# taz.de -- Chancengerechtigkeit in Deutschland: Wo Berlin mal Spitze ist | |
> Eine Bildungsstudie zeigt, wie weit die Bundesländer bei der | |
> Chancengerechtigkeit auseinanderliegen. Die GEW fordert längeres | |
> gemeinsames Lernen. | |
Bild: Gleiche Lese- und Lebenschancen für alle? | |
BERLIN taz | Verkehrte Welt. Normalerweise belegt Bayern bei | |
Bildungsstudien immer einen der vorderen Ränge und Berlin findet sich unter | |
den Schlusslichtern wieder. Bei der am Montag vorgestellten Untersuchung | |
des Münchner ifo-Instituts jedoch landet die Hauptstadt auf dem ersten und | |
Bayern auf dem letzten Platz. | |
Das liegt daran, dass nicht etwa die Leistungsfähigkeit der | |
Schüler:innen gemessen wurde – sondern deren Chancen, es auf ein | |
Gymnasium zu schaffen. Für Kinder aus sozial benachteiligten Familien sind | |
diese vor allem in Sachsen und Bayern ungleich niedriger. | |
Dass die soziale Herkunft der Eltern in Deutschland für die Bildungschancen | |
der Kinder zentral ist, hat zuletzt [1][unter anderem die Pisa-Studie] | |
angemahnt. Die nun vorliegende ifo-Studie zeigt, wie weit die einzelnen | |
Länder bei dem Versuch sind, mehr Bildungsgerechtigkeit herzustellen. | |
Bildungsökonom Ludger Wößmann, Co-Autor der Studie, sagte dazu am Montag: | |
„Die Unterschiede zwischen den Bundesländern sind zum Teil sehr deutlich.“ | |
Ein interessanter Befund sei aus seiner Sicht, dass mögliche „naheliegende | |
Gründe“ für das Abschneiden – die Höhe der Bildungsausgaben pro Bundesla… | |
der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund – keinen messbaren Effekt | |
auf die Verteilung der Chancen hätten. Ein Ergebnis konnte Wößmann aber | |
erklären: Bei den Spitzenreitern Berlin und Brandenburg habe sich die | |
längere gemeinsame Grundschulzeit (sechs statt vier Jahre) positiv auf die | |
Chancengleichheit ausgewirkt. | |
## Chancen halb so hoch | |
Allerdings seien auch diese beiden Länder weit von Chancengleichheit | |
entfernt. So ist die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder aus ungünstigen | |
Verhältnissen in Berlin oder Brandenburg auf das Gymnasium gehen, immer | |
noch nur etwa halb so groß wie für Kinder aus besser gestellten Familien. | |
Ähnlich „gut“ schneiden auch Rheinland-Pfalz und das Saarland ab. | |
Im bundesweiten Schnitt liegt die Wahrscheinlichkeit eines | |
Gymnasiumsbesuchs für benachteiligte Kinder bei 26,7 Prozent – im Vergleich | |
zu knapp 60 Prozent bei den besser gestellten Kindern. Für die | |
Autor:innen sind all jene Kinder benachteiligt, deren Elternteile beide | |
kein Abitur haben und deren Haushaltseinkommen nicht zum oberen Viertel | |
gehört. Insgesamt wertete die Studie die Daten von mehr als 100.000 Kindern | |
aus. | |
Die mangelnde Chancengleichheit hat laut Wößmann gravierende Folgen für die | |
Betroffenen. So verdienten Menschen mit Abitur im Schnitt netto 42 Prozent | |
mehr als diejenigen ohne Hochschulreife. „Das zeigt, wie wichtig es ist, | |
dass die Lebenschancen von Kindern nicht von der sozialen Herkunft | |
abhängen.“ Wößmann forderte mehr gezielte Förderung für benachteiligte | |
Kinder. | |
Als Positivbeispiele nennt die Studie unter anderem [2][Mentoringprogramme | |
für Jugendliche], die verbindliche Sprachförderung für Kita-Kinder in | |
Hamburg oder das Programm Elfe in Rheinland-Pfalz, über das Familien bei | |
der der Suche nach einem Kita-Platz unterstützt werden. Auch das geplante | |
„Startchancen-Programm“ der Ampel, das ab dem kommenden Schuljahr [3][4.000 | |
Brennpunktschulen unterstützen] soll, gehe in die richtige Richtung. | |
## Eindeutige Reaktionen | |
Bildungspolitiker:innen erkennen in der ifo-Studie einen klaren | |
Auftrag: „Wir dürfen und werden so lange nicht zufrieden sein, bis ein Kind | |
aus schwierigen Verhältnissen die gleichen Chancen hat wie ein Kind aus | |
bessergestellten Verhältnissen“, sagte beispielsweise die | |
rheinland-pfälzische Bildungsministerin Stefanie Hubig (SPD) der taz. | |
Sie freue sich aber, dass Rheinland-Pfalz in der Studie auf einem vorderen | |
Platz landet – und verweist unter anderem auf die in ihrem Bundesland | |
beitragsfreie Kita, den Ganztagsausbau oder die gezielte Unterstützung von | |
Schulen in herausfordernden Lagen: „Wenngleich der Besuch eines Gymnasiums | |
nur ein Indikator für Bildungschancen und Bildungserfolg sein kann, so | |
bestärken uns die Ergebnisse dennoch, dass unser Weg in die richtige | |
Richtung geht“, so Hubig. | |
Lehrerverbandschef Stephan Düll fordert die Ministerien auf, ihre | |
Hausaufgaben zu machen. „Die Schulen müssen natürlich Chancengerechtigkeit | |
herstellen“, sagte Düll der taz. Die Ministerien müssten prüfen, warum sie | |
bei der ifo-Studie so schlecht abgeschnitten hätten. Düll stellte aber auch | |
in Frage, ob wirklich alle junge Menschen auf ein Gymnasium gehen und das | |
Abitur machen müssen. | |
Andere Schlüsse zieht die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). | |
Sie spricht sich anlässlich der ifo-Ergebnisse für ein längeres gemeinsames | |
Lernen aus. „Die Chancengleichheit in der Bildung erhöht sich, wenn die | |
Schülerinnen und Schüler mindestens bis zur 10. Klasse zusammen lernen“, | |
sagte GEW-Vorstandsmitglied Anja Bensinger-Stolze am Montag. Das zeige das | |
Beispiel der skandinavischen Staaten. | |
Auch Bildungsökonom Wößmann sieht darin ein probates Mittel. Zwei Drittel | |
der OECD-Länder trennten Schüler:innen frühestens mit 15 Jahren. Deren | |
Erfolge bei der Chancengleichheit seien gut dokumentiert, so Wößmann. „Eine | |
Trennung nach der vierten Klasse gibt es eigentlich nur mehr in Österreich | |
und Deutschland.“ | |
14 May 2024 | |
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## AUTOREN | |
Ralf Pauli | |
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