# taz.de -- Der Hausbesuch: Die Demokratie bewegt sie | |
> Eleonore Kujawa war als Frau eine Pionierin im Schuldienst und bei der | |
> Gewerkschaft. Auch mit 94 Jahren engagiert sie sich noch gegen rechts. | |
Bild: „Ich habe im Leben immer Glück gehabt“, sagt Eleonore Kujawa | |
Als sie geboren wurde, hatte in Deutschland [1][die Zeit der Verrohung | |
begonnen]. Nach dem Krieg demokratisierte sich die Gesellschaft. Jetzt | |
aber, fürchtet Eleonore Kujawa, ist es wieder so wie damals. Sie weiß, was | |
das heißt. | |
Draußen: Auf der Straße unweit des Berliner Zoologischen Gartens herrscht | |
turbulentes Treiben: Eine Gruppe Frauen in Businesskostümen bahnt sich | |
einen Weg durch die Menschenmenge. Eine Mutter ermutigt ein Kleinkind, das | |
bei ersten Laufversuchen gefallen ist: „Weiter geht’s!“ | |
Drinnen: Eleonore Kujawa öffnet die Tür eines Zweizimmerappartements im | |
Betreuten Wohnen. Durch das Fenster ihres Schlafzimmers blickt sie auf die | |
Straße, durch die Fensterfront im Wohnzimmer auf einen großen Garten. In | |
die Seniorenresidenz ist sie vor zwei Jahren gezogen: „Ich habe gesagt, | |
wenn meine Katze Katinka stirbt, gehe ich dahin. Die Katze ist zwanzig | |
Jahre alt geworden.“ Eleonore Kujawa nimmt im Wohnzimmer auf einer Sitzbank | |
an einem Holztisch Platz und schenkt etwas zu trinken ein. Auf dem Tisch | |
liegt die Frankfurter Rundschau, auf einem roten Stehpult dahinter ein | |
Kalender. | |
Notizen: Seit 1976, erzählt die Pädagogin, [2][Gewerkschafterin] und | |
Bürgerrechtlerin, notiere sie stichpunktartig, was sie an dem jeweiligen | |
Tag gemacht habe: „Neulich habe ich einen Kalender aus den siebziger Jahren | |
gefunden und musste den Kopf schütteln, wie ich das alles geschafft haben | |
soll.“ | |
Ihren Mann stehen: Sie war damals Anfang 40, Schulleiterin, Mitglied des | |
Bezirkselternausschusses und in der Gewerkschaft für Erziehung und | |
Wissenschaft (GEW) sowie in der Liga für Menschenrechte aktiv. Das alles | |
als Alleinerziehende. Ihr Mann war 1969 gestorben. Da war ihre Tochter | |
sieben. Leicht wurde es Kujawa auch sonst nicht gemacht: Im Referendariat | |
etwa wurde ihr zugewandter Unterricht, bei dem die Schüler und Schülerinnen | |
mitgestalten durften, kritisiert. Oder als sie zur Landesvorsitzenden der | |
GEW gewählt wurde. Damals, erzählt sie, schimpften die Männer im | |
DGB-Vorstand: „Eine Frau? Da können wir ja gar keine Witze mehr erzählen.“ | |
Alles unter einen Hut kriegen: Sie habe das Taschengeld ihrer Tochter | |
erhöht, dafür, dass diese abends ihre Anrufe entgegennehme: „Einen | |
Anrufbeantworter hatten wir nicht.“ Einmal schrieb die Tochter ihr, dass | |
sie nicht wolle, dass die Mutter abends immer weggeht: „Da habe ich ihr | |
gesagt, dass mir das wichtig ist. Und es nicht mehr lange dauert, bis sie | |
selbst ausgeht und ich zu Hause sitze und mir Sorgen mache.“ | |
Politisierung: Durch das Aufwachsen im Krieg, vor allem aber durch ihre | |
Mutter und eine ihrer Lehrerinnen wurde sie politisch geprägt: „Meine | |
Mutter litt darunter, nicht arbeiten gehen zu können.“ Dem Vater, einem | |
Sparkassenangestellten, sei es nach der Geburt ihrer älteren Schwester | |
nicht geheuer gewesen, dass die Mutter nicht zu Hause war, wenn er von der | |
Arbeit kam. Da habe er die Arbeit der Mutter kurzerhand gekündigt. Dazu | |
waren die Ehemänner damals befugt. Fortan strich die Mutter in allen | |
Büchern Stellen an, die sie frauenverachtend fand: „Sie hat immer erzählt, | |
wie mulmig es ihr schon bei der Trauung geworden sei, als es hieß: ‚Er soll | |
dein Herr sein.‘ “ Nach 1945 hatte Eleonore Kujawa eine junge Lehrerin, die | |
sie für die noch neue Demokratie begeisterte: „Als das Grundgesetz | |
verabschiedet wurde, habe ich es gelesen, jeden einzelnen Abschnitt.“ | |
Frieden: Eleonore Kujawa wurde 1930 geboren. Als sie neun Jahre alt war, | |
begannen die Nationalsozialisten den Zweiten Weltkrieg. Und während sie | |
sich von der Mutter noch beruhigen ließ, die erzählte, der Erste Weltkrieg | |
sei weit weg gewesen, war der Zweite schnell vor ihrer Haustür. Bomben, | |
Hunger und Kälte wurden Alltag. Bei Kriegsende war sie 15 Jahre alt. Und | |
wusste genau, was sie nie wieder erleben möchte, und niemandem wünscht: | |
„Ich konnte auch nie verstehen, warum in der Schule noch Völkerball | |
gespielt wird. Das ist schließlich nichts anderes als das Nachstellen von | |
Krieg.“ Sie habe sich immer absichtlich abschießen lassen. | |
Pädagogik: Eigentlich wollte sie sich der Mathematik verschreiben. | |
Stattdessen wurde sie begeisterte Lehrerin. Als Pädagogin setzte sie sich | |
für Demokratisierung ein. Im eigenen Kollegium wie auch als Mitglied des | |
nach der NS-Zeit gegründeten „Arbeitskreises Neue Erziehung“, der den | |
NS-Erziehungsidealen demokratische Werte entgegensetzen wollte. Ebenfalls | |
als Mitglied des Bezirkselternausschusses im Berliner Wedding. Als solche | |
war sie an den Änderungen des Schulverfassungsgesetzes mitbeteiligt. Etwa | |
wurde eingeführt, dass Schulleitungen nicht länger vom Bezirksamt gestellt | |
werden, sondern von einer Gesamtkonferenz gewählt werden müssen, und | |
Elternversammlungen nicht von Lehrer*innen einberufen werden können: | |
„Das war ganz entscheidend für die Demokratisierung der Schulen.“ | |
Ausblick: Die derzeitige politische Lage sieht Eleonore Kujawa mit Sorge: | |
„Wir befinden uns in einer Abwärtsspirale.“ Einiges erinnere sie an die | |
Weimarer Republik: „Dieses Aufsplittern in viele kleine Parteien, die | |
miteinander streiten, statt gemeinsam gegen rechts zu gehen.“ Und dass der | |
aufkommende Faschismus ignoriert werde. Dass von rechts erneut Gefahr | |
ausgehe, sei seit den 1970ern klar. Damals sei bei Fußballspielen zum | |
ersten Mal seit 1945 wieder offen rechte Gesinnung gezeigt worden. Sie | |
erinnert auch an die rassistischen Ausschreitungen in Rostock und | |
Hoyerswerda in den 90ern. | |
Nie wieder: 1995 organisierte die Liga für Menschenrechte eine Mahnwache zu | |
50 Jahren Kriegsende: „Die haben wir damals schon ‚Mahnwoche‘ genannt und | |
nicht Friedenswoche.“ Sie steht auf und holt das Buch „[3][Kriegskinder]“ | |
aus ihrer Kommode: „Damals haben wir unter anderem das Buch | |
herausgebracht.“ Einer der Beiträge erzählt von ihren Erfahrungen. | |
Demokratie: Seit Jahren geht Eleonore Kujawa als Zeitzeugin in Schulen, um | |
dafür zu sensibilisieren, dass Demokratie und Frieden nicht | |
selbstverständlich sind: „Wir müssen uns für die Demokratie einsetzen.“ … | |
Anbetracht der derzeitigen Entwicklungen ist sie wenig hoffnungsvoll. Dass | |
zuletzt aber Massen gegen Rechtsradikalismus auf die Straßen gingen, sieht | |
sie positiv: „Nur, es kommt sehr spät. Zu lange wollte niemand etwas von | |
der Gefahr hören. Die Leute können sich nicht vorstellen, wie schnell | |
unsere Demokratie ausgehöhlt werden kann.“ | |
AfD-Verbot: Sie verfolgt die Diskussionen um ein Verbotsverfahren der AfD: | |
„Die Gesinnung kann man nicht verbieten“, selbst wenn man die AfD | |
verbietet. Sie fürchtet, die radikalen Anhänger*innen würden sich im | |
Internet vernetzen: „Aber andererseits würde das Verbot nützen, weil sie | |
dann nicht mehr im Bundestag säßen und ihnen der Geldhahn zugedreht würde. | |
Sie würden allerdings sicher Spenden kriegen, noch und nöcher. | |
Überleben: Eleonore Kujawa hat nicht nur den Zweiten Weltkrieg und ihren | |
Mann überlebt, sondern auch ihre Tochter. Schluckend erzählt sie, dass die | |
Tochter an Krebs gestorben sei: „Ich habe sie anderthalb Jahre gepflegt.“ | |
Im Wohnzimmer erinnern Fotos an sie. An der Wand hängt ein Kinderbild und | |
eins, das die Tochter als junge Frau zeigt. Vor dem Fenster ein kleines | |
Foto der Tochter kurz vor ihrem Lebensende, mit Katze im Bett: „Ihre Katze | |
Clairvoyance war immer bei ihr. Nach ihrem Tod ist sie drei Jahre nicht aus | |
dem Zimmer, als würde sie warten. Katzen sind so treu.“ Es sei eine | |
schlimme Zeit gewesen, „aber das ist jetzt auch schon lange her.“ | |
Ereignisreiches Jahrhundert: Sie habe, erklärt sie dennoch standhaft, im | |
Leben immer Glück gehabt. Manchmal staune sie selbst darüber, was sie in | |
ihrem fast ein Jahrhundert umfassenden Leben an Weltgeschehen mitbekommen | |
hat: „So viele verschiedene Schwerpunkte. Und immer interessant.“ In ihrer | |
Todesanzeige soll einmal stehen: „Sie ist ganz plötzlich gegangen.“ Solange | |
sie aber noch lebt, geht sie, geht weiter ins Theater und auf Demos: „Nur | |
nicht während der Mittagsschlafzeit.“ | |
1 May 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Zeitzeuge-erinnert-sich/!5921535 | |
[2] /Verdi-Gewerkschafterinnen-und-der-Krieg/!5959318 | |
[3] https://www.berlin.de/politische-bildung/politikportal/blog/artikel.929503.… | |
## AUTOREN | |
Eva-Lena Lörzer | |
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