# taz.de -- Schutzraum geräumt: Niedersachsen sägt am Kirchenasyl | |
> Die Abschiebung einer Familie aus dem Kirchenasyl in Bienenbüttel sorgt | |
> weiter für Wirbel. Helfer befürchten ein Ende dieser Art von Schutzraum. | |
Bild: Helfer befürchten, dass der Schutzraum Kirchenasyl ausgehöhlt wird | |
HANNOVER taz | Die Abschiebung einer russischen Familie aus einem | |
niedersächsischen Kirchenasyl schlägt Wellen. Helfer befürchten, dass sie | |
dazu beiträgt, die Duldung dieser besonderen Zuflucht auszuhöhlen. | |
In der Nacht von Sonntag auf Montag hatte die Polizei eine russische | |
Familie aus einer kleinen Einliegerwohnung im Gemeindehaus der | |
St-Michaelis-Gemeinde in Bienenbüttel geholt. | |
Vater und Sohn, beide Kriegsdienstverweigerer, die psychisch schwer kranke | |
Mutter und die 16-jährige Tochter [1][wurden in ein Flugzeug nach Barcelona | |
gesetzt]. Am Dienstag machten Gemeinde, Kirchenkreis und Flüchtlingsrat den | |
Fall bekannt. | |
Auf der politischen Ebene äußerten sich vor allem die Grünen entsetzt | |
darüber, dass Niedersachsens Innenministerin Daniela Behrens (SPD) hier | |
eine Form der Amtshilfe leistet, die in den vergangenen zwanzig Jahren | |
eigentlich tabu war. | |
Als „fatales Signal“ bezeichnete Djenabou Diallo-Hartmann von den Grünen | |
diesen Bruch. Immerhin habe das Kirchenasyl als Akt der Humanität eine | |
lange Tradition. | |
## Kirchenasyl war immer eine fragile Konstruktion | |
Rechtlich betrachtet stand die allerdings schon immer auf wackligen Beinen. | |
„Dass Kirchenasyle nicht geräumt werden, war immer eine politische | |
Entscheidung, keine juristische“, räumt Dieter Müller von der ökumenischen | |
Bundesarbeitsgemeinschaft „Asyl in der Kirche“ ein. | |
Nach einer aufsehenerregenden Räumung in Augsburg 2014 hatten die Kirchen | |
2015 mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) ein Verfahren | |
vereinbart, mit dem Härtefälle noch einmal einer genauen Prüfung unterzogen | |
werden sollten – und dafür in den Kirchenräumen keinen Zwangsmaßnahmen mehr | |
ausgesetzt wurden. | |
Zu dieser Übereinkunft bekannten sich auch die meisten Innenminister der | |
Länder – egal welcher Partei: als Zeichen des Respektes für die Kirchen als | |
moralische Instanz. | |
Dieser Konsens scheint allerdings aufzuweichen. Sieben angedrohte, | |
versuchte oder erfolgreiche Räumungen von Kirchenasylen in verschiedenen | |
Bundesländern zählt Müller von der Bundesarbeitsgemeinschaft seit dem | |
vergangenen Sommer. | |
## Länder und Bamf schieben sich Verantwortung zu | |
Im aktuellen Fall argumentiert Niedersachsens Innenministerium ähnlich | |
[2][wie schon Aminata Touré in Schleswig-Holstein im Januar dieses Jahres]. | |
Da heißt es in erster Linie, man leiste ja nur Amtshilfe. Die Entscheidung | |
liege beim Bamf. Das sagt allerdings, eine Überstellung auch aus | |
kirchlichen Räumen sei grundsätzlich Entscheidung der für den Vollzug | |
zuständigen Behörde. | |
Im Übrigen interpretieren die Ministerinnen das Abkommen so, dass der | |
besondere Schutz des Kirchenasyls nur so lange gelte, bis das Bamf seine | |
Härtefall-Prüfung abgeschlossen habe. Wenn aus Sicht des Bamf kein | |
Härtefall vorliege, habe die Kirchengemeinde ihre Schützlinge binnen drei | |
Tagen aus dem Kirchenasyl zu entlassen. | |
Das, sagt Müller, entspreche aber nicht der Praxis. Tatsächlich würden die | |
eingereichten Härtefall-Dossiers in 99 Prozent der Fälle nicht anerkannt. | |
Das Kirchenasyl sei aber trotzdem immer respektiert worden. | |
Auch im vorliegenden Fall habe das Bamf die ärztlichen Gutachten, die der | |
Frau eine Gefahr für Leib und Leben durch eine Abschiebung bescheinigten, | |
nicht berücksichtigt, sagt der Bienenbüttler Pastor Tobias Heyden. | |
Auf den Protest der Gemeinde, die auch auf die guten Integrationsaussichten | |
und die familiären Verbindungen der Familie in Deutschland verwies, habe | |
man nicht reagiert. Stattdessen habe die Polizei vor der Tür gestanden – | |
eine Woche bevor der Rückführungszeitraum abgelaufen wäre und das | |
Asylbegehren in deutsche Zuständigkeit gewandert wäre. | |
## Wachsende Zahlen von Kirchenasyl | |
Wenn sich diese Haltung durchsetzte, sagt Müller, gäbe es bald kein | |
Kirchenasyl mehr. Dabei, sagt Sven Quittkat, der in der Dachstiftung | |
Diakonie das Netzwerk Kirchenasyl in Bremen und Niedersachsen koordiniert, | |
[3][würden sich die Kirchengemeinden die Entscheidung für ein Kirchenasyl] | |
nie leicht machen. Immerhin müsse man ja in der Lage sein, diese Menschen | |
sechs Monate lang zu versorgen. | |
Die Fälle würde sorgfältig geprüft, das Kirchenasyl sei immer nur Ultima | |
Ratio, ein humanitärer Sonderweg, um das Bamf zu zwingen, noch einmal genau | |
hinzuschauen. | |
Die besonderen Härten lägen manchmal im individuellen Schicksal, deuteten | |
oft aber auf ein systemisches Problem – vor allem dort, wo es um die | |
Rückführung in Staaten gehe, wo illegale Pushbacks, Gewalt und | |
Unterversorgung an der Tagesordnung seien. | |
Aus einer Pressemitteilung des niedersächsischen Innenministeriums lässt | |
sich erahnen, warum die Zügel beim Kirchenasyl deutlich angezogen werden: | |
Die Zahl der Fälle im Kirchenasyl sei von 15 in 2022 auf 80 Fälle in 2023 | |
zuletzt deutlich angestiegen. | |
In einem Treffen mit Kirchenvertretern und der Landesaufnahmebehörde wolle | |
man deshalb am 28. Mai über das gemeinsame Verständnis von Härtefällen und | |
den Umgang mit dem Kirchenasyl sprechen. | |
16 May 2024 | |
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## AUTOREN | |
Nadine Conti | |
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Aminata Touré | |
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