| # taz.de -- CDU-SPD-Koalition in Berlin jährt sich: Trübe Aussichten | |
| > Schwarz-Rot amtiert seit einem Jahr. Öffentlicher Streit wie bei | |
| > Rot-Grün-Rot bleibt bisher aus. Doch schwierige Milliardenkürzungen | |
| > kommen erst noch. | |
| Bild: CDU-Landeschef Kai Wegner regiert seit einem Jahr Berlin mit einer schwar… | |
| Berlin taz | Kai Wegner hat an diesem Donnerstag einen Termin in einer | |
| Grundschule in Tiergarten-Süd. Dort soll er mit den Kindern der 5c über | |
| seinen Beruf sprechen „und kindgerechte Einblicke in seine Tätigkeit als | |
| Regierender Bürgermeister geben“. Es ist nicht nur bei der dortigen Klasse | |
| eine Woche der Abrechnung und Selbstbeurteilung: Was macht so ein | |
| Regierungschef? Genauer: Was hat Wegner gemacht, seit er vor fast genau | |
| einem Jahr, am 27. April 2023, ins Amt kam, als erster CDUler seit über 20 | |
| Jahren? | |
| Wegner und die seither regierende schwarz-rote Koalition wussten das am | |
| Dienstag nach der Senatssitzung selbst ganz genau zu sagen. 64 Punkte | |
| listete ein Papier des Senats dabei auf, die alle verwirklicht haben | |
| sollen, was Wegner vor einem Jahr als Ziel ausgab: Dass Berlin jeden Tag | |
| ein bisschen besser funktioniert. Im gleichen selbstbewussten Ton sehen die | |
| oppositionellen Grünen hingegen nur Stillstand und „Geschwätz“. | |
| Da steht also nun Aussage gegen Aussage. Die 64 Punkte sind gleichfalls | |
| Fakt, auch wenn sie teils nur in Ansätzen oder fortgesetzten Projekten der | |
| rot-grün-roten Vorgängerregierung bestehen. Doch reichen 64 (Teil-)Erfolge | |
| aus, um zu Recht von einem guten Jahr zu sprechen, wie es Wegners | |
| Stellvertreterin Franziska Giffey (SPD) macht? | |
| Giffey ist die Frau, ohne die es Schwarz-Rot nicht gäbe. Sie war von kaum | |
| 14 Monaten Zusammenarbeit mit Grünen und Linkspartei so sehr genervt, dass | |
| sie lieber darauf verzichtete, Regierungschefin zu bleiben, als die | |
| rot-grün-rote Koalition fortzusetzen. Giffey tat, was in der | |
| bundesdeutschen Geschichte vorher nur ein einziges Mal vorkam: Sie gab den | |
| Chefinposten ab – und rückte als Vize-Chefin in den neuen Senat unter Kai | |
| Wegner. Immer wieder betont sie seither, wie anders die Zusammenarbeit sei, | |
| wie viel jetzt möglich sei, was vorher nicht ging. | |
| ## Besser als zum Start erwartet | |
| Gemessen an den Erwartungen und Eindrücken zum Start konnte es allerdings | |
| nur besser werden für Schwarz-Rot und Wegner. Das generelle Bild war: Da | |
| kommt, womöglich mit AfD-Hilfe, jemand dank einer [1][nicht nur von den | |
| Jusos als rassistisch eingestuften Kampagne] nach den vorangegangenen | |
| Silvester-Ausschreitungen ins Amt, der auch noch einen Pro-Auto-Wahlkampf | |
| gemacht hat. Und die SPD war trotz entsprechenden Mitgliederentscheids weit | |
| davon entfernt, durchweg Schwarz-Rot zu bejubeln. | |
| Ein Jahr später ist zumindest das Bild von Wegner ein anderes. Er wurde | |
| der, der im Sommer seinen zu wanken scheinenden CDU-Bundesparteichef | |
| Friedrich Merz [2][auf die Brandmauer gegenüber der AfD verpflichtete]. Er | |
| wird absehbar mitreden, wen es darum geht, wer für die CDU Spitzenkandidat | |
| bei der Bundestagswahl sein soll, und vieles deutet darauf hin, dass er | |
| nicht Merz, sondern den als liberaler eingeschätzten Hendrik Wüst | |
| unterstützt, den Ministerpräsidenten von NRW. | |
| Wegner führt viele Gespräche, hört zu, erwirbt sich Respekt auch bei | |
| Kritikern. Grüne und Linkspartei lassen sich von ihm einbinden beim | |
| Großprojekt Verwaltungsreform, was bei CDU und SPD nicht jedem gefällt. | |
| Generell tritt Wegner meist nicht als Regierender CDUler auf, sondern als | |
| eine Art über den Parteien agierender Stadtpräsident. Sein größtes Problem | |
| dabei: Er hat gar nicht das Geld für all das, was er verspricht. | |
| Inhaltlich halten ihm zwar viele ein Abwickeln rot-grün-roter | |
| Verkehrspolitik vor, weil einige geplante Radwege doch nicht kommen sollen. | |
| Was dabei etwas untergeht: Andere werden aber sehr wohl gebaut, durchaus | |
| zum Verdruss in der eigenen Klientel, die nach Jahren gefühlter grüner | |
| Radfahrpolitik nun eine reine Autopolitik erwartete. | |
| ## Wegners wichtigster Partner ist geschwächt | |
| Personell fällt auf, dass die beiden Senatsmitglieder am schwächsten | |
| bewertet werden, die Wegner von außen für die CDU in den Senat holte. | |
| Kultursenator Joe Chialo, zuvor Manager bei Universal Music, machte bei | |
| seinem Vorschlag, die Zentral- und Landesbibliothek in die jetzige Galeries | |
| Lafayette umzusiedeln, einen unprofessionellen Eindruck. Gleiches gilt für | |
| seine Forderung nach einer Antisemitismus-Klausel. Justizsenatorin Felor | |
| Badenberg wiederum, parteilos, zuvor Vizechefin des Verfassungsschutzes mit | |
| dem Beinamen „AfD-Jägerin“, zog durch die Verschärfung der | |
| [3][Ersatzfreiheitsstrafen Kritik auf sich]. | |
| Schwieriger als das zurückliegende Jahr dürfte das nächste sein. Kurz vor | |
| dem ersten Jahrestag ist Wegner sein bisher wichtigster Partner bei der SPD | |
| verloren gegangen. Raed Saleh, Deutschlands dienstältester | |
| SPD-Fraktionschef, wird ab Ende Mai nicht mehr Landesvorsitzender seiner | |
| Partei sein, die er seit 2020 mit Franziska Giffey angeführt hat. | |
| Wegner und Saleh, die sich seit Jahrzehnten aus ihrer Spandauer Heimat | |
| kennen und nicht gerade in Freundschaft verbunden waren, hatten in den | |
| vergangenen Monaten einen partnerschaftlichen Stil entwickelt. Das war | |
| nicht zu erwarten, nachdem Saleh Wegner [4][Anfang 2023 noch als „der | |
| einsame Kai“ verhöhnte], weil dem angeblich die Koalitionspartner fehlen | |
| würden. | |
| Nun aber ist Saleh schon nach der ersten Runde der SPD-Mitgliederbefragung | |
| zur künftigen Parteispitze raus, Wegner wird es mutmaßlich mit einer | |
| Doppelspitze aus Neuköllns Bürgermeister Martin Hikel und | |
| Ex-Sportstaatssekretärin Nicola Böcker-Giannini zu tun haben. Beide gelten | |
| SPD-intern als konservativ, werden aber darauf bedacht sein, nicht als | |
| bloße Erfüllungsgehilfen einer CDU-gelenkten Politik dazustehen. | |
| ## Im Haushalt stehen Milliardeneinschnitte an | |
| Alle zusammen stehen vor einer Aufgabe, die einen weit größeren Test für | |
| den Zusammenhalt der Koalition darstellt als alles bisherige. Mindestens | |
| drei Milliarden sind aus dem Landeshaushalt rauszukürzen – nicht durch | |
| Verzicht auf einmalige Projekte, sondern dauerhaft, durch strukturelle | |
| Einschnitte. Das wird absehbar auch die kostenlosen Angebote für Kita, | |
| Mensaessen und Schülerticket betreffen. Saleh hat viel davon durchgesetzt | |
| und ist zwar nicht mehr Partei-, aber weiter Fraktionschef, das Hikel-Duo | |
| hingegen sieht das kritischer. | |
| Dass daran die Koalition zerbricht, gilt selbst bei den Grünen als nicht | |
| erwünscht. Eine neue Regierung wäre nach dem Wechsel durch die | |
| Wiederholungswahl Anfang 2023 die dritte in dieser Wahlperiode – den | |
| Wählern nicht zumutbar, heißt es. Ein Bündnis mit Wegners CDU nach einer | |
| regulären Abgeordnetenhauswahl 2026 ist trotz der links dominierten | |
| Fraktion nicht ausgeschlossen. Wegner selbst nannte ein solches Bündnis | |
| gegenüber der taz mal „meine Traumkoalition“. Dass er beim großen Thema | |
| Verwaltungsreform bewusst die Opposition und damit die Grünen dazu holt, | |
| lässt sich auch so interpretieren, dass er nicht völlig auf die SPD als | |
| Partner angewiesen sein will. | |
| Im Hintergrund all dieser Entscheidungen, seien es die Milliardenkürzungen | |
| oder der geplante Zaun um den Görlitzer Park, steht noch eine Sache, mit | |
| der die Koalition überregional Schlagzeilen machte: Im Januar hatten Wegner | |
| und Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch bekannt gegeben, seit Herbst | |
| 2023 eine Beziehung zu führen. Kurzzeitige heftige Debatten, ob so etwas in | |
| einem Regierungsteam zulässig ist, sind zwar wieder abgeebbt. Einen echten | |
| Bruchtest aber hätte die Koalition, falls sich herausstellen würde, dass | |
| die Beziehung schon vor dem Regierungsantritt von Schwarz-Rot am 27. April | |
| 2023 begann – und Wegner damit seine Partnerin zur Senatorin gemacht hätte. | |
| Weniger aufregend mutet im Vergleich dazu eine andere Personalie an. | |
| Demnächst soll sich klären, ob Verkehrssenatorin Manja Schreiner (CDU) | |
| ihren juristischen Doktortitel abgeben muss – die zuständige Universität | |
| Rostock hat eine Entscheidung für dieses Frühjahr angekündigt. Ob sich | |
| Schreiner bei einer Aberkennung halten kann, gilt als zweifelhaft. So | |
| könnte zu der Liste der Aufgaben, von denen Wegner an diesem | |
| Donnerstagmorgen in der Grundschule in Tiergarten erzählen soll, neben Geld | |
| Sparen, Streit Schlichten und Für-gute-Stimmung-Sorgen noch | |
| Neue-Senatorin-Suchen kommen. | |
| 24 Apr 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Juso-Chefin-warnt-vor-Koalition-mit-CDU/!5918638 | |
| [2] /Berliner-CDU-nach-Merz-Aussage/!5950565 | |
| [3] /Arbeit-statt-Strafe/!5995606 | |
| [4] /Berliner-Abgeordnetenhauswahl-2023/!5906103 | |
| ## AUTOREN | |
| Stefan Alberti | |
| ## TAGS | |
| Kai Wegner | |
| Franziska Giffey | |
| Schwarz-rote Koalition in Berlin | |
| Justiz | |
| Innere Sicherheit | |
| Manja Schreiner | |
| Die Linke Berlin | |
| Kai Wegner | |
| Kai Wegner | |
| Kai Wegner | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Senat Berlin: Mit dem Bundesrat gegen Bedrohung | |
| Gesetzesinitiative soll Zeugen besser vor Einschüchterung durch | |
| Organisierte Kriminalität schützen. Grüne sehen „Symbolpolitik“. | |
| Haushaltspolitik des Senats: Kritik an Sprangers Kürzungsliste | |
| Die Innensenatorin will ein bisschen sparen. Die Opposition kritisiert das | |
| Geheim-Geschacher im Senat und fordert eine offene Diskussion. | |
| Berlins CDU-Verkehrssenatorin Schreiner: Abtritt einer Glücklosen | |
| Manja Schreiner verliert ihren Doktortitel und zieht daraus eine | |
| berlinuntypische Konsequenz: Sie tritt als Senatorin zurück. | |
| Parteitag der Berliner Linken: Abrechnung mit Schwarz-Rot | |
| Auf ihrem Landesparteitag präsentiert sich die Linke attackenfreudig. Die | |
| innerparteiliche Debatte zum Gaza-Krieg endet gleichwohl mit | |
| Nichtbefassung. | |
| Bilanz der Berliner CDU-SPD-Regierung: Viel kritisiertes Selbstlob | |
| Der schwarz-rote Senat findet sein erstes Amtsjahr gut. Die Grünen sehen | |
| das ganz anders. Sie werfen der Koalition Stillstand und „Geschwätz“ vor. | |
| Keine Haushaltsdebatte im Parlament: Schwarz-Rot verpasst große Chance | |
| In der Plenarsitzung hätte Regierungschef Kai Wegner (CDU) per | |
| Regierungserklärung die Deutungshoheit über Berlins Finanzmisere behaupten | |
| können. | |
| Plenarsitzung im Abgeordnetenhaus: Auf den Spuren von Klaus Wowereit | |
| CDU und SPD drücken sich im Parlament vor Haushaltsdebatte. Finanzsenator | |
| drängt auf „Mentalitätswechsel“. Das gab es schon bei der Bankenkrise 200… |