# taz.de -- Historiker Traverso über den 7. Oktober: „Ich bin von Deutschlan… | |
> Das Massaker der Hamas am 7. Oktober als Pogrom zu bezeichnen, ist | |
> falsch, meint der Historiker Enzo Traverso. Ein Gespräch über Krieg und | |
> Erinnerung. | |
Bild: Das Holocaustmahnmal steht an einem zentralen Ort in Berlin. Auch deshalb… | |
taz: Herr Traverso, Sie haben als Historiker viele Bücher über Auschwitz | |
und die Aufarbeitung der NS-Geschichte geschrieben. Nun sagen Sie, die | |
Erinnerung an die Schoah werde missbraucht. Was meinen Sie damit? | |
Enzo Traverso: Die Art und Weise, wie die [1][Ereignisse des 7. Oktober] | |
dargestellt wurden und werden, bereitet mir Unbehagen. Der Angriff der | |
Hamas wurde als größtes Pogrom gegen Juden seit der Schoah bezeichnet, und | |
damit wurde das israelische Vorgehen in Gaza gerechtfertigt. Dieses Framing | |
wurde von vielen westlichen Regierungschefs und Staatsoberhäuptern | |
aufgenommen und praktisch Allgemeingut. | |
taz: Was ist falsch daran? | |
Traverso: [2][Ein Pogrom richtet sich gegen eine unterdrückte Minderheit], | |
die praktisch keine Möglichkeit hat, sich dagegen zu wehren. Sind das die | |
Israelis von heute? Nein. Außerdem wird damit eine direkte Verbindung vom | |
7. Oktober zum Holocaust gezogen. | |
taz: Sehen Sie am 7. Oktober keinen Antisemitismus am Werk? | |
Traverso: Durchaus. Aber er ist in erster Linie ein Ergebnis der Besatzung. | |
Ich bin überzeugt, dass sich der Hass der meisten Menschen in Palästina | |
gegen Israelis richtet, weil sie Bürger jenes Landes sind, das sie | |
unterdrückt. Nicht, weil sie Juden sind. | |
taz: In Deutschland bezweifeln das manche. | |
Traverso: Ich habe die deutsche Erinnerungspolitik lange sehr bewundert. | |
Ich bin schließlich Bürger eines Landes, das sich nie wirklich mit seiner | |
Vergangenheit auseinandergesetzt hat. Es gibt in ganz Italien kein einziges | |
Denkmal zur Erinnerung an die Gewalt des Faschismus – schon gar nicht zur | |
Erinnerung an das Massaker von Zeret in Äthiopien von 1935, das nach | |
heutigen Maßstäben wohl als Völkermord anzusehen wäre, oder an die | |
italienischen Konzentrationslager in Libyen. | |
taz: Stattdessen steht in Rom vor dem viel besuchten Olympiastadion immer | |
noch ein Obelisk, der „Mussolini Dux“ feiert … | |
Traverso: Genau. Wenn ich in Berlin bin, steht am vielleicht zentralsten | |
Ort der Stadt ein [3][Holocaustmahnmal]. Für viele Menschen war Deutschland | |
deshalb ein Vorbild für Erinnerungspolitik – ein Land, dem es gelungen war, | |
die schrecklichsten Seiten seiner Geschichte zu integrieren. Aber jetzt bin | |
ich sehr enttäuscht. | |
taz: Warum? | |
Traverso: Ich weiß, dass viele in Deutschland die Dinge so sehen wie ich – | |
auch jüdische Deutsche und Israelis, die in Deutschland leben. Dennoch gibt | |
es keine öffentliche Debatte über das, was gerade in Gaza passiert. Selbst | |
die deutsche Presse, die ich, soweit ich sie verfolgen kann, sehr schätze, | |
führt sie nur sehr eingeschränkt. Ich würde mir eine öffentliche Debatte | |
wünschen, die der realen Vielfalt der deutschen Gesellschaft entspricht. | |
Und ich sehe, wie diese gewaltige Arbeit der Erinnerung an die Schoah – die | |
auch eine Arbeit im Dienste der Demokratie war – in ihr Gegenteil verkehrt | |
wird. Sie wird dazu benutzt, um Ungleichheit, Unterdrückung und | |
Kolonialismus zu legitimieren. Nicht nur bei Ihnen in Deutschland. Aber in | |
Deutschland ist das eklatant. | |
taz: Was meinen Sie mit Kolonialismus? | |
Traverso: Der Zionismus hat eine widersprüchliche Geschichte. Er entstand | |
in Mitteleuropa und wurde in deutscher Sprache formuliert. Einerseits war | |
er eine jüdische Version der europäischen Nationalismen jener Zeit. Die | |
angebliche Überlegenheit Europas über Afrika und Asien war fester | |
Bestandteil dieses Denkens. Der Zionismus war ein Kind dieser europäischen | |
Kultur. Andererseits war es der Nationalismus einer unterdrückten | |
Minderheit und insofern eine nationale Befreiungsbewegung. | |
taz: Und heute? | |
Traverso: Der Zionismus, der überlebt hat, ist ein kolonialer | |
Nationalismus. Er schließt alle, die nicht jüdisch sind, aus. Denn | |
vollwertiger israelischer Staatsbürger zu sein ist ans Jüdischsein gebunden | |
– das gilt immer noch, auch wenn viele Israels nicht gläubig sind und | |
erhebliche Probleme mit ihren orthodoxen Landsleuten haben. In Israel leben | |
die schlimmsten Seiten dessen fort, was der Nationalismus in Europa | |
hervorgebracht hat. | |
taz: Die Solidarität mit Israel ist Teil der deutschen Staatsräson. Was | |
soll falsch daran sein? | |
Traverso: Diese Staatsräson essentialisiert Israel, indem sie eine Art | |
ontologische Unschuld und damit eine grundsätzlich wohltätige Natur | |
postuliert. Damit wird der Antisemitismus, der Juden als ein bösartiges | |
Wesen stigmatisiert, nur in sein Gegenteil verkehrt. Dieser Essentialismus | |
ist absurd: Juden sollten, wie alle Menschen, für das, was sie tun, | |
beurteilt, bewundert, kritisiert oder verurteilt werden. Nicht für das, was | |
sie sind. | |
taz: Das hat Merkel mit dem Begriff sicher auch nicht gemeint. | |
Traverso: Ich unterstelle der früheren Kanzlerin Merkel wie auch Kanzler | |
Scholz, der ihre Formel wiederholt hat, keine böse Absicht. Aber | |
unabsichtlich macht dieser Begriff klar, dass wir damit eine Schattenzone | |
der Demokratie betreten. Staatsräson bedeutet: Es gibt nationale | |
Interessen, die über der Demokratie und über den Gesetzen stehen, die für | |
alle Bürger gelten. Die bedingungslose Unterstützung Israels als | |
Staatsräson bedeutet: Israel darf machen, was es will. Das steht in | |
absolutem Widerspruch zu der Kultur, die aus der historischen Erinnerung an | |
die Verbrechen des Nationalsozialismus hervorgegangen ist: eine Demokratie | |
zu schaffen, die offen und pluralistisch ist. Damit einen weiteren Genozid | |
zu rechtfertigen, ist brandgefährlich – erst recht in einer Situation, in | |
der Europas Rechte immer größere Erfolge feiert. | |
taz: Sie sprechen von Genozid? | |
Traverso: Als Historiker bin ich sehr vorsichtig mit dem Begriff, er wird | |
oft missbraucht. Aber die UN-Konvention von 1948 sagt sehr genau, was ein | |
Genozid ist. Und das entspricht dem, was heute in Gaza passiert. Gaza wird | |
in einer Weise zerstört, die den Palästinensern ihre Lebensbedingungen | |
raubt. Die Infrastruktur ist zerstört, Krankenhäuser werden zerbombt, | |
während wieder Krankheiten wie Polio ausbrechen. Die Menschen hungern, aber | |
die Lastwagen mit Hilfsgütern wie Medikamenten und Nahrung werden | |
blockiert. Zum Genozid gehört auch die Zerstörung der Elite einer | |
Gesellschaft. In Gaza wurden fast 200 Journalist:innen getötet. Das | |
alles lässt sich nicht rechtfertigen – auch nicht damit, dass man die Hamas | |
zerschlagen müsse. | |
taz: Muss man deshalb von einem Genozid sprechen? | |
Traverso: Ich finde es uneingeschränkt legitim, dieses Wort zu benutzen. | |
Und ich stehe damit keineswegs allein: Raz Segal, der Professor für | |
Holocaust- und Genozidstudien an der Stockton University ist, nennt Gaza | |
„einen Genozid wie aus dem Lehrbuch“. Omer Bartov, einer der | |
renommiertesten Forscher auf demselben Feld, teilt diese Ansicht. Und es | |
hat politische Folgen, dieses Wort zu benutzen: Einen Genozid muss man | |
nämlich stoppen. | |
taz: Die Väter und Mütter der UN-Konvention hatten den Holocaust vor Augen, | |
als sie kurz nach dem Ende der NS-Herrschaft ihre Definition eines Genozids | |
festlegten. Manche finden deshalb, der Holocaust werde relativiert, wenn | |
man Israel einen Genozid vorwirft … | |
Traverso: Wir haben uns in der öffentlichen Wahrnehmung angewöhnt, Genozid | |
und Holocaust gleichzusetzen. Ja, der Holocaust gilt als Paradebeispiel für | |
einen Völkermord und als Musterfall, um andere Genozide zu verstehen. Aber | |
der Holocaust war nicht der einzige Genozid. Die Geschichte ist leider von | |
Genoziden durchzogen, auch wenn nicht alle die gleiche Dimension hatten. | |
Der deutsche Völkermord an den Herero und Nama 1900 bis 1904 kostete 80.000 | |
Menschen das Leben. Das ist eine andere Dimension als die Vernichtung von 6 | |
Millionen jüdischen Menschen in Europa. Aber es war ein Genozid. | |
taz: Netanjahu und andere israelische Politiker begründen ihre Politik | |
häufig mit dem Holocaust: So etwas werde man nie wieder zulassen. Ist das | |
nicht verständlich? | |
Traverso: Mit der Erinnerung an den Holocaust wird heute leider auch die | |
Unterdrückung der Palästinenser gerechtfertigt. Im Westjordanland herrscht | |
ein System der Apartheid, das ist eine Tatsache, das haben die UN oder | |
[4][Amnesty] hinreichend dokumentiert. Aber diese Apartheid wird | |
gerechtfertigt mit dem, was Juden in der Geschichte widerfahren ist. Diese | |
Art der Erinnerung, die alles, was Israel tut, mit der Schoah rechtfertigt, | |
hat aus meiner Sicht eine schreckliche Folge: Sie wertet die Schoah ab. Sie | |
trägt zum Antisemitismus bei, nicht zuletzt in der arabischen Welt. Und sie | |
ist Wasser auf die Mühlen all derer, die die Vernichtung der Juden ganz | |
leugnen und zur reinen Erfindung erklären. | |
taz: Wie wird die Region, wie werden Israel und Palästina aus diesem Krieg | |
hervorgehen? | |
Traverso: Auf mittlere Sicht bin ich sehr pessimistisch, ich sehe keine | |
Hoffnung. Keiner der Akteure in diesem Konflikt hat eine Strategie: Nur die | |
extreme Rechte in Israel hat eine: Sie will alle Palästinenser vertreiben | |
und Gaza wieder besiedeln, also kolonisieren. Aber das wird schwierig, und | |
sie werden auch nicht zwei Millionen Menschen umbringen können. Die USA | |
haben keine Strategie, und die Palästinenser werden zum Terrorismus | |
zurückkehren. Ich sehe nur noch mehr Zerstörung und Gewalt. | |
taz: Und langfristig? | |
Traverso: Langfristig muss es eine Lösung geben. Ich sehe keine andere, als | |
dass sich alle Beteiligten klar werden, dass dieses Stück Erde von zwei | |
Völkern bewohnt wird. Beide haben das Recht dazu und müssen folglich | |
lernen, zusammenzuleben. Sich im 21. Jahrhundert als homogene Gesellschaft | |
zu definieren und nach außen abzuschließen, ist eine Verirrung. Das ist | |
eine existenzielle Gefahr für Israel, seine größte. Wo es keinen | |
Pluralismus gibt, bleibt nur Autoritarismus übrig. Warum wohl ist Giorgia | |
Meloni von Israel so begeistert? | |
taz: Warum? | |
Traverso: Sie sieht in Israel verwirklicht, was sie sich für Italien ebenso | |
wünscht: einen exklusiv christlich-ethnischen Staat. Aber das ist absolut | |
rückschrittlich. Schlimmer, es ist selbstmörderisch. Auch aus Italien wird | |
langfristig ein Apartheidstaat werden, wenn es sein | |
Staatsbürgerschaftsrecht nicht ändert. | |
27 Dec 2024 | |
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## AUTOREN | |
Andrea Dernbach | |
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