# taz.de -- Strom durch Atomkraft sinkt weltweit: Nicht nur Deutschland steigt … | |
> Weltweit sinkt der Anteil der Atomkraft an der Stromerzeugung. Zwar bauen | |
> einige Länder neue AKW. In vielen anderen aber ist Kernkraft kein Thema. | |
Bild: Das Atomkraftwerk Vandellos an der Costa Dorada in Spanien | |
Göttingen taz | Mit ihrer anhaltenden Kritik am vor einem Jahr vollzogenen | |
deutschen Atomausstieg fahren CDU und CSU, FDP und Wirtschaftsverbände | |
schweres rhetorisches Geschütz auf. Der Ausstieg sei „ein dramatischer | |
Irrtum“, befand FDP-Vize Wolfgang Kubicki. Der Wirtschaftsrat der CDU sah | |
darin eine „große Gefahr für den Wirtschaftsstandort Deutschland“. Und | |
CDU-Fraktionsvize Jens Spahn sprach anlässlich der Abschaltung der letzten | |
AKW von „einem schwarzen Tag für den Klimaschutz“. | |
Besonders beliebt bei den hiesigen Atom-Apologeten ist jedoch der Verweis | |
auf einen angeblich energiepolitischen Sonderweg der Bundesrepublik. So | |
behauptete Markus Jerger, bis 2023 Vorstand des Bundesverbandes | |
mittelständische Wirtschaft (BVMW), Deutschland gehöre „zu den ganz wenigen | |
Nationen in der Welt, die aussteigen, während andere Länder teilweise | |
massiv in die Atomkraft investieren“. Da stelle sich die Frage, sagte | |
Jerger, „warum wir gegen jedes Kalkül handeln“. | |
Doch ist die Atomkraft wirklich wieder auf dem Vormarsch? | |
Weltweit stagniert die Stromerzeugung aus Kernenergie, zeigt der von einem | |
[1][Team um den Atomexperten Mycle Schneider] erstellte und kürzlich | |
veröffentlichte „World Nuclear Industry Status Report 2023“ (WNISR2023). | |
Während die absolute Menge des weltweit in Kernkraftwerken erzeugten Stroms | |
im Wesentlichen unverändert geblieben ist, ist ihr Anteil am weltweiten | |
Strommix 2022 auf 9,2 Prozent, den tiefsten Wert seit rund 40 Jahren, | |
gesunken. Der Höchstwert lag 1996 bei 17,5 Prozent. | |
## Atomkraftwerke in 32 Staaten | |
Atomkraftwerke (AKW) laufen in 32 Staaten. [2][Nach WNISR-Zahlen] sind | |
zurzeit 415 Kernreaktoren in Betrieb. Spitzenreiter sind die USA mit 94 | |
Reaktoren, gefolgt von China und Frankreich, beide mit 56 Blöcken. Im | |
vorderen Feld finden sich zudem Russland (36), Japan (12), Südkorea (25) | |
und Indien (20). | |
2023 gingen fünf neue Reaktorblöcke ans Netz. Fünf Reaktoren wurden 2023 | |
stillgelegt, darunter die letzten deutschen Anlagen Emsland, Isar-2 und | |
Neckarwestheim-2. Das Leistungssaldo der fünf abgestellten und fünf neuen | |
AKW ist um ein Gigawatt negativ. | |
In den letzten 20 Jahren, zwischen 2004 und 2023, sind mehr AKW stillgelegt | |
worden, als neue in Betrieb genommen wurden. Außerdem sind fast die Hälfte | |
der neuen Reaktoren – 49 von 102 – in China ans Netz gegangen. Außerhalb | |
Chinas ergibt das einen Negativsaldo von 51 Blöcken, ein erheblicher | |
Einbruch. In den letzten vier Jahren, von 2020 bis 2023, sind 31 Reaktoren | |
weltweit in Bau gegangen, darunter 20 in China und 11 von der russischen | |
Atomindustrie vor allem in Drittländern vorgenommen – zum Beispiel in | |
Bangladesch, Indien und der Türkei. Sonst nichts, nirgendwo. | |
In der Europäischen Union (EU) werden in 12 der 27 Mitgliedstaaten | |
Kernreaktoren betrieben. In den vergangenen 30 Jahren gingen gerade mal | |
zwei Atomkraftwerke in Bau, die sogenannten Druckwasserreaktoren der | |
dritten Generation (EPR) Olkiluoto-3 in Finnland und Flamanville-3 in | |
Frankreich. Der finnische Reaktor ging nach 17 Jahren Bauzeit ans Netz, der | |
französische liefert auch 17 Jahre nach Baubeginn noch keine | |
Kilowattstunde. In der Slowakei gibt es noch eine weitere Baustelle: Mit | |
dem Bau von Mochovce-4 wurde 1985 begonnen. Der Reaktor soll dieses Jahr in | |
Betrieb gehen. | |
## Höchster Atomstrom-Anteil in Frankreich | |
Den weltweit größten prozentualen Anteil am Strommix stellt [3][auch ohne | |
Flamanville-3 die Kernenergie in Frankreich]. 2023 waren es 65 Prozent. Der | |
neueste Reaktor ging bereits 1999 ans Netz, das Durchschnittsalter beträgt | |
38,6 Jahre. In den vergangenen Sommern stand zudem teils die Hälfte der | |
französischen AKW-Flotte still, wegen technischer Defekte, Inspektionen, | |
Reparaturen, oder weil die Flüsse nicht genug Wasser zur Kühlung der | |
Reaktoren führten. | |
Einige EU-Mitgliedstaaten haben einen Ausbau der Kernenergie angekündigt. | |
Belgien plant, die letzte Etappe des beschlossenen Ausstiegs zu | |
verschieben, als Reaktion auf die energiepolitischen Turbulenzen infolge | |
des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Statt 2025 sollen zwei der | |
fünf verbliebenen Reaktoren erst 2035 vom Netz gehen. | |
Polen beabsichtigt, ein Atomprogramm neu zu starten, offiziell um den | |
Kohleausstieg zu bewerkstelligen. 2033 soll der erste Meiler ans Netz | |
gehen, laut Experten ein völlig unrealistischer Zeitplan. In Ungarn sollen | |
zwei zusätzliche Reaktorblöcke russischer Bauart entstehen, und Rumänien | |
plant [4][ein Mini-AKW mithilfe von US-Technik]. Schweden betreibt | |
Reaktoren, die gemeinsam etwa 30 Prozent der landesweiten Stromerzeugung | |
abdecken. | |
## Atomausstieg in Spanien und der Schweiz | |
In der Türkei wird seit 2015 das erste AKW namens Akkuyu gebaut – | |
finanziert und gebaut [5][vom russischen Staatsunternehmen Rosatom]. Auch | |
Großbritannien setzt nach wie vor auf Atomkraft. Aktuell werden noch neun | |
Reaktorblöcke betrieben, 36 befinden sich im Rückbau. Aktuell sind zwei | |
neue EPR- Reaktoren im Bau (Hinkley Point C-1 und -2), zwei weitere sind | |
[6][für den Standort Sizewell C] geplant. | |
Den Ausstieg aus der Kernenergie geplant haben – neben Belgien – derzeit | |
die Schweiz und Spanien: Die vier Reaktoren in der Schweiz (Anteil am | |
Strommix 36,4 Prozent, Durchschnittsalter 48 Jahre) dürfen bis zu ihrem | |
altersbedingten Ende laufen, aber nicht durch neue ersetzt werden. Ein | |
Datum für die Abschaltung gibt es nicht. Die sieben spanischen Reaktoren | |
sollen bis 2035 sukzessive vom Netz genommen werden, die erste Abschaltung | |
ist für 2027 geplant. | |
Im Übrigen ist auch der Atomausstieg in Deutschland nicht vollendet. So | |
dürfen die zurzeit laufenden Forschungsreaktoren weiter betrieben werden. | |
Auch die Brennelement-Fertigungsanlage in Lingen und die | |
Urananreicherungsanlage in Gronau, die AKW in vielen Ländern mit frischem | |
„Brennstoff“ beliefern, verfügen über unbefristete Betriebsgenehmigungen. | |
28 Mar 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Energieexperte-ueber-AKW-Sicherheit-im-Krieg/!5916236 | |
[2] https://www.worldnuclearreport.org/-World-Nuclear-Industry-Status-Report-20… | |
[3] /Atomkraft-in-Frankreich/!5930241 | |
[4] /Mini-Atomkraftwerke-in-der-Kritik/!5999640 | |
[5] /Russische-Brennelemente-in-Deutschland/!5994355 | |
[6] /Atomkraft-in-Grossbritannien/!5982523 | |
## AUTOREN | |
Reimar Paul | |
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