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# taz.de -- Atomkraft in Frankreich: Fiasko in Frankreich
> Kernspaltung war beim Nachbarn mal ein Zeichen für Forschergeist. Heute
> steht die Regierung vor großen Problemen, ist aber unbeirrt.
Bild: Atomkraftwerk im französischen Saint-Laurent-Nouan
Während die weißen Dampfschwaden der AKW-Kühltürme und die Atomkraft in
Deutschland insgesamt Geschichte sind, geht Frankreich den umgekehrten Weg
– Laufzeiten werden verlängert, sechs neue AKWs sollten gebaut werden. In
der Sache ist Frankreich psychologisch gesehen ein Fall von „eskalierendem
Commitment“. Man lässt sich nicht von einem einmal eingeschlagenen Kurs
abbringen, obwohl immer deutlicher wird, dass dieser Kurs in die Irre
führt.
Eskalierendes Commitment ist nicht schlimm, wenn man im Kino sitzen bleibt,
obwohl längst klar ist, dass einem der Film nicht gefällt, oder wenn
Menschen in einer Beziehung bleiben, obwohl sie merken, dass sie nicht
glücklich sind – am Ende schadet es nur ihnen selbst. Fatal ist es, wenn
Staaten an ihren Entscheidungen festhalten, obwohl sie sich verrannt haben.
Die Geschichte der Atomenergie in Frankreich ist ein Fiasko, das wie ein
Märchen begann: Die Politikwissenschaftlerin Sabine von Oppeln verortet die
Geschichte der Kernenergie in Paris und Berlin. Das Pariser Forscherteam um
Henri Becquerel, Pierre und Marie Curie und das Berliner Team um Otto Hahn
und Lise Meitner leisteten Pionierarbeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg musste
Deutschland aus naheliegenden Gründen auf die eigenständige Entwicklung
militärischer Atomwaffen verzichten.
In Frankreich hingegen wurde die Force de frappe – die Nuklearstreitmacht
der französischen Streitkräfte – als Symbol der Größe und Unabhängigkeit
des Staates aufgebaut. Hauptgründe dafür waren die Ablehnung einer
US-amerikanischen Vorherrschaft in Europa und das Streben nach dem Erhalt
einer Vormachtstellung angesichts des Wirtschaftsaufschwungs in der
Bundesrepublik. Der französische Wille, „nie wieder schwach zu sein“,
erklärt sich historisch aus dem als gescheitert empfundenen Pazifismus der
1930er Jahre. Der Pazifismus endete 1938 mit dem Münchner Abkommen und 1940
mit der deutschen Besetzung Frankreichs. Die Atomwaffen bildeten, was
Ressourcenwissen anbelangte, die Grundlage für die zivile Nutzung der
Kernenergie.
„In Frankreich haben wir kein Erdöl, aber wir haben Ideen“ – so lautete …
Slogan des Jahres 1976 unter Präsident Valéry Giscard d'Estaing. Unter dem
Schock des Ölpreisanstiegs 1973 suchte das Land nach neuen Energiequellen.
Nach der Ölkrise war Frankreich in der Lage, [1][innerhalb von 20 Jahren
einen über das Land verteilten Atomkraftwerkspark mit 59 Reaktoren zu
errichten] – also 3 Reaktoren pro Jahr. Ein Riesenerfolg aus der Sicht der
Kernenergiefans: In den 2000er Jahren war Frankreich – auf die
Einwohnerzahl heruntergerechnet – weltweit das Land mit den meisten
Atomkraftwerken. Das Land produzierte mehr Strom, als es verbrauchte. Der
Verkauf des Überschusses an die europäischen Nachbarländer brachte jährlich
3 bis 5 Milliarden Euro in die Staatskasse.
Zwanzig Jahre später hingegen befürchtet das Land Stromengpässe; zeitweise
war 2022 die Hälfte der Atomkraftwerke abgeschaltet – [2][entweder wegen
gravierender Mängel und Schäden] oder wegen mangelnden Kühlwassers wegen
des heißen Sommers. Frankreich ist zum größten Stromimporteur Europas
geworden.
Natürlich ist die Kernenergie auch in Frankreich nicht unumstritten. Die
Intensität der Proteste gegen die zivile Nutzung der Kernenergie war in
Frankreich zeitweise vergleichbar mit der in Deutschland. Allerdings
stießen die Atomkraftgegner:innen in Frankreich auf die starre,
zentralistische und autoritäre Umsetzung von Politik im Allgemeinen und des
Atomprogramms im Besonderen.
Um die nukleare Abschreckungskraft Frankreichs durchzusetzen, nutzte
Premierminister Michel Debré 1960 den Verfassungsartikel 49.3, der es der
Regierung erlaubt, Gesetze am Parlament vorbei durchzusetzen. „49.3“ ist
auch im Ausland bekannt, seitdem Präsident Macron seine Rentenreform über
diesen Weg durchsetzte.
## 70 Prozent Atomstrom
Heute stammen rund 70 Prozent des französischen Stroms aus Kernenergie.
Aber das Land scheint nicht in der Lage zu sein, aus der Atomindustrie eine
erfolgreiche Industrie zu machen. Angesichts der Risiken der Kernenergie
und solange Atommüll nicht in den Weltraum geschossen wird – was
hoffentlich nie passiert –, ist das vielleicht ein Glück im Unglück.
Aber die politischen Skandale, die gefälschten Dokumente in der Schmiede
von Le Creusot, einem wichtigen Standort für den Bau von Großkomponenten
von AKWs, um die offizielle Zulassung für fehlerhafte Bauteile zu erhalten,
sind noch dramatischer als das „eskalierende Commitment“. So hat sich der
Bau des Typs EPR – eines Druckwasserreaktors der dritten Generation – in
Flamanville in der Normandie zu einem Albtraum entwickelt, mit derzeit mehr
als zehn Jahren Verzögerung und einem von 3,3 auf 19 Milliarden Euro
gestiegenen Budget.
Die Rede ist von Konstruktionsfehlern bei der Außenhülle, von Problemen mit
den Schweißnähten. Um aus der Patsche zu kommen, musste der staatliche
Stromkonzern EDF seinen Hauptkonkurrenten, den US-amerikanischen
AKW-Hersteller Westinghouse Electric Company, um Hilfe bitten. Jetzt sind
US-Schweißer in der Normandie gelandet.
Präsident Macron hat sich zum Ziel gesetzt, den Bau neuer Kernkraftwerke
bis 2050 zu beschleunigen. Gleichzeitig verabschiedete der Senat das Gesetz
zur Beschleunigung der erneuerbaren Energien. Angesichts der Absicht der
politischen Führung, in Wahrheit auf Atomkraft zu setzen, scheint es sich
um eine Form von politischem Gaslighting zu handeln.
Derweil bekommen die ehemaligen Dampfschwaden der drei letzten deutschen
Atomkraftwerke eine neue Bedeutung: Wie bei der Papstwahl steht der weiße
Rauch für den erfolgreichen Beschluss einer Wende. Jetzt ist es an
Frankreich, zu zeigen, dass es vielleicht keine neuen Kernkraftwerke, aber
Ideen hat.
9 May 2023
## LINKS
[1] /Energiewende-in-Frankreich/!5834704
[2] /Marode-Meiler-sorgen-fuer-hohe-Preise/!5863990
## AUTOREN
Jayrôme C. Robinet
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