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# taz.de -- Sozial benachteiligte Jugendliche: Die Studentin an deiner Seite
> Das Mentoringprogramm Rock Your Life! möchte soziale Ungleichheit an
> Schulen abbauen. Dies gelingt mit erstaunlichem Erfolg.
Bild: So gechillt kann Mentoring sein: Studentin Doro (links) und Schülerin Pa…
Berlin taz | So klare Vorstellungen von ihrer Zukunft haben nur wenige
14-Jährige. Panar Kokoy weiß nicht nur, dass sie Kriminalkommissarin werden
möchte. Sie weiß auch, wie sie es anstellen muss, damit aus dem Traum
Wirklichkeit wird.
Zunächst muss sie dieses Jahr ihren mittleren Schulabschluss machen, dann
das Vorbereitungsjahr für die gymnasiale Oberstufe. Wenn sie ihr Abi in der
Tasche hat, kann sie sich für ein duales Studium zur Kriminalkommissarin
bewerben. Nur ob sie beim BKA oder LKA arbeiten will, hat Panar noch nicht
entschieden. „Ich habe aber auch noch ein bisschen Zeit“, sagt sie dazu.
Wenn alles gut läuft, beginnt Panar mit 19 das Studium.
Dass die Berliner Schülerin so gut über die Karrieremöglichkeiten bei der
Polizei Bescheid weiß, liegt auch an Dorothee Münßinger, ihrer Mentorin.
Seit März treffen sich die Studentin und die Schülerin regelmäßig für ein
paar Stunden und reden. Über Panars Zukunft, über ihre Lieblingsromane
(Krimis, was sonst?), über ihren Taekwondo-Unterricht. Und wie es so ist,
zu studieren. Panars Eltern können ihr das nicht erzählen. Meist trifft
sich das Mentoringpaar im weitläufigen Schillerpark im Norden Berlins, auch
an diesem Samstagnachmittag.
Panar, die trotz der Hitze einen schwarzen Anorak trägt, erzählt von ihrem
Urlaub in Bulgarien. Von dem Dorf Yablanovo im Osten des Landes, wo sie bis
zu ihrem siebten Lebensjahr gewohnt hat, ehe ihre Familie nach Berlin zog.
Ihre Mentorin hat eine Picknickdecke dabei – und ihren Laptop. Sie will
Panar helfen, eine förmliche E-Mail zu schreiben. Es geht um einen
Praktikumsplatz bei der Berliner Polizei.
## Mentoring, das hilft
[1][Rock Your Life!] heißt das Programm, das Studierende und
Schüler:innen aus sozial benachteiligten Familien zusammenbringt. Nicht
nur in Berlin, auch in Freiburg, Dresden, Flensburg und Marburg. In 39
deutschen Städten treffen sich regelmäßig Mentoringpaare wie Doro und
Panar, rund 1.000 Jugendliche nehmen aufs Jahr gerechnet an dem Programm
teil. Auch in der Schweiz, den Niederlanden und in Spanien gibt es das
Programm mittlerweile.
Die Beliebtheit von Rock Your Life! ist leicht zu erklären: Es wirkt. Fünf
Jahre lang hat das renommierte Münchner Ifo-Institut für Bildungsökonomik
das Mentoringprogramm wissenschaftlich begleitet. Anfang des Jahres zogen
die Bildungsforscher:innen nun Bilanz: Nach einem Jahr Mentoring
verbessern sich die Schulnoten sowie die sozialen Kompetenzen der
Jugendlichen. Außerdem steigt das, was Ökonom:innen
Arbeitsmarktorientierung nennen. Heißt: Die Jugendlichen beschäftigen sich
stärker mit der Frage, was sie mit ihrem Leben anfangen wollen.
Ob Schüler:innen von ihrer Familie unterstützt werden, ist ein
wesentlicher Faktor für soziale Ungleichheit, sagt Ludger Wößmann, der das
ifo-Zentrum für Bildungsökonomik leitet. „Unsere Studie zeigt, dass
Studierende die fehlende Unterstützung von zu Hause weitgehend ausgleichen
können“, so Wößmann. Er empfiehlt, Mentoringprogramme wie Rock Your Life!
stärker zu fördern – auch im Hinblick auf Jugendliche, die die Pandemie
[2][noch weiter abgehängt] hat.
Bei der Berlinerin Panar Kokoy ist das zwar nicht der Fall – im letzten
Zeugnis hatte sie nur eine vier. Dennoch können sie ihre Eltern wenig
unterstützen. Weil sie nicht fließend Deutsch sprechen. Weil sie beide
Schicht in der Keksfabrik Bahlsen arbeiten. Nach der Schule muss sich Panar
deshalb oft um die jüngeren Geschwister kümmern. Ruhe zum Lernen hat sie
ohnehin kaum. Panar teilt sich das Zimmer mit drei anderen
Familienmitgliedern.
## Eine Frage der Privilegien
„Ich bewundere Panar dafür, dass sie trotz dieser Umstände so gut in der
Schule ist“, sagt Dorothee Münßinger. Die 26-Jährige ist, wie sie sagt,
selbst privilegiert aufgewachsen. Ihre Eltern haben studiert, wussten also,
wie wichtig Lernen und die Wahl der „richtigen“ Schule ist. Bei vielen
Entscheidungen konnten Doros Eltern wertvollen Rat geben.
Heute studiert sie Public Policy an der Humboldt-Universität und hat einen
Nebenjob in einer Organisationsberatung. „Nicht alle haben den Support zu
Hause, den ich hatte“, sagt Doro. Als sie für den Master nach Berlin zog,
hat sie sich deshalb nach einem Mentoringprogramm im Bildungsbereich
umgesehen – und ist auf Rock Your Life! gestoßen.
Dass sich Panar und Doro kennengelernt haben, haben sie Peer Steinbrück
(SPD) zu verdanken. Zu dem Schluss kann man jedenfalls kommen, wenn man
sich länger mit Stefan Schabernak unterhält. Im Jahr 2008 war Steinbrück
Finanzminister – und Schabernak Student der Wirtschaftswissenschaften an
der Zeppelin Universität in Friedrichshafen, einer Privatuni, die Die Zeit
wegen ihrer vielen studentischen Initiativen mal als „ungewöhnlichste
Hochschule“ Deutschlands bezeichnet hat.
Als Steinbrück dort bei einer Podiumsdiskussion Hauptschüler:innen als
mehr oder weniger unrettbar bezeichnete, regte sich bei Schabernak und
seinen Kommiliton:innen Widerstand. Wenn die Bundesregierung ein
Viertel der jungen Menschen abschreibt, obwohl sie doch das staatliche
Schulsystem durchlaufen, läuft was gehörig falsch.
## Jahresbudget: eine Million Euro
Letztlich waren zwölf Zeppelin-Studierende bereit, sich in ihrer Freizeit
um so einen unrettbaren Hauptschüler zu kümmern – die Idee von Rock Your
Life! war geboren. An den Schulen am Bodensee stieß sie schnell auf
Begeisterung. „Wir haben auf Anhieb 80 Schülerinnen und Schüler gefunden,
die sich eine Begleitung wünschten“, erinnert sich Schabernak. Also fragten
die Studierenden rum, wer noch bei dem Mentoring mitmachen wollte. Schnell
waren die 80 Paare zusammen. Das war vor dreizehn Jahren. Heute verwaltet
eine gemeinnützige GmbH über 1 Million Euro Budget und einen Pool aus
Tausenden Ehrenamtlichen und Hunderten Trainer:innen.
Was den ausgebildeten Ökonomen Schabernak besonders freut: Das Münchner
ifo-Institut hat bei der Evaluierung sogar den volkswirtschaftlichen Nutzen
von Rock Your Life! errechnet. Jeder investierte Euro mache sich um den
Faktor 17-31 bezahlt, wenn die Mentees später nicht die Schule abbrechen
oder sogar einen höheren Abschluss packen. Selbst die aktuelle
Integrationsstaatsministerin, Annette Widmann-Mauz (CDU), forderte bereits:
„Solche Programme brauchen wir viel öfter.“
Tatsächlich haben die Schulen die Möglichkeit, [3][im neuen Schuljahr]
verstärkt in solche Programme zu investieren. Von dem milliardenschweren
Corona-Aufholprogramm vom Bund werden auch Angebote gefördert, die „die
Persönlichkeitsentwicklung von jungen Menschen fördern“. Im Berliner
Programm „[4][Stark trotz Corona]“ beispielsweise ist Mentoring sogar
explizit als förderwürdiges Instrument aufgeführt. Auch in anderen
Bundesländern ist die Förderung außerschulischer Angebote vorgesehen.
Werden wir künftig also mehr Mentoringpaare an Schulen sehen?
Ronald Fischer würde es jedenfalls begrüßen. Er ist Schulleiter der Schule
am Schillerpark – die auch die 14-jährige Panar besucht. Nur wenige seiner
Schüler:innen erhielten zu Hause die Unterstützung, die sie eigentlich
bräuchten, erzählt Fischer. Daran könnten auch die neuen Gelder aus dem
Aufholprogramm wenig ändern. „Wir haben jetzt schon im gebundenen
Ganztagsbetrieb in den Hauptfächern eine Stunde zusätzlich, Doppelsteckung
zur besonderen Förderung, Angebote der Schulsozialarbeit und individuelle
Lernförderung“, sagt Fischer. „Wir können die Kinder nicht völlig
überlasten.“ Bei 35 Stunden Unterricht die Woche sei irgendwann Schicht im
Schacht.
## Freundschaft, keine Nachhilfe
Fischer findet es aber gut, dass Studierende sich individuell um
Schüler:innen wie Panar kümmern. Seit Jahren sei Rock Your Life! fester
Bestandteil an der Schule am Schillerpark. Und vielleicht könne man ja die
Studierenden stärker in das staatliche Aufholprogramm einbinden. Etwa indem
man den Mentor:innen den Bedarf aus der Lernstandskontrolle mitteilt,
der gerade erhoben wird. „Wenn die sich drei Stunden treffen, könnten sie
ja auch eine Stunde Mathe oder Deutsch üben“, schlägt Fischer vor.
Rock Your Life!-Mitgründer Schabernak hält jedoch wenig von solchen Ideen.
Die Mentor:innen sollen gerade keine Nachhilfe geben, sondern vor allem
Ansprechpartner:innen für die Fragen der Jugendlichen sein. Da gehe es
selten um Mathematiknoten, sondern vor allem um persönliche Dinge.
Auch Dorothee Münßinger und Panar haben sich in dem halben Jahr, in dem sie
sich jetzt regelmäßig sehen, angefreundet. Einmal war die Schülerin in
Münßingers WG, ein anderes Mal hat die Studentin Panar zu Hause besucht.
Ihrer jungen Freundschaft steht nun aber jetzt die erste Bewährungsprobe
bevor. Für das nächste halbe Jahr studiert Doro in Budapest. Bis Februar
werden sie sich nur online treffen können.
19 Aug 2021
## LINKS
[1] https://rockyourlife.de/
[2] /Generation-Corona/!5774681
[3] /Schulstart-in-der-Pandemie/!5789308
[4] /Sommerschulen-gegen-Lernrueckstaende/!5785498
## AUTOREN
Ralf Pauli
## TAGS
Schwerpunkt Armut
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
Schule
soziale Ungleichheit
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Studierende
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Lesestück Recherche und Reportage
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