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# taz.de -- Der Hausbesuch: Wenn es permanent von innen klopft
> Fast ihr gesamtes bisheriges Leben hatte Greta Bollig Fragen an sich.
> Nun, mit Mitte 60, ist endlich Stille in ihr eingekehrt.
Bild: Sie lebt seit knapp 10 Jahren offen als trans Frau: Greta Bollig in ihrer…
Busfahrerin, Läuferin, Fußballkommentatorin in Peking. Und das ist längst
nicht alles.
Draußen: Es nieselt in Hamburg. Menschen, die schon lange in dieser Stadt
leben, schauen eher selten verwundert in den Himmel, wenn sich das Wetter
plötzlich ändert – Greta Bollig tut es trotzdem. Heute Morgen, während sie
einen Halbmarathon durch den Nordosten Hamburgs lief, habe noch die Sonne
geschienen, erzählt sie. Eine Stunde 53 Minuten, für Bollig ein normaler
Mittwochvormittag. Die 64-Jährige ist Läuferin, gerade trainiert sie für
den Paris-Marathon. „Laufen ist Zen für mich“, sagt sie.
Drinnen: Und so stehen gleich neben der Wohnungstür im Stadtteil Wandsbek
sechs Paar Laufschuhe in verschiedenen Abstufungen der Ausgelatschtheit.
Schon als Kind sei sie oft 50 Runden ums Haus gerannt, ohne aus der Puste
zu geraten, überhaupt war Sport bei den Bolligs ein Riesenthema. Der Vater
konnte aus dem Stand auf den Tisch springen und war der beste
Fußballspieler von ganz Fritzdorf. Der nächstgelegene Bundesligaverein,
[1][der 1. FC Köln], soll an ihm interessiert gewesen sein, doch als
einziger Sohn, der aus dem Krieg zurückgekehrt war, habe er die Schreinerei
der Eltern übernehmen müssen. Im Müngersdorfer Stadion seien sie trotzdem
oft gemeinsam gewesen. In Greta Bolligs Wohnzimmer stehen aufgereiht
Dutzende Schallplatten. Metallica, Miles Davis und jeden Morgen zum
Aufstehen „der Igor“. Bollig liebt die Musik des [2][Pianisten Igor Levit],
die beiden kennen sich. An der Wand hängt ein pinker Post-it, darauf in
Kugelschreiber „Wir haben dich lieb, Papa“.
Traum: Denn für ihre Töchter ist Greta Bollig immer noch „Papa“. „Sie
benutzen auch meinen neuen Vornamen nicht“, sagt sie, ohne das zu werten.
Die beiden sind erwachsen und leben, so wie auch Bolligs Ehefrau, in
London. Einige Monate nach ihrem Coming-out als trans Frau im Jahr 2014
trennte sich das Paar. Damals lebte die Familie aus beruflichen Gründen in
Ecuadors Hauptstadt Quito. Kurz vor ihrem [3][Coming-out] hatte Greta
Bollig zweimal den gleichen Traum. Sie lag auf ihrem Sterbebett und sah
sich von oben: eingefallenes Gesicht, langer grauer Bart, links und rechts
von ihr die Töchter, die auf ihr Ableben warteten. „Und dann bin ich im
Traum in Tränen ausgebrochen und habe ihnen gesagt, dass ich keinen Tag
meines Lebens so gelebt habe, wie ich wirklich bin.“
Kompromisse: Bollig ist zu dem Zeitpunkt in einer Online-Selbsthilfegruppe
für trans Menschen und spricht heimlich mit einer Therapeutin. Es brodelt
in ihr. Wenn du das durchziehst, dann sind wir kein Paar mehr, sagt die
Ehefrau, als Greta Bollig sich ihr am Abend nach dem zweiten Albtraum
anvertraut. In den Monaten, die darauf folgen, macht Bollig
Kompromissvorschläge: etwa, dass sie nur zu Hause Frauenkleider tragen
könnte oder nur im Urlaub. „Von alldem wollte meine Ehefrau aber nichts
wissen.“
Vulkane: Greta Bollig hat das Gefühl, seit dem Coming-out kein Stück
vorangekommen zu sein, wird immer verzweifelter. Aus der Wohnung im achten
Stock hat man eine tolle Aussicht auf vier Vulkane, früher stellte sie sich
extra früh den Wecker, um die Sonnenaufgänge zu fotografieren. Jetzt denkt
sie darüber nach, wie es wäre runterzuspringen. Bollig beschließt, eine
Hormontherapie anzufangen, und leitet von Quito aus die Namens- und
Personenstandsänderung in die Wege. Sie entscheidet sich für Greta, nach
der Oma, von der sie glaubt, diese ahnte schon immer, was mit ihrem
Enkelkind los war.
Maikönigin: Greta Bollig hat fünf Geschwister und hat ihre Kindheit am
liebsten im Keller verbracht, mit Sachbüchern über die Inkas. Das schönste
Geräusch sei gewesen, wenn oben die Tür ins Schloss fiel. Stille. Niemand
mehr im Haus. Dann klappte Bollig ihr Buch zu, ging zum großen
Kleiderschrank und zog die Klamotten ihrer älteren Schwestern an. „Da habe
ich mich toll gefühlt, richtig gefühlt. Das waren meine Sachen.“ Am
liebsten mag sie das Kleid aus dem Jahr, als ihre Schwester Maikönigin war.
„Das war hell, frühlingshaft.“ Die Jungs in der Familie durften die Haare
nicht länger als bis zum Hemdkragen wachsen lassen. Bollig wünscht sich
nichts mehr, als dass sie einen kleinen Zopf hinkriegt, heimlich im
Badezimmer. Das Gummi rutscht aber immer wieder raus. „Trotzdem waren das
Momente, in denen ich glücklich war. Diese kleinen Momente für mich
allein.“
Mond: Als es um ihre Pubertät geht, gerät Greta Bollig ins Stocken. „Das
ist eine Zeit, an die ich mich wirklich nicht gerne erinnere“, sagt sie.
Dann erzählt sie von einem Trip nach Westberlin gemeinsam mit einem Freund,
der sich auf der Internationalen Funkausstellung neue Stereoanlagen
anschauen wollte. „Einmal sitzen wir draußen vor einem Café, als plötzlich
eine große Gruppe trans Menschen oder Transvestiten auftaucht. Und das am
helllichten Tag“, sagt Greta Bollig. Die Menschen hätten richtig Platz
eingenommen, für sie seien extra Tische dazugestellt worden. „Und ich habe
innerlich gerufen: Seht ihr mich nicht? Bitte, nehmt mich mit!“ Ob sie
danach überlegt hätte, einfach nach Berlin zu ziehen? „Berlin war für mich
so weit weg von meinem Dorf wie der Mond zur Erde“, sagt Bollig. „Ich war
zu kleingeistig, um mir das zu erdenken.“
Unterwegs: Ein paar Jahre später ist sie mutig genug, alles zu verkaufen,
um auf große Reise zu gehen. Kurz zuvor hatte Bollig ihrer damaligen
Partnerin versucht zu erklären, wer sie wirklich sei. Die Beziehung sei
daraufhin in die Brüche gegangen, und Bollig lernte, lieber nichts zu
sagen. In den Zwanzigern schlug sie sich zunächst mit verschiedenen Jobs
durch, sie sei „ohne Norden“ gewesen damals. Dann will sie Richtung Osten,
mit Transsibirischer Eisenbahn und Fähre nach Japan. Von ihren Mitfahrern
im Zug wird sie nach ein paar Tagen Dr. Hübner genannt, nach dem damaligen
deutschen Schachgroßmeister. „Vor dem Abteil standen sie Schlange, um mit
mir zu spielen“, sagt sie und grinst. Sie verbringt einige Wochen in Japan,
macht dort das, was man heute Couchsurfing nennen würde. Und reist weiter
nach Australien, den Osterinseln, verbringt ein halbes Jahr in Südamerika.
Am Ende der Reise beschließt sie, sich an der Uni in Peking einzuschreiben,
um Dolmetscherin zu werden. Es ist der Sommer 1988.
Tiananmen: In Peking baut sie sich schnell ein Netzwerk auf, lernt
internationale Journalistinnen und Diplomaten kennen. Mit Beginn der
Studentenproteste und dem geplanten Staatsbesuch Gorbatschows wird sie Teil
eines Teams der CNN und macht Reportagen für das amerikanische Fernsehen.
Sie ist mit den Protestierenden auf dem Platz des Himmlischen Friedens, als
dort Anfang Juni die Panzer auffahren. Greta Bollig steht neben einer
Familie mit Kleinkind, als sie beschließt, die Flucht zu ergreifen. Die
Familie ruft ihr noch nach: Die tun nichts, das ist doch unsere Volksarmee.
Aus einem Hotel in der Nähe, einem Standort der CNN, beobachtet sie die
Ereignisse der nächsten Tage, sieht, wie die Panzer in Seitenstraßen
feuern.
Verluste: Trotzdem bleibt sie noch zwei Jahre in der Stadt, beendet ihr
Studium und arbeitet nebenher als Fußball-Analystin im chinesischen
Fernsehen. Dort werden seit dem deutschen WM-Sieg 1990 Bundesligaspiele
übertragen, und Bollig, die fließend Chinesisch spricht, liefert Infos zu
den Teams. Anfang der Neunziger lernt sie über Freunde in New York ihre
spätere Frau kennen, die nächsten Jahre verbringt sie mit ihr und der
Familie in Südamerika.
Antworten: Jetzt ist sie zurück in Hamburg, alleine, dafür endlich sie
selbst. „Manchmal ist es schwer, meine Transition nicht als Pyrrhussieg zu
begreifen“, sagt sie. „Dass ich mich von meiner Frau trennen musste,
schmerzt mich nach wie vor sehr.“ Dafür sind die Fragen verschwunden, diese
zermürbende Unsicherheit. „Früher war das so, als würde permanent jemand
von innen klopfen“, sagt sie. Spätestens mit der geschlechtsangleichenden
Operation vor sechs Jahren sei dieses Klopfen verstummt. „Ich bin damals im
Krankenhausbett aufgewacht, habe in mich reingehört, und da war endlich
Stille.“
Sexismus: Mittlerweile arbeitet sie als Busfahrerin, sie mag die Strecken,
die ein bisschen grüner sind, und sie mag die Fahrgäste, die
Mikro-Interaktionen mit ihnen. Bis auf diesen Moment, gar nicht lange her,
als sie das erste Mal sexistisch beleidigt wurde. Ein Typ sei eingestiegen,
habe sie gemustert und gefragt: „’ne Frau am Steuer? Kann das gut gehen?“
Daraufhin hätten in ihr zwei Emotionen miteinander gerungen, Wut und ein
bisschen Freude, dass sie als das erkannt worden war, was sie ist: eine
Frau, die besser Bus fahren kann als viele Männer.
14 May 2024
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## AUTOREN
Leonie Gubela
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