland könne sich auf die richtige Seite der | |
Geschichte stellen, indem es den jüdischen Staat gegen die „neuen Nazis“ | |
unterstützt. Dieses Entlastungsangebot wird in Deutschland von vielen gern | |
angenommen. Deswegen die Vergleiche mit der eigenen Geschichte. Der | |
antisemitische Vernichtungswille der neuen Nazis muss gebrochen werden | |
durch ein Dauerbombardement, Gaza ist in dieser Logik Dresden 1945. | |
Eine Projektion? | |
Anders als Nazideutschland ist die Hamas keine Großmacht, sondern eine von | |
vielen bewaffneten Gruppen im Nahen Osten. Aber je mehr Zivilisten sterben, | |
desto größer die Radikalisierung – das weiß man aus den Kriegen in | |
Afghanistan und Irak. In der Betrachtung des Konflikts scheint aber auch | |
ein tiefgreifender Rassismus zu wirken. Palästinensische Leben werden von | |
Teilen der deutschen Öffentlichkeit offensichtlich als weniger wert | |
betrachtet. | |
Was meinte Angela Merkel, als sie 2008 von Staatsräson sprach? | |
Merkel hielt ihre Rede mit Blick auf den Iran. Sie wusste, dass die | |
Palästinenser Israel schaden, aber nicht in seiner Existenz gefährden | |
können – der Iran schon, wenn er über Atomwaffen verfügt. Darum liefert | |
Deutschland Israel U-Boote, die nuklear bewaffnet werden können und eine | |
Zweitschlagsfähigkeit gegen den Iran garantieren. So ergibt ihr Wort von | |
der Staatsräson für mich einen Sinn und für sie wohl damals auch. | |
Merkel hielt ihre Rede vor dem 7. Oktober. Würde sie heute genauso handeln | |
wie Scholz und Baerbock? | |
Gute Frage. Heute wird die Staatsräson auf Gaza bezogen, und weil hinter | |
der Hamas der Iran gesehen wird, blendet man die lokale Konfliktdynamik | |
aus. Hinzu kommt ein Diskurs, der seit dem war on terror Einzug gehalten | |
hat. Viele betrachten den Konflikt durch die Brille eines | |
Zivilisationskampfes von Gut gegen Böse. | |
Nicht nur in Deutschland, oder? | |
Hier kommt noch ein vergangenheitspolitischer Aspekt hinzu. Unter | |
Staatsräson versteht man gemeinhin das, was ein Staat tut, um sich selbst | |
zu erhalten. Die Sicherheit eines anderen Staates zu seiner eigenen zu | |
machen bedeutet, sich mit diesem Staat zu identifizieren. Am Anfang meines | |
Buches zitiere ich eine Bundestagsdebatte aus dem Jahr 2018 anlässlich des | |
70. Jahrestags der israelischen Staatsgründung, in der sich deutsche | |
Politiker in Solidaritätsbekundungen überbieten. Katrin Göring-Eckardt von | |
den Grünen verdichtete das bundesrepublikanische Selbstverständnis, als sie | |
sagte: „Das Existenzrecht Israels ist unser eigenes.“ Das zeigt, wie | |
identitätspolitisch die deutsche Israelpolitik geworden ist. | |
Deutschland identifiziert sich mit Israel? | |
Es ist ein Ersatznationalismus. Er führt auch dazu, dass sich viele in | |
Deutschland nicht vorstellen können, dass Israel in Gaza Kriegsverbrechen | |
begeht. Denn das würde am deutschen Selbstbild kratzen, weil wir daran | |
beteiligt wären. Letztlich schottet sich der deutsche Diskurs damit von der | |
Realität ab. | |
Ist es nicht ein Fortschritt, dass Deutschland heute aus moralischen statt | |
aus eigennützigen Gründen zu Israel hält? | |
Falls das so ist, ist das eine extrem einseitige Moral, die Menschenleben | |
unterschiedlich bewertet. Dabei übersieht man auch, dass die Welt sich | |
gedreht hat. Mit seiner Haltung gegenüber Israel erhoffte man sich einst, | |
in den Augen der westlichen Welt rehabilitiert zu werden. Heute ist die | |
Welt weniger westlich – und blickt ganz anders auf den Konflikt, als wir es | |
tun. Folglich leidet der deutsche Ruf – das ist eine Ironie der Geschichte. | |
Die meisten Länder haben Palästina als Staat anerkannt. [4][Norwegen, | |
Irland und Spanien haben das jetzt angekündigt]. Könnte Deutschland folgen? | |
Ich würde wetten: Nein. Und selbst wenn, wäre es Schaufensterpolitik, weil | |
ein solcher Staat über kein unabhängiges Staatsgebiet verfügt. Dennoch | |
bleibt für mich die Zweistaatenlösung, so unwahrscheinlich sie scheinen | |
mag, der einzig gangbare Weg. Die Alternativen sind entweder noch | |
unrealistischer – oder sie führen noch tiefer in die Katastrophe. | |
25 May 2024 | |
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[1] /Israel-und-der-IStGH/!6009135 | |
[2] https://www.juedische-allgemeine.de/politik/israels-botschafter-erinnert-de… | |
[3] https://www.deutschlandfunkkultur.de/diplomatische-beziehungen-deutschland-… | |
[4] /Vorstoss-von-europaeischen-Laendern/!6009834 | |
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