# taz.de -- Prozesse gegen Lieferando in Bremen: Betriebsrat sattelt auf | |
> Bei Lieferando prozessiert Bremens Betriebsrat gegen die Politik des | |
> Unternehmens. Lieferando meint, den Betriebsrat darf es nicht geben. | |
Bild: Viele sind auf den Job existenziell angewiesen: Lieferando-Fahrer bei der… | |
BREMEN taz | Eigentlich müsste alles klar sein: Die Beschäftigten bei | |
Lieferando, so sehen es die Arbeitsverträge vor, sind fest und unbefristet | |
angestellt. Kein ganz schlechter Deal für den Job als Rider, als Fahrer | |
also. Der ist für viele Menschen zu haben, die sonst wenig Chancen auf eine | |
Arbeitsstelle haben. | |
Die Praxis sieht anders aus. 150 Beschäftigte hat das Unternehmen in | |
Bremen, erzählt Betriebsrat Tobias Horoschko bei einer Veranstaltung der | |
Arbeitnehmerkammer Bremen am Montagabend. „Etwa ein Drittel ist fest | |
angestellt. Alle anderen sind in der Probezeit“, sagt er. „Am letzten | |
Ta[1][g werden sie dann jeweils rausgeworfen.“] | |
Die wenigsten der Beschäftigten sind Studierende, die sich abends ein paar | |
Euro dazuverdienen wollen, indem sie Essen ausliefern. Der Jobverlust ist | |
für die Beschäftigten existenzbedrohend – auf mehr als eine Art: Etwa 90 | |
Prozent von ihnen sind in Bremen Ausländer, so Horoschko. Viele von ihnen | |
sind auf die Stelle auch angewiesen, um ihren Aufenthaltsstatus nicht zu | |
verlieren. | |
Aktuell führt der Betriebsrat mehrere Prozesse vor dem Arbeitsgericht | |
Bremen gegen diese generelle Praxis. „Das Gericht“, sagt Horoschko, „ist | |
ohnehin der einzige Ort, wo wir mal Kontakt zu unserem Arbeitgeber haben.“ | |
## Arbeitgeber ficht den Betriebsrat an | |
Während er diese existenziellen Kämpfe führt, ist der Betriebsrat selbst in | |
seiner Existenz bedroht: Der Arbeitgeber bestreitet vor dem | |
Landesarbeitsgericht Hamburg seine Daseinsberechtigung. Einen Bremer | |
Betriebsrat, so die Argumentation, könne es nicht geben, schließlich gebe | |
es ja auch keinen Bremer Lieferando-Betrieb. | |
Der Konflikt ist ein alter: Bis 2022 hatte Lieferando zwischenzeitlich nur | |
einen Betriebsrat Nord zugelassen. Die sechs Städte Kiel, Hamburg, Bremen, | |
Hannover, Braunschweig und Göttingen wurden als eine Betriebseinheit | |
zusammengefasst. | |
Man kämpfte in verschiedenen Städten für je eigene Ziele, ohne sich zu | |
sehen, ohne echten Überblick über Neueinstellungen und Kündigungen. | |
Fahrtkosten zwischen den Städten übernahm der Arbeitgeber nicht. „Für uns | |
machte das die Arbeit fast unmöglich“, erzählt Horoschko. Damals setzten | |
sich die Wahlvorstände in den Städten gegen den Widerstand des Unternehmens | |
erst einmal durch: Es [2][wurden einzelne Betriebsräte in den Städten | |
gewählt]. | |
## Wann ist ein Betrieb ein Betrieb? | |
Doch Lieferando definiert nun für sich einfach neue Betriebseinheiten im | |
Norden: Einen Betriebsrat für Hamburg, Kiel und Bremen soll es geben, einen | |
weiteren für Braunschweig und Hannover. In erster Instanz hat das | |
Unternehmen im Januar vor dem Arbeitsgericht Hamburg auch Recht bekommen. | |
Rechtsanwalt Ralf Salmen vertritt die Lieferando-Beschäftigten und geht mit | |
dem Betriebsrat Bremen aktuell in die zweite Instanz. Für ihn ist es | |
logisch: „In Bremen sind die Restaurants mit dem Essen. In Bremen sind die | |
Fahrer. Und in Bremen sind die Kunden“, sagt der Arbeitsrechtler. | |
„Betriebsstätte ist Bremen. So einfach ist das.“ | |
Ganz so einfach ist das nicht, und ganz so einfach wird Salmen auch die | |
Gerichte in zweiter Instanz nicht überzeugen, das weiß auch er. Die | |
Rechtssprechung von Arbeitsgerichten legt nahe: Damit eine Betriebseinheit | |
als eigenständiger Betriebsteil gilt, muss zumindest eine minimale Leitung | |
vorhanden sein. Und die gibt es nicht in Bremen. | |
Oder doch? „Die Leitung existiert, sie ist nur nicht vor Ort“, argumentiert | |
Salmen. „Das muss sie aber auch nicht sein“, sagt er und verweist auf ein | |
Urteil zum Homeoffice – es komme darauf an, wo die Leitung sich auswirkt, | |
nicht darauf, wo jemand am Rechner sitzt, heißt es da. Organisatorisch | |
seien Bremen und die anderen Städte durchaus eigene Einheiten für das | |
Unternehmen – mit je eigenen Zielzahlen und Dienstplänen. | |
## Arbeitsschutzgesetze kollidieren mit Plattformökonomie | |
Was technisch klingt und wie ein speziell gelagerter Sonderfall, betrifft | |
potenziell viele Unternehmen. Beim Geschäftsmodell der sogenannten | |
Plattformökonomie, überall dort also, wo ein Unternehmen in erster Linie | |
eine Vermittlungsplattform zwischen Kunden und Dienstleistern anbietet, | |
fallen viele klassische Strukturen der Arbeitswelt weg. | |
Arbeitsschutzgesetze greifen dann nicht mehr passgenau. | |
Die EU hat deshalb gerade erst eine [3][Richtlinie zu Arbeitsbedingungen | |
bei Plattformökonomien] verabschiedet. Diese soll zum Beispiel helfen, | |
Scheinselbständigkeit zu verhindern – und die Beschäftigten tatsächlich zu | |
Arbeitnehmer*innen machen. Doch für längst nicht alle rechtlichen | |
Probleme und Lücken hat die Richtlinie eine Lösung. | |
Dass vor Gericht für die Rider in Norddeutschland eine Lösung kommt, das | |
glaubt Arbeitsrechtler Olaf Deinert von der Universität Göttingen nicht: | |
Arbeitsgerichte würden sich vor Neudefinitionen des Betriebsbegriffs | |
scheuen, die Folgen für andere Bereiche ließen sich nur schwer absehen, | |
sagt er am Montagabend vor der Arbeitnehmerkammer. Er plädiert dafür, das | |
gerade erst geänderte Betriebsverfassungsgesetz zu reformieren und an neue | |
Realitäten anzupassen – einen [4][Entwurf dafür] hat er mit elf weiteren | |
Autor*innen für den DGB verfasst. | |
Auf ein neues, passgenaues Betriebsverfassungsgesetz können Horoschko und | |
die anderen Rider aber nicht warten. Immerhin: So lange prozessiert wird, | |
so lange kann der Betriebsrat weitermachen. | |
25 Apr 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Kongress-Arbeit-und-Gesundheit/!5990933 | |
[2] /Arbeitskampf-wird-lokal/!5904158 | |
[3] /EU-Gesetz-zur-Plattformarbeit/!5994862 | |
[4] https://www.dgb.de/themen/++co++21a2fa9a-b4bd-11ec-9da2-001a4a160123 | |
## AUTOREN | |
Lotta Drügemöller | |
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